1.

Trudi schien es, als habe es nie ein Leben vor der Gefangenschaft gegeben. Selbst ihre Mutter und ihre Schwestern schienen nur noch Gestalten aus einem fernen Traum zu sein, und sie hatte das Gefühl, ein halbes Menschenleben in diesem finsteren, kalten Loch zugebracht zu haben, in das nicht einmal der Schein des Herdfeuers drang.

Da die Entführer ihr weder eine Fackel noch eine Unschlittlampe gelassen hatten, konnte Trudi sich nur tastend in ihrer Zelle bewegen. Das war eine demütigende Erfahrung, vor allem dann, wenn sie den Eimer suchte, der ihr für ihre Notdurft diente. Sie bekam auch nicht genügend Wasser, um sich waschen zu können, und stank nun so, dass sie sich vor sich selbst ekelte. Wenn sie den Getreidebrei und gelegentlich auch etwas altes, ranziges Pökelfleisch erhielt, musste sie mit schmutzigen Händen essen, und davor hatten ihre Mutter und die Ziegenbäuerin sie stets gewarnt. Die beiden hatten auf ihren Reisen oft erlebt, wie durch mangelnde Sauberkeit Krankheiten entstanden, und nun lebte Trudi in stetiger Angst, hilflos auf dem zerfallenden Stroh zu liegen und sich selbst zu beschmutzen. Dabei ging es ihr weitaus besser als ihren Begleitern.

Uta und Lampert hatten zwar ein wenig mehr Bewegungsfreiheit als sie, waren aber den ständigen Quälereien der Raubritter ausgesetzt. Wenn Stammberg und Hohenwiesen die Festung verließen, um auf die Jagd zu gehen, wurden sie in der Küche angekettet oder qualvoll gefesselt, so dass keine Möglichkeit zur Flucht bestand.

Neben ihren eigenen Ängsten litt Trudi mit, wenn die Kerle über Uta herfielen und die Schreie der Magd in ihren Verschlag drangen. Da die beiden Schurken in der von der Außenwelt abgeschnittenen Burg nichts anderes zu tun hatten, schütteten sie den Wein in sich hinein, der sich wohl reichlich im Keller befand. Der Alkohol schwemmte die letzten Hemmungen der beiden Männer fort und ließ Stammberg und Hohenwiesen zu Tieren werden.

Nein, nicht zu Tieren, berichtigte Trudi sich. Tiere waren nicht von Natur aus grausam. Ihre Entführer aber dachten sich ständig neue Gemeinheiten aus, mit denen sie Uta demütigen konnten. Da die beiden ungeniert über das redeten, was sie Uta antaten, bekam Trudi ihr widerliches Tun in allen Einzelheiten mit und wusste nicht, wie sie ihrer Magd später noch in die Augen sehen sollte. Sie schämte sich auch vor Lampert, der den Wortfetzen und Geräuschen zufolge, die in Trudis Verschlag drangen, immer wieder versuchte, Uta beizustehen. Zur Strafe schlugen die Schufte ihn, peitschten ihn aus und fesselten ihn auf schmerzhafte Weise. Auch drohten sie immer wieder, ihn umzubringen, taten es aber doch nicht, weil sie sonst die Arbeiten hätten selbst tun müssen, zu denen sie den Knecht zwangen.

Trudi war von den Schurken bisher verschont geblieben, auch wenn die Kerle ihr immer wieder mit widerwärtigen Worten beschrieben, was sie mit ihr machen würden, wenn es kein Lösegeld für sie gäbe. Doch Trudi ahnte, dass sich die beiden wohl kaum bis zum Ende des Winters würden beherrschen können. Aus diesem Grund fürchtete Trudi bei jedem Geräusch vor ihrer Tür, die beiden würden hereinkommen und sie ebenso missbrauchen wie Uta. Eingeschlossen in völliger Dunkelheit, haderte sie mit sich, diese verhängnisvolle Reise angetreten zu haben, und sie sah den Tod als einzigen Ausweg für sich und ihre Begleiter.

Wäre es ihr möglich gewesen, an einen scharfen Gegenstand zu kommen, hätte sie sich längst die Pulsadern aufgeschnitten. Auch hatte sie die Kammer mehrmals gründlich abgetastet, um eine Stelle zu finden, an der sie sich mit ihrem zu einem Strick gedrehten Unterhemd aufhängen konnte. Doch es gab weder einen Balken noch eine Fackelhalterung oder sonst eine Möglichkeit, eine Schlinge zu befestigen. Sie hatte sogar schon versucht, sich mit einem Streifen, den sie vom Saum ihres Unterhemds gerissen hatte, selbst zu erdrosseln, war aber nur bewusstlos geworden und mit schmerzendem Hals aufgewacht.

Der Tod, das war ihr danach klargeworden, wäre nur ein Fliehen aus der Verantwortung, zumindest so lange, wie Uta und Lampert noch lebten. Daher grübelte sie nun ständig, um doch noch eine Möglichkeit zur Flucht zu finden. Aber ihr war nicht einmal der Hauch einer Idee gekommen.

Wie so oft drang Stammbergs höhnisches Auflachen so laut durch die Tür, als stände er mitten in der Zelle. Trudi wurde aus ihren Gedanken gerissen und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Wenn der Mann so betrunken war, führte er sich derart abscheulich auf, dass sie im Tierreich keinen Vertreter finden konnte, mit dem sie ihn hätte vergleichen können.

Nun brüllte er, dass das Holz der Tür vibrierte. »Willst du wohl gehorchen? Du wirst es mir so machen, wie ich es dir befohlen habe, sonst schlage ich dir die Rippen ein!«

»Bei Gott, nein! Dafür kommt man in die Hölle!«, rief Uta und kreischte noch im selben Augenblick auf. Ein heftiges Klatschen verriet Trudi, dass jemand mit dem Stock auf ihre Magd einhieb.

»Ihr widerwärtigen Schufte! Euch sollte man wie tolle Hunde erschlagen!« Lamperts Stimme klang matt, als sei er am Ende seiner Kraft. Dennoch versuchte er, die beiden Raubritter von Uta abzulenken. Seinen Worten folgte das Geräusch eines harten Schlags und eines dumpfen Aufpralls.

»Jetzt haben sie ihn umgebracht«, flüsterte Trudi. Sie konnte nur noch Stammberg hören, der Uta mit üblen Worten verwünschte und hemmungslos auf sie einzuprügeln schien. Die Magd schrie und kreischte, als stecke sie am Spieß, und Trudi begriff, dass es dem Mann nicht nur darum ging, sich ihrer zu bedienen. Er genoss es, sie zu quälen.

»Verdammt, mach jetzt endlich! Nimm das dumme Ding. Ich habe keine Lust, ewig zu warten.« Im Gegensatz zu seinem Kumpan dachte Hohenwiesen mehr wie ein Bulle. Ihm ging es darum, auf einem Weib zu liegen und es zu stoßen, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Stammbergs Gemeinheiten vermochte er nicht viel abzugewinnen. Deswegen hatten sich die beiden schon mehrfach heftig gestritten.

»Du wirst warten können, bis ich mit diesem Miststück fertig bin«, bellte Stammberg und begleitete seine Worte mit einem besonders starken Hieb.

»Wenn du das Weib zuschanden schlägst, können wir beide nichts mehr mit ihr anfangen!« Hohenwiesen wollte seinen Kumpan von Uta wegziehen, doch der stieß ihn zurück und bedrohte nun ihn mit dem Stock.

»Störe mich nicht! Wenn es dir nur ums Rammeln geht, kannst du auch das Miststück in der Kammer nehmen. Oder glaubst du, ihre Mutter erwartet, es unbeschädigt zurückzubekommen?«

Hohenwiesen leckte sich über die Lippen. »Die Kleine ist uns ohnehin noch etwas schuldig. Der Bettel, den sie bei sich hatte, war den ganzen Aufwand nicht wert. Dabei wollten wir mit ihrem Geld eine wackere Mannschaft um uns sammeln.«

»Keine Sorge! Das Geld kriegen wir schon noch, und zwar von der Alten. Sobald die Wege wieder passierbar sind, hole ich ein paar meiner früheren Kameraden, damit sie dir helfen, die Gefangenen zu bewachen. Ich mache mich auf den Weg zu der Mutter der Kleinen. Die wird für ihr Schätzchen bis zum Weißbluten zahlen, das kannst du mir glauben.«

»Das denkst auch nur du«, stieß Trudi aus, aber so leise, dass man es draußen nicht hören konnte. Dabei wusste sie genau, dass ihre Mutter eher ihr letztes Hemd verkaufen würde, als sie im Stich zu lassen. In dem Augenblick näherten sich Schritte. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Nun war der Augenblick gekommen, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Während Hohenwiesen an der Tür rüttelte, um die rostigen Riegel zu lösen, wich Trudi bis in den hintersten Winkel der Kammer zurück und tastete unwillkürlich nach etwas, das sie als Waffe verwenden konnte. Doch außer dem verrottenden Stroh ihres Lagers und dem Eimer für ihre Notdurft gab es hier drinnen nichts.

Die Tür schwang auf, und Trudi sah Hohenwiesen wie einen Schattenriss in dem vom Küchenfeuer erleuchteten Viereck stehen. Der Mann starrte in das dunkle Loch, brummte etwas und machte noch einmal kehrt, um eine Lampe zu holen. Unwillkürlich trat Trudi auf die Öffnung zu, in der vagen Hoffnung, einen Ausweg zu finden, erstarrte dann aber, als sie die beiden Raubritter sah.

»Ist noch Wein da?«, schrie Stammberg gerade.

»Der Krug ist leer!«, antwortete Hohenwiesen.

»Der Knecht soll in den Keller gehen und ihn füllen!«

»Dann hättest du ihm nicht den Schwertknauf über den Schädel ziehen sollen. Hoffentlich lebt er noch, denn sonst müssen wir selbst ausmisten und die Pferde füttern.« Hohenwiesen trat den am Boden liegenden Lampert in die Seite.

Der Knecht schien den Schmerz selbst in den Tiefen seiner Bewusstlosigkeit zu spüren, denn er stieß einen Seufzer aus.

»Leben tut er noch«, erklärte der Ritter zufrieden.

»Aber davon bekommen wir noch keinen frischen Wein. Los, geh in den Keller und hol welchen!« Stammberg wandte sich wieder Uta zu, die mit blutunterlaufenen Striemen vor ihm kauerte.

Hohenwiesen schnaubte verärgert. »Ich gehe jetzt die Jungfer vögeln. Der Wein hat Zeit bis später.«

»Für mich nicht!« Stammberg versetzte Uta einen weiteren Hieb, dann wandte er sich schwankend ab und griff nach dem Krug. Bevor er die Küche verließ, drehte er sich noch einmal zu der Magd um. »Ich komme gleich wieder! Dann machen wir dort weiter, wo wir aufgehört haben!«

Trudi hörte, wie Stammberg die Treppe hinuntertorkelte, die in den tiefer in der Höhle liegenden Vorratskeller führte, und dabei gegen die Wände stieß. Mit einem Stoßgebet wünschte sie ihm, sich den Hals zu brechen. In dem Moment begriff sie, wie günstig die Situation war. Der Betrunkene würde gewiss nicht so schnell zurückkehren, also war Hohenwiesen eine Weile allein.

Mit allem Mut, den sie zusammenraffen konnte, stieß sie sich vom Türrahmen ab und trat in die Küche. Zuerst blendete sie das flackernde Licht des Herdfeuers, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Helligkeit, und sie erkannte, dass sie auf Lamperts und Utas Hilfe nicht hoffen konnte. Der Knecht lag blutend und bewusstlos in einer Ecke, während Uta schluchzend und zitternd in einer anderen kauerte. Dennoch war sie nicht bereit, die Quälereien der beiden Raubritter wehrlos über sich ergehen zu lassen.

Hohenwiesen musterte sie grinsend, denn er nahm an, dass die Haft in der lichtlosen Kammer ihren Willen gebrochen hatte, und gedachte das auszunützen.

»Komm her«, befahl er Trudi und streckte die Hand aus.

Sie gehorchte und wich auch nicht zurück, als er ihr Gesicht berührte und nicht allzu zart darüberstrich. Seine Finger wanderten rasch abwärts und kamen auf ihrem Busen zu liegen.

»Du gefällst mir, Kleine. Komm, zieh dich aus, oder muss ich dir mit dem Stock Gehorsam beibringen?«

Trudi hob flehend die Arme. »Bitte, Herr, verschont mich. Ihr würdet mir gewiss große Schmerzen zufügen.«

»Unsinn! Daran ist noch keine gestorben!« Hohenwiesen fasste kräftiger zu und zerrte an Trudis Gewand.

»Vorsicht! Ihr zerreißt es noch«, rief das Mädchen.

Das Grinsen des Mannes wurde noch breiter. Weiber sind alle gleich, dachte er. Ihnen ging es in erster Linie um Kleider und Tand. Ihre Ehre galt ihnen kaum etwas. Er lockerte seinen Griff ein wenig und funkelte Trudi an. »Dann beeile dich mit dem Ausziehen!«

Trudi war klar, dass ihr nicht viel Zeit blieb, bis Stammberg aus dem Weinkeller zurückkehrte, und ihr Blick streifte den Dolch an Hohenwiesens Seite. Schon einmal hatte sie einen Mann überrascht und war dadurch einer Vergewaltigung entgangen. Warum sollte es ihr jetzt nicht gelingen?

Aber diesmal hatte sie es nicht mit einem leichtsinnigen Jüngling zu tun, sondern mit einem Mann mit der Erfahrung vieler Kämpfe und Raufereien. Hohenwiesen begriff die Absicht des Mädchens und verzog hämisch das Gesicht. Er wartete, bis Trudi sich entkleidet hatte, zog seinen Dolch und hielt ihn ihr an die Kehle.

»Um mich zu überlisten, musst du früher aufstehen oder dir eine weniger schwatzhafte Magd suchen. Sie hat uns erzählt, wie du mit jenem Ritter im Weinberg fertig geworden bist.«

Mit einem harten Griff zwang er Trudi, sich auf den Rücken zu legen. »Und jetzt spreiz brav die Beine!«

Verzweifelt hoffte Trudi, ihn übertölpeln zu können, wenn er seinen Hosenlatz öffnete. Der Raubritter war jedoch auch in diesen Dingen erfahren. Er kniete sich auf ihre Oberschenkel, drückte ihr mit der Linken die Dolchspitze in die Halsbeuge, bis ein roter Tropfen austrat, und nestelte mit der anderen Hand seine Hose auf.

Trudi wandte den Kopf ab, um das hässliche Ding nicht ansehen zu müssen, das dort zum Vorschein kam. Hohenwiesen war um einiges kräftiger bestückt als Gressingen, und damals hatte es ihr trotz ihrer Trunkenheit weh getan. Jetzt würde es wohl noch viel schlimmer kommen. Trudi dachte an Utas unmenschlich klingende Schreie und schwor sich, ihrem Vergewaltiger wenigstens diesen Triumph nicht zu gönnen. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, dass ihr die Ziegenbäuerin einmal erzählt hatte, ein Weib, dem Gewalt angetan wird, müsse wie Wasser werden, ganz weich und nachgiebig. Verkrampfe sie sich oder setze sie sich gar zur Wehr, würde sie verletzt werden und große Schmerzen erdulden.

Uta hatte sich gewiss verkrampft und deswegen schreckliche Qualen erlitten. So durfte es ihr nicht ergehen, wenn sie auch nur den Hauch einer Möglichkeit erhaschen wollte, den Schurken zu entkommen. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie es bei Gressingen gewesen war. Damals hatte wohl der Wein ihren Körper zu einem nachgiebigen Etwas gemacht, nun musste ihr Wille dafür sorgen.

Hohenwiesen spürte, wie der Widerstand seines Opfers schwand, und feixte. »Du bist wohl selbst heiß, was? Willst du wissen, wie es ist, von einem richtigen Mann bestiegen zu werden? Das kannst du haben!« Er packte Trudis rechte Hand und presste sie auf den Boden, dann zog er seine Rechte mit dem Dolch zurück, ergriff Trudis freie Hand und drückte diese ebenfalls nieder. Die Waffe hielt er dabei so in den Fingern, dass sie nicht in der Lage war, sich zu befreien und nach dem Dolch zu greifen.

»Sollte dir noch einmal das Fell jucken, schere ich dich bis unter die Haut.« Hohenwiesen lag so schwer auf Trudi, dass sie nur noch ein wenig mit den Beinen zucken konnte, und versuchte, in sie einzudringen. Da er keine Hand zu Hilfe nehmen konnte, gelang es ihm nicht auf Anhieb.

Dann aber spürte Trudi, wie etwas sich gegen ihre empfindlichste Stelle presste und sich dann unaufhaltsam in sie hineinbohrte. Einen Augenblick lang versteifte sie sich und versuchte, dem Druck entgegenzuwirken, doch sie begriff rasch, dass sie sich damit nur selbst Schaden zufügen würde, und gab auf.

Es dauerte einige Augenblicke, bis das Glied des Mannes ganz in ihr steckte und er sich gegen sie stemmte, als wolle er sie spalten. Seltsamerweise empfand sie keinen Schmerz, ja eigentlich überhaupt nichts. Es war, als gehöre ihr Unterleib einer fremden Frau und nicht ihr. Sie kämpfte nur darum, genug Luft zu bekommen und nicht den Augenblick zu verpassen, der ihr Rettung bringen konnte.

Hohenwiesen begann nun, sein Becken vor- und zurückzubewegen. Sein Keuchen wurde immer lauter, und während seine Stöße schneller und härter kamen, umklammerte er mit den Händen Trudis Finger, als wolle er sie brechen.

Trudi begriff, dass sie den Schuft bis zuletzt würde ertragen müssen, und wollte die Augen schließen, weil sie sich vor seinem hochroten, vor Gier verzerrten Gesicht ekelte. Da bemerkte sie schräg hinter ihm eine Bewegung. Zuerst glaubte sie, Stammberg wäre zurückgekommen und würde nur darauf warten, dort weiterzumachen, wo sein Kumpan aufhören würde. Die Gestalt war jedoch nackt und hatte zwei Brüste, die mit blauen Flecken übersät waren. Rote Striemen liefen dicht an dicht über ihren Leib, und in den Augen lag ein Ausdruck, der Abscheu, Angst und Hass gleichermaßen ausdrückte.

Uta hatte sich mühsam auf die Beine gekämpft, als sie sah, wie ihre Herrin geschändet wurde. Ein Zittern durchlief ihren Körper, dann streckte sie die Hand aus und packte den eisernen Schürhaken, der auf der Ofenbank lag. Mit langsamen Bewegungen trat sie näher und hob zögernd die Hand.

Schlag zu, schlag endlich zu!, flehte Trudi die Magd insgeheim an.

»Gleich bin ich so weit!«, stieß Hohenwiesen aus. Doch bevor er zur Erfüllung kam, sauste der Schürhaken auf seinen Hinterkopf nieder. Der Ritter riss noch Augen und Mund auf und blieb dann so schwer wie ein Baumstamm auf Trudi liegen. Sie versuchte, ihn von sich hinabzuschieben, brachte aber nicht genügend Kraft auf.

»Du musst mir helfen!«, bat sie ihre Magd, die regungslos dastand und auf den Schürhaken starrte.

In ihrer Vorstellung hatte Uta schon Dutzende Male auf ihre Peiniger eingeschlagen, aber nie den Mut gefunden, es wirklich zu tun. Erst als Hohenwiesen über ihre Herrin hergefallen war, hatte sie ihre Angst ein paar Augenblicke lang überwinden können. Nun aber wurde sie von Panik ergriffen.

»Die Kerle werden mich dafür umbringen!«, wimmerte sie.

»Wenn wir hierbleiben, bringen sie uns alle um. Komm, hilf mir, den Kerl von mir wegzuschieben«, herrschte Trudi sie an und stemmte sich erneut gegen den Mann.

Trudis scharfe Worte verjagten zwar nicht das Grauen, das Uta lähmte, aber sie gehorchte aus alter Gewohnheit, packte Hohenwiesens Arm und rollte den Mann von ihrer Herrin herab.

Trudi stand auf und versetzte dem Reglosen einen Tritt. Der Raubritter rührte sich nicht. Für einen Augenblick hoffte sie, Uta habe ihm den Schädel eingeschlagen, doch sie hatte nicht die Zeit, festzustellen, ob er lebte oder tot war. Sie raffte ihre Kleider an sich und begann sich trotz ihres Ekels vor dem schmutzstarrenden Stoff in fieberhafter Eile anzuziehen.

Da Uta noch immer mit dem Schürhaken in der Hand dastand, versetzte sie ihr einen Stoß. »Los, schlüpf in deine Kleider! Nein, halt! Vorher schieben wir den Tisch vor die Tür, die zum Keller führt. Mit etwas Glück hält das Ding Stammberg lange genug auf, so dass wir fliehen können.«

»Fliehen?« Es war, als hätte dieses Wort Utas Lebensgeister geweckt. Splitternackt stemmte sie sich gegen den schweren Tisch und wuchtete ihn zusammen mit Trudi gegen die Tür. Dann lauschten sie und erwarteten ein Wutgebrüll zu vernehmen, doch es blieb ruhig.

»Der Hund säuft wohl direkt am Fass und überlegt sich dabei, was er mir noch alles antun kann«, zischte Uta.

»Das alles tut mir furchtbar leid! Ich wollte wirklich nicht, dass dir so etwas Schreckliches zustößt.« Trudi streckte die Hand aus, um ihre Magd zu trösten.

Uta aber entzog sich der Berührung mit einem heftigen Ruck. »Ich muss mich anziehen, habt Ihr gesagt, und mit Euch fliehen. Aber was machen wir mit Lampert? Wenn wir ihn zurücklassen, werden die Schufte ihn zu Tode quälen. Uns ebenfalls, wenn wir nicht schnell genug vor ihnen davonlaufen können!«

Die Magd zitterte am ganzen Leib und stolperte mit ihrem Kleiderbündel in der Hand auf die Tür zu, so als wolle sie nackt in die Kälte fliehen. Trudi hielt sie im letzten Augenblick fest und schüttelte sie, um sie zur Vernunft zu bringen. »Anziehen, habe ich gesagt! Und dann hilf mir, Lampert hinauszuschaffen.«

Uta schlüpfte gehorsam in Hemd und Kleid und schlug dann die Hände vors Gesicht. »Wir können denen nicht entkommen!«

»Wenn wir nicht schneller machen, gewiss nicht!«, sagte Trudi und trat zu Lampert. Der Knecht lag in tiefer Bewusstlosigkeit, und weder seine erschreckende Blässe noch sein flacher Atem ließen hoffen, dass er bald wieder zu sich käme. Uta und sie würden ihn tragen müssen, und mit ihm die schwere Eisenkugel, die sie selbst kaum hochbrachte. So ist es unmöglich, fuhr es ihr durch den Kopf, und sie blickte sich verzweifelt um. Dann sah sie den blutbespritzten Schürhaken am Boden liegen. Sie packte das Ding, fuhr mit der Spitze in das erste Kettenglied nach der Fußschelle und versuchte, es aufzubiegen. Die eiserne Schelle presste sich tief in Lamperts Fußgelenk und riss die Haut auf. Blut trat heraus, und selbst in seiner Ohnmacht bewegte sich der Knecht, als wolle er dem Schmerz entkommen.

Trudi wollte schon aufgeben, sah dann aber, wie das Kettenglied klaffte, und verstärkte ihre Bemühungen. Kurz darauf war es so weit aufgebogen, dass sie es von der Schelle lösen konnte. Um die würde sich ein Schmied kümmern müssen. Trudi verband Lamperts blutendes Bein mit einem Tuch, das sie unter den eisernen Ring schob, und winkte Uta zu sich.

»Steh nicht so herum! Hilf mir, Lampert in die Decke da zu wickeln und hinauszuschaffen. Allein kann ich ihn nicht tragen.« Uta riss die Hände hoch. »Aber wenn wir ihn schleppen, kommen wir nicht weit. Vielleicht sollten wir ihn doch zurücklassen!«

Doch trotz ihres Protests fasste sie mit an. Gemeinsam rollten sie Lampert in die Decke und trugen ihn zur Küche hinaus. Es war keinen Augenblick zu früh, denn hinter der verbarrikadierten Tür klangen Schritte auf. Stammberg kam die Treppe herauf.

Dieser Gedanke vertrieb jeden Funken von Schwäche aus den beiden Frauen. Uta wimmerte zwar vor Schmerzen, doch sie brachte trotz ihres zerschlagenen Körpers eine Kraft auf, die Trudi überraschte. So schnell sie konnten, durchquerten sie den vorderen Teil der Burg und erreichten den Stall.

»Wir brauchen unsere Pferde«, sagte Trudi und wies Uta an, Lampert ins Stroh zu legen. Als sie nach ihrem Sattel griff, wurde ihr bewusst, dass ihnen nicht genug Zeit blieb. Daher schob sie ihrer Stute und Lamperts Pferd nur das Zaumzeug ins Maul, während Uta das Gleiche bei ihrem Reittier tat.

»Wir müssen Lampert auf den Gaul legen!« Trudi biss die Zähne zusammen und wies Uta an, ihr zu helfen. Um zu verhindern, dass der Knecht wieder vom Pferd rutschte, banden sie seine Arme und Beine mit einem Halfterstrick unter dem Bauch des Pferdes fest und zogen einen zweiten Riemen um die Brust des Tieres herum. Dann führte Trudi seinen Wallach und ihre Stute nach draußen.

Der Wind fegte eisig den Hang hoch und überschüttete sie mit winzigen, scharfkantigen Schneekristallen, die ihr schier die Haut vom Gesicht fetzten. Bedauernd dachte Trudi an den Reitumhang und ihr sauberes Ersatzkleid, die irgendwo in der Burg liegen mussten. Sie hatte nicht gewagt, Zeit mit der Suche danach zu verlieren. Es muss auch so gehen, dachte sie und stemmte sich gegen den Sturm. Sich nach Uta umzusehen, war unter diesen Umständen unmöglich. Sie konnte nur hoffen, dass diese ihr folgen und sich in Sicherheit bringen konnte – eine trügerische Sicherheit, wie sie sich sagen musste, denn sie zweifelte langsam, dass sie in diesem Wetter lange überleben würden.

Es schien kaum möglich zu sein, mit zwei Pferden am Zügel den steilen Weg zu bewältigen und gleichzeitig darauf zu achten, dass Lampert nicht hinabrutschte. Der Schnee lag hüfthoch, und wenn die Tiere ihn lostraten, rutschte er in großen Platten zu Tal und nahm sie und Trudi ein Stück mit sich. Dabei brachen die Pferde in die Knie und drohten sich zu überschlagen. Gerade, als Trudi Lamperts Pferd wieder auf die Beine gebracht hatte, geriet sie auf eine vereiste Stelle, glitt aus und schlug in den verharschten Schnee. Während sie sich wieder aufraffte, fühlte sie es warm über ihre Stirn laufen, und als sie danach tastete, klebten rot gefärbte Schneekristalle an ihren Fingern.

Die Wunde war nicht tief, doch als Trudi weiterging, fraß der Eiswind sich in die Verletzung und schien selbst ihr Gehirn erstarren zu lassen. Halbblind vor Tränen stolperte sie weiter und drehte sich erst nach Uta um, als sie endlich den Talgrund erreicht hatte.

Von ihrer Magd war nichts zu sehen. Trudi spürte, wie die Angst sich wie eine Würgeschlinge um ihre Kehle legte. Hatte Stammberg die Barrikade überwinden können und das Mädchen abgefangen? Unwillkürlich wollte sie wieder hochsteigen und nachsehen, doch die Vernunft ließ ihren Fuß stocken. Da sie gegen den Raubritter nicht ankam, würde sie versuchen müssen, mit Lampert zu entkommen.

Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, sah sie, dass zwei Pferde durch das Tor der Festung trabten und sichtlich widerwillig den steilen Weg hinabstaksten. Es handelte sich um die Reittiere der beiden Ritter. Einen Augenblick später folgte Uta mit ihrem eigenen Pferd. Die Magd hielt eine Peitsche in der Hand und schlug auf die Gäule ihrer Entführer ein. Dabei trieb sie es so arg, dass die beiden Tiere das letzte Stück hinabgaloppierten und mit wehenden Mähnen im Schneegestöber verschwanden.

»Es ist besser, wenn die beiden Schurken erst ihre Zossen suchen müssen, bevor sie uns folgen können.« Uta lächelte unter Schmerzen, war aber sichtlich stolz auf ihren Einfall. Trotz des Schrecklichen, das sie in der Höhlenburg durchlitten hatte, besaß sie eine Menge Lebensmut.

Wenn sie wieder zu Hause waren, sagte Trudi sich, würde sie Uta für all das reichlich entschädigen. Ohne die Magd und den Schürhaken wäre sie noch immer oben in der Burg gefangen und würde nun auch von Stammberg missbraucht und gequält.

Die Tochter der Wanderhure
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