8.
Etwa um dieselbe Zeit stand Magnus von Henneberg auf der Mauer der Festung Marienberg und blickte auf die Stadt Würzburg hinab, die jenseits des Mains am anderen Ufer lag. Zwar führte eine Brücke hinüber, dennoch trennte der Fluss die Feste des Bischofs stärker von der Bürgerstadt, als die steinernen Quader sie zu verbinden vermochten. Schon mehrfach hatten sich die Einwohner Würzburgs gegen ihre geistliche Herrschaft erhoben und versucht, den Status einer freien Reichsstadt zu erhalten. Bislang waren die Herren auf dem Marienberg stets Sieger geblieben, und der jetzige Fürstbischof war noch weniger bereit als seine Vorgänger, die Stadt seiner Herrschaft entgleiten zu lassen.
Graf Magnus’ Gedanken wanderten zurück in die Zeit, in der Männer seiner Sippe noch als Burghauptleute von Würzburg amtiert und zu den mächtigsten Herren in Franken gehört hatten. Das Ringen um Einfluss und Macht hatte die Henneberger jedoch geschwächt und ihren Hauptzweig bis über die Rhön zurückgetrieben. Seine Familie, die seit langem wegen Erbstreitigkeiten mit den anderen Henneberger Linien verfeindet war, hatte sich den Bischöfen angeschlossen und ihr Land als Lehnsmänner des Hochstifts behalten dürfen. Das Ansehen und die Bedeutung ihrer Ahnen hatten sie jedoch nicht mehr erreicht.
Es war an der Zeit, dies zu ändern. Graf Magnus ballte die Faust in die Richtung, in der er Kibitzstein wusste. Diese Sippe würde als erste fallen, und nach ihr noch etliche, die sich dem Fürstbischof nicht unterwerfen wollten. Ein Viertel der Ländereien, die auf diese Weise in den Besitz des Hochstifts übergingen, würde ihm als Belohnung zufallen. Daher hoffte er, dass möglichst viele Burgherren störrisch blieben, denn mit jedem, den er im Auftrag des Herrn Gottfried zur Räson brachte, würde der Reichtum seiner Familie steigen.
Magnus von Henneberg ahnte nicht, dass er schon seit geraumer Zeit beobachtet wurde. Cyprian Pratzendorfer weilte immer noch in Würzburg, obwohl der Auftrag, mit dem Papst Eugen IV. ihn hierhergeschickt hatte, längst ausgeführt war. Nun trat er neben den Grafen und setzte ein freundliches Lächeln auf. »So in Gedanken, mein Sohn?«
Ungehalten über die Störung, drehte Graf Magnus sich zu dem Sprecher um. Als er den Prälaten erkannte, schluckte er seinen Unmut hinunter. Immerhin war Pratzendorfer ein Studienfreund des Bischofs und übte großen Einfluss auf Herrn Gottfried aus. Also durfte er diesen Mann nicht verärgern.
»Das Denken unterscheidet den Menschen vom Tier, Hochwürden.«
Pratzendorfer nickte. »Damit hast du recht, mein Sohn. Doch es gibt gute Gedanken und schlechte Gedanken.«
»Meine sind gewiss gut!« Graf Magnus hatte kein Bedürfnis, mit dem Prälaten über seine Gedanken oder gar Pläne zu sprechen. Sein Gesichtsausdruck verriet Pratzendorfer jedoch genug. »Du willst gegen Kibitzstein ziehen, um die Verwundung deines Bruders zu rächen. Dies ist verständlich, doch du darfst die Pläne Seiner Hoheit, des Fürstbischofs, nicht in Gefahr bringen.«
Der warnende Unterton ärgerte den Henneberger, denn er hielt sich für einen aufrechten Gefolgsmann des Bischofs und war bereit, für diesen gegen jeden anderen Herrn im Reich das Schwert zu ziehen. »Ich bin der Ansicht, dass dieses Ärgernis Kibitzstein aus der Welt geschafft werden muss. Das Beispiel dieser Wirtswitwe stachelt nur die anderen Burgherren und Reichsritter an, es ihr gleichzutun und sich gegen Seine fürstbischöfliche Exzellenz zu stellen.«
Der Prälat lächelte. »Die Schlinge, in der ein solches Wild sich fangen soll, muss gut gelegt werden, mein Sohn. Wenn du wie ein gereizter Stier nach Kibitzstein stürmst und die Burg belagerst, hilfst du weder Herrn Gottfried noch dir. Es würde nur heißen, ihr nehmt einer armen Witwe und deren Kindern das Erbe weg. Zunächst muss dieses Weib die ihm schützend entgegengestreckte Hand Seiner Hoheit ausgeschlagen und sich mit den meisten Nachbarn zerstritten haben. Erst dann vermag der Fürstbischof einzugreifen, um den Landfrieden wiederherzustellen. Selbst darf er ihn jedoch nicht brechen.«
Die Warnung war deutlich, denn Henneberg wäre am liebsten auf der Stelle mit einem Heer nach Kibitzstein aufgebrochen. Doch es war sinnlos, die gut befestigte Burg mit seinen eigenen Männern und den paar Bewaffneten anzugreifen, die ihm Freunde zur Verfügung stellen konnten. Um Erfolg zu haben, benö tigte er Geschütze aus dem Arsenal des Fürstbischofs. Aber zurückstecken oder gar aufgeben wollte Graf Magnus nicht.
»Und was ist, wenn dieses Wirtsweib sich dem Markgrafen von Ansbach an den Hals wirft?«, fragte er besorgt.
»Sie hat ihm bereits eine Botschaft geschickt und um Hilfe gebeten. Zum Glück ist es meinen Verbündeten in Ansbach gelungen, das Schreiben an sich zu bringen, bevor es den Markgrafen erreichen konnte. Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Bevor es zu einer Fehde gegen Kibitzstein kommt, müssen wir dafür Sorge tragen, dass Seine Hoheit, der Fürstbischof, als Verteidiger des Landfriedens auftreten kann.«
»Wie stellt Ihr Euch das vor?«, fragte Graf Magnus.
»Du solltest ein wenig durchs Land reiten und mit einigen Leuten reden. Besuche zum Beispiel den Abt Pankratius von Schöbach. Erfolg dürftest du auf jeden Fall bei Maximilian von Albach, Ludolf von Fuchsheim und Ingobert von Dieboldsheim haben. Hör dich dort um! Dann erfährst du gewiss Namen von weiteren Burgherren, die ebenfalls nichts dagegen hätten, ein paar Körner der Kibitzsteiner Ernte aufzupicken. Es sollten nur Herren sein, die sich als freie Reichsritter bezeichnen. Tragen sie Kibitzstein die Fehde an, liegt es nicht in der Macht des Fürstbischofs, dies zu unterbinden.«
Graf Magnus stieß ein ärgerliches Lachen aus. »Eure Worte hören sich ja gut an, aber diese Herrschaften, die Ihr nennt, werden mir erst dann gegen Kibitzstein folgen, wenn ich selbst mit genügend Soldaten und Kanonen vor der Burg erscheinen kann. Doch dafür müsste ich erst Söldner anwerben, und das kostet mehr Geld, als ich mir im Augenblick leisten kann.«
Um die Lippen des Prälaten spielte ein nachsichtiges Lächeln.
»Herr Gottfried Schenk zu Limpurg wird seine Kriegsleute und Kanonen nicht täglich zählen. Nimm dir so viel, wie du brauchst, steck sie unter deine eigenen Fahnen und zieh mit ihnen gegen Kibitzstein. Schließlich hast du einen handfesten Grund, der Wirtswitwe die Fehde anzutragen, denn du willst ja deinen Bruder rächen.«
Pratzendorfer sah Henneberg unbewusst nicken. Der Mann würde seinen Rat in die Tat umsetzen und in seiner Wut auf die Kibitzsteiner einen Aufruhr verursachen, der halb Franken erfassen konnte. Und genau das bot dem Fürstbischof die Gelegenheit, zum richtigen Zeitpunkt als Friedensstifter aufzutreten und dabei unauffällig seine Macht zu erweitern. Anders als der Henneberger es plante, würde Gottfried Schenk zu Limpurg die Witwe auf Kibitzstein jedoch nicht samt ihren Bälgern aus diesem Landstrich vertreiben, sondern ihnen den um etliche Teile verringerten Besitz als Lehen übergeben. Dieses Beispiel würde die übrigen Zaunkönige in diesem Landstrich überzeugen, sich nicht gegen seinen Willen zu stemmen.
Das aber ging Magnus von Henneberg nichts an, denn der Mann war nur ein Werkzeug, das ihm den Weg zu einem größeren Ziel bahnen sollte. Der Prälat klopfte dem Grafen leutselig auf die Schulter und zog ihn näher zu sich heran. »Wenn du deine Sache gut machst, mein Sohn, wird es dein Schade nicht sein! Und dein Bruder Otto wird ebenfalls nicht vergessen werden, auch wenn er es nun selbst in der Hand hat, sich großen Ruhm und Reichtum zu erwerben.«
»Ich würde gerne wissen, wie es Otto geht. Die lange Reise wird seiner Verletzung wohl nicht guttun.« Für einen Augenblick wurde Graf Magnus weich und ließ Pratzendorfer in sein Herz blicken.
Der Prälat registrierte es mit Zufriedenheit. Graf Magnus’ Stolz auf sein Geschlecht und seine Liebe zu seinem jüngeren Bruder waren Hebel, derer er sich bedienen konnte. Nun musste er noch eine Sache klären, bevor er den Henneberger wieder seinen Plänen überließ.
Leise, so als hätte er Angst vor heimlichen Lauschern, ermahnte er ihn. »Wenn du dich an die Ausführung deiner Pläne machst, so belästige Seine Hoheit, den Fürstbischof, nicht mit Einzelheiten. Herrn Gottfried interessiert nur das Ergebnis. Wie es dazu kommt, ist deine Sache. Daher wirst du mir allein Bericht erstatten und sonst keinem.«
Diese Anweisung schmeckte Magnus von Henneberg wenig, aber er war klug genug, nicht zu widersprechen. Wenn er es geschickt anfing, vermochte er den Einfluss, den Cyprian Pratzendorfer besaß, zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen. Daher verabschiedete er sich freundlicher von dem Prälaten, als er ihm tatsächlich gesinnt war, und bereitete seine Abreise aus Würzburg vor. Auch wenn er nun etliche Umwege in Kauf nehmen musste, so würde sein eigentliches Ziel Burg Kibitzstein sein.