3.

Etwa um die gleiche Zeit, in der Bona den Entschluss fasste, nach Steinsfeld zu wandern, schlichen Falko und sein Freund Hilbrecht im Schatten der Burgmauer zu einer Ausfallpforte und öffneten das Guckloch, um zu den Belagerern hinüberzusehen. Die Stelle, an der sich das neue Geschütz aufgebaut befand, wurde von den Lagerfeuern hell ausgeleuchtet, und sie zählten mindestens ein Dutzend Männer, die dort Wache hielten.

»Glaubst du wirklich, dass wir das schaffen?«, fragte Hilbrecht ungewohnt furchtsam.

»Natürlich! Hätte ich sonst vorgeschlagen, dass wir es tun sollen?« Falkos Stimme klang gepresst. So sicher, wie er tat, war er sich seiner Sache nicht. Doch wenn sie die Belagerung noch längere Zeit durchstehen wollten, musste auch dieses Geschütz ausgeschaltet werden. Er zog seinen Freund näher zu sich, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten.

»Der Feind rechnet mit einem ähnlichen Ausfall wie jenem, bei dem wir die letzten Geschütze zerstört haben, aber nicht mit drei Männern, die tief in der Nacht zu ihren Pulvervorräten schleichen. Du wirst sehen, es ist kinderleicht, das Zeug in die Luft zu jagen. Meine Mutter hat so etwas auch schon gemacht, und zwar zusammen mit Anni und einer anderen Frau, die jetzt in Kitzingen verheiratet ist.«

Vor dem, was ein paar Frauen fertiggebracht hatten, durfte Hilbrecht seinem Gefühl nach nicht zurückschrecken, und so bemühte er sich, energisch und furchtlos zu wirken, ohne daran zu denken, dass Falko dies in der ägyptischen Finsternis gar nicht sehen konnte. Sie hatten die Fackeln, die diesen Teil des Burghofs während der Belagerung ausleuchteten, gelöscht, damit der Feind nicht auf sie aufmerksam wurde, wenn sie die Pforte öffneten.

»Also, wie machen wir es?«, fragte Hilbrecht mit betont munter klingender Stimme.

»Wir warten noch auf Giso!«

»Bin schon da!« Der jüngste Sohn der Ziegenbäuerin war unbemerkt näher getreten und gluckste fröhlich, als die beiden Jünglinge erschrocken auffuhren.

»Wenn wir auf unserem Weg genauso leise sind wie ich jetzt, werden die Würzburger uns erst bemerken, wenn es zu spät ist«, fuhr Giso fort und spähte selbst zum Feind hinüber.

»Sie haben etliche Wachfeuer angezündet, aber in spätestens zwei Stunden dürften die meisten von ihnen niedergebrannt sein.

Dann können wir zuschlagen.« Giso war einige Jahre älter als die beiden Freunde und besuchte eine Schule, da er Geistlicher werden wollte. Doch es verband ihn wenig mit dem Würzburger Bischof, und er hatte sich, als die Probleme um Kibitzstein bekannt wurden, beurlauben lassen, um seiner Familie beizustehen. Seine Mutter und sein Bruder befanden sich nun ebenfalls in der Burg, weil sie Übergriffe der feindlichen Soldaten fürchteten. Da er nicht einfach nur in den Reihen der Verteidiger stehen wollte, hatte er sich Falko und Hilbrecht angeschlossen und mit ihnen auch diesen Streich ausgeheckt.

»Hier sind die Kleider, die ihr braucht! Ihr müsst wie die Knechte aussehen, die Hennebergs Leute von den Höfen der Bauern verschleppt haben, damit sie ihnen die Drecksarbeit machen. Eure feinen Gewänder würden euch schnell verraten!«

Er reichte den beiden je ein Stoffbündel. Falko begann sofort, sich auszuziehen. Seine eigene Kleidung faltete er fein säuberlich zusammen und legte sie auf einen Sims, während Hilbrecht die Sachen einfach auf den Boden warf. Kurz darauf steckten beide in einfachen Kitteln aus ungefärbter Wolle, die auf der Brust mit einer Schnur zusammengehalten wurden, und hatten formlose Kappen über die Köpfe gezogen.

»Habt ihr die Flasche besorgen können?«, fragte Giso.

Falko lachte leise auf. »Natürlich.« Er hob dabei eine große Tonflasche auf, die mit einem Stopfen aus Stoff verschlossen war, aus dem eine mit Pulver versetzte und mit Wachs getränkte Schnur herausragte.

»Habt ihr auch an Feuer gedacht?«, fragte Giso weiter.

Statt einer Antwort öffnete Falko eine kleine, mit Luftlöchern versehene Blechbüchse, in der ein Stück Baumschwamm glomm.

»Ich habe mir gedacht, das ist sicherer, als wenn ich Stahl und Feuerstein mitnehme. Man würde hören, wenn ich Feuer schlage.«

»Das ist schon richtig, aber du solltest dennoch Gerät zum Feuermachen bei dir haben. Was ist, wenn wir vorher in einen Bach steigen müssen und der Baumschwamm gelöscht wird?«

»Da sieht man den studierten Herrn! Der denkt an alles und das gleich doppelt«, feixte Hilbrecht, um sofort wieder ernst zu werden. »Ich habe Stahl, Feuerstein und Zunder dabei, und zwar in geöltes Leder gehüllt. Damit kann ich auch durchs Wasser gehen.«

»Ihr tut ja direkt so, als wolltet ihr durch den Main schwimmen. Das wird nicht nötig sein.« Falko war verärgert, weil seine Freunde sich zu sehr mit Einzelheiten beschäftigten. Er selbst wollte nur hinausgehen, die Pulvervorräte des Feindes zerstören und wieder in die Burg zurückkehren.

»Wir sollten aufbrechen«, erklärte er, um sich von Giso nicht das Heft aus der Hand nehmen zu lassen.

Hilbrecht schien immer noch verunsichert zu sein, denn er zupfte den Priesterschüler am Ärmel. »Sollen wir?«

Giso brannte nicht weniger als Falko darauf, die Sache hinter sich zu bringen. »Natürlich! Wir haben einen weiten Weg vor uns und müssen dabei den Feind umgehen, um von hinten an die Pulverwagen zu kommen. Das ist Falkos Plan, und ich finde ihn gut.«

Damit war der Friede zwischen den jungen Burschen wiederhergestellt. Falko öffnete die Pforte und schlüpfte hinaus. »Die Luft ist rein!«, flüsterte er seinen Kameraden zu. Die beiden folgten ihm und starrten auf die hell lodernden Wachfeuer, welche selbst noch die Mauern der Burg in flackerndes Licht tauchten.

»Bückt euch, sonst entdecken sie uns!«, befahl Falko kaum hörbar und ging selbst in die Knie. So vorsichtig, als lägen nicht weit über hundert Schritte zwischen ihnen und ihren Feinden, kroch er in den Graben, der die Mauer umgab.

Zum Glück hatte sich kein Wasser darin gesammelt, und er bot ihnen auch noch Deckung, als sie an eine Stelle kamen, die von den feindlichen Feuern hell ausgeleuchtet war. Sie befanden sich nun in der Nähe des Burgtors und konnten das feindliche Geschütz deutlich sehen. Es war auf die hölzernen Torflügel gerichtet und würde, wenn ihr Vorhaben nicht gelang, bereits am nächsten Tag schwere Steinkugeln abfeuern.

Unter der festen Holzbrücke, die vor dem Tor den Graben überbrückte, blieben sie stehen und prägten sich die Gegebenheiten genau ein. Danach huschten sie lautlos wie Wiesel weiter und verschwanden in der Dunkelheit.

Der Feind hatte Kibitzstein zwar in einem weitläufigen Bogen eingekreist, doch dieser Ring war gegenüber dem Hauptlager recht dünn geraten, und die Wachfeuer leuchteten in diesem Teil nicht alles aus. Daher konnten die drei Freunde an den Wächtern vorbeischleichen. Die feindlichen Soldaten standen um die Feuer herum und unterhielten sich, statt sorgfältig Ausschau zu halten. Ärger erwarteten sie allenfalls auf der Vorderseite der Burg, an der das neue Geschütz stand. Sie selbst kamen sich überflüssig vor, weil die Kibitzsteiner keine Hilfe von außen zu erwarten hatten und ein Ausfall in ihre Richtung angesichts der steilen Weinberge sinnlos war. Jeder Trupp, der die Hänge als Fluchtweg benutzen wollte, würde von den Belagerern rasch gestellt werden.

Falko und seine Freunde dankten den Wächtern im Stillen für ihre Unaufmerksamkeit und schlichen durch die Weinberge, die ihnen nicht nur Deckung verschafften, sondern ihnen auch halfen, sich in der mondlosen Nacht zu orientieren. Ein Stück hinter Habichten verließen sie die schier endlosen Reihen der Rebstöcke und schlugen einen Bogen, der sie zur Burg zurückführte. Dabei wiesen ihnen die lodernden Feuer der Belagerer den Weg.

An einem schmalen Graben hielt Falko an und griff in den feuchten Schlamm. »Schmiert euch damit Gesicht und Hände ein, sonst seid ihr im Feuerschein zu schnell auszumachen.«

»Du tust ja so, als würdest du so etwas jede Woche machen«, maulte Hilbrecht, der sich nicht schmutzig machen wollte.

»Erinnere dich an die Lehren deines Vaters! Der war ein fast so großer Krieger wie der meine.«

»Das ›fast‹ will ich überhört haben«, entgegnete Hilbrecht und tarnte sein Gesicht nun ebenfalls mit einer Schlammschicht. Auch Giso befolgte den Rat. Als jemand, der das Paternoster nicht nur fehlerfrei beten konnte, sondern auch wusste, was die lateinischen Worte bedeuteten, sah er mit einer gewissen Nachsicht auf die beiden Rittersöhne hinab. Dennoch war er froh, dass die beiden kühles Blut bewahrten und Falko sich als würdiger Anführer erwies.

Kurz darauf erreichten sie den Rand des von den Wachfeuern ausgeleuchteten Geländes und blickten begehrlich auf das wuchtige Holzgestell, auf dem das Geschütz lag. An dieser Stelle war es so hell, dass selbst eine Maus keine drei Schritte weit kam, ohne entdeckt zu werden. Den Wagen mit den Pulvervorräten hatten die Belagerer jedoch nach der ersten bösen Erfahrung etliche Schritte von der Kanone und den Burgmauern entfernt aufgestellt und in respektvollem Abstand darum herum einen lockeren Kreis von Wachfeuern entzündet. Deren Flammen erzeugten nun ein flackerndes Spiel von Licht und Schatten, das einem beherzten Jüngling genügend Deckung bieten konnte.

»Zu dritt schaffen wir das nicht. Das ist zu gefährlich.« Falko rieb sich nachdenklich die Nase, dann steckte er die Tonflasche, die er mit Pulver gefüllt hatte, unter seinen Kittel und entblößte sein Gebiss zu einem Grinsen, das seine Zähne im Licht der Feuer wie Perlen schimmern ließ.

»Ich wage es! Gelingt es mir, ist es gut. Werde ich erwischt, müsst ihr zusehen, dass ihr die Beine in die Hand nehmt.«

»Sollte nicht besser ich gehen?«, wandte Giso ein. »Wenn du gefangen wirst, muss deine Mutter die Burg übergeben, denn Henneberg wird sie sicher mit deinem Leben erpressen. Ich hingegen werde höchstens umgebracht.«

»Es ist unsere Burg, und wenn ich sie behalten will, muss ich mich ihrer würdig erweisen. Gelingt es uns nicht, das Pulver zu sprengen, wird das Geschütz über kurz oder lang das Tor und den Torturm zusammenschießen. Dann kommt es zum Sturmangriff, und ob wir den überstehen, steht in den Sternen. Also gehe ich.«

Ohne auf eine Antwort seiner Freunde zu warten, kroch Falko wie ein Salamander auf allen vieren davon. Hilbrecht wollte ihm folgen, doch Giso hielt ihn zurück.

»Falko hat recht. Diese Tat kann nur von einem vollbracht werden!«

Die Tochter der Wanderhure
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