12.

Etwa zur gleichen Zeit, in der Trudi Hiltrud besuchte, stand Georg von Gressingen auf den Zinnen der Burg Marienberg und starrte auf den Strom hinab, der den Burgberg von der Stadt trennte. Dann wanderte sein Blick über die Dächer der Bürgerhäuser und Kirchen, die sich auf dem ebenen Feld am nördlichen Ufer des Mains aneinanderdrängten. Dort drüben häuften sich Reichtümer, die selbst einen Edelmann wie ihn beschämen mussten. Die Kaufleute der Stadt versorgten die Mitglieder des Hochstifts und den Hof des Bischofs mit Waren aus aller Welt und verdienten gut daran.

Gressingen kannte den einen oder anderen Kaufherrn, der einem Edelmann wie ihm die Lieblingstochter mit Gold und Juwelen bedeckt in das Brautbett legen würde. Auf eine solche Heirat legte er jedoch keinen Wert, denn dem Gold solcher Bräute haftete der Geruch niederer Arbeit an, und den gemeinsamen Söhnen wurde es verwehrt, sich auf den bedeutenden Turnierplätzen des Reiches mit edel geborenen Rittern zu messen. Diese Gefahr hätte, wie sein Onkel Albach ihm bewusst gemacht hatte, auch bei einer Heirat mit Michel Adlers Tochter bestanden. Der Stammbaum derer von Kibitzstein war alles andere als edel, und so mancher Herold würde die Nase rümpfen, würde man von ihm verlangen, diesen zu verkünden.

Andererseits war Michel Adler von Kaiser Sigismund persönlich geadelt worden. Daher würde der Kibitzsteiner höchstens von den ganz großen Turnieren ausgeschlossen werden, und an denen durfte auch Gressingen trotz seines makellosen Stammbaums nicht ohne Einladung teilnehmen. Deshalb war die Gefahr, dass Nachkommen von ihm und Trudi Adler von seinen Standesgenossen wie Bastarde behandelt würden, nicht allzu groß.

Maximilian von Albach spürte die Zweifel, die seinen Neffen plagten, und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was schaust du dir so prüfend an? Die Wehranlagen der Stadt oder die Schiffe, die auf dem Main fahren?«

Georg von Gressingen schüttelte den Kopf. »Weder noch. Ich war einfach nur in Gedanken versunken.«

»Ich würde einen Gulden dafür geben, wenn ich wüsste, was du eben gedacht hast. Aber wir haben keine Zeit, miteinander zu reden, denn wir stehen gleich vor dem hohen Herrn. Achte genau auf das, was du sagst, oder schweige am besten ganz. Ich will kein Wort hören, das Seine hochwürdigste Exzellenz erzürnen könnte.«

Gressingen folgte seinem Onkel in die Burg und fand sich kurz darauf in einem Vorraum jenes Saales wieder, in dem Gottfried Schenk zu Limpurg Bittsteller und Besucher zu empfangen pflegte. Es waren etliche Leute erschienen, und da der Haushofmeister zuerst die Wichtigsten unter ihnen eintreten ließ, mussten Albach und Gressingen sich eine Weile gedulden.

Albach nützte die Zeit, um mit Bekannten zu reden, während sein Neffe neidvoll die Kleidung der Anwesenden betrachtete. Sogar die einfachen Bürger der Stadt, denen das Privileg erteilt worden war, zur Audienz erscheinen zu dürfen, prunkten mit gutgeschnittenen Wämsern. Zwar wurde die Auswahl der Stoffe für ihre Gewänder durch Vorschriften eingeschränkt, die schon die Vorgänger des jetzigen Bischofs erlassen hatten, aber das, was sie trugen, war von bester Qualität, und in den dicken Beuteln an ihren Gürteln klingelte es golden.

»Das verdammte Pack tut direkt so, als hätte der Herrgott es zu unseresgleichen gemacht«, schimpfte Albach, als der Haushofmeister eine Gruppe bürgerlicher Kaufherren aufrief und in den Saal führte.

»Denen würde ich gerne einmal auf freiem Feld begegnen und sie um ihre Geldkatzen erleichtern«, murmelte Gressingen.

Zwar war die Bemerkung nur für ihn selbst bestimmt, doch sein Onkel blickte ihn warnend an. »Tu das ja nicht! Das Gesindel würde sofort zum Bischof laufen und sich beschweren. Wenn du Glück hast, schickt Seine Gnaden nur einen seiner Hauptleute mit ein paar hundert Söldnern vor deine Burg und fordert dich auf, Abbitte zu leisten und den Pfeffersäcken ihren Schaden wiedergutzumachen. Hast du aber Pech, stürmen sie gleich deine Burg und hängen dich auf. Nein, mein Junge, es gibt bessere Arten, an Reichtum zu kommen.«

Da die Bürger gerade den Audienzsaal verließen und der bischöfliche Herold auf sie zukam, konnte Albach nicht weiterreden. Er gab seinem Neffen einen Wink, mit ihm zu kommen, und trat auf die Tür zu.

Zwei Diener rissen die Flügel auf, und wenig später stand Georg von Gressingen vor dem Herrn des Fürstbistums Würzburg, der den Titel eines Herzogs von Franken für sich beanspruchte. Gottfried Schenk zu Limpurg saß im vollen Bischofsornat auf einem thronartigen Stuhl, dem einzigen Möbel im ganzen Saal. Er war ein großer Mann mit energischen Gesichtszügen und sichtlich durchdrungen von der Macht, die sein hohes Amt ihm verlieh. Seine Albe war aus feinstem Linnen gefertigt; darüber trug er eine Dalmatika mit goldbestickten Säumen und die reichverzierte Kasel aus rotem Tuch. Seine Handschuhe und Schuhe waren rot, und an seiner rechten Hand steckte ein großer goldener Ring als Zeichen seiner hohen Würde. Ebenfalls in der Rechten hielt er den Bischofsstab, der in einem schneckenförmigen Endstück aus Gold auslief, und auf seinem Kopf saß die mit aufgestickten Engeln und kreuzförmigen Symbolen versehene Mitra, die ihn noch größer erscheinen ließ.

Neben Gottfried Schenk zu Limpurg stand ein Mann im Gewand eines päpstlichen Prälaten, das dem des Bischofs glich. Nur leuchtete seine Kasel golden statt rot, und er trug keine Mitra, sondern einen flachen Hut mit einer wagenradartigen Krempe. Mehrere Herren des Hochstifts vervollständigten das Gefolge des Fürstbischofs, und hinter dem Thron standen Gewappnete, die bereit waren, jederzeit einzugreifen. Stumm und regungslos wie Statuen warteten Diener an den Wänden auf Befehle des Fürstbischofs, falls es diesem einfiel, einen Schemel oder einen Becher Wein für einen besonders wichtigen Gast bringen zu lassen.

Albach und Gressingen wurde eine solche Ehre nicht zuteil. Herr Gottfried blickte zunächst über sie hinweg, bequemte sich dann aber zu einer grüßenden Geste. Gleichzeitig neigte der Prälat seinen Kopf zu ihm hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Fürstbischof nickte mehrmals und wandte sich endlich seinen Gästen zu. »Seid mir willkommen, Ritter Maximilian, und Ihr auch, Junker Georg. Da heute so viele Bittsteller erschienen sind, wird der hochwürdige Prälat Cyprian Pratzendorfer sich Eurer annehmen.«

Das klang nicht gerade herzlich, und Gressingen fragte sich, ob die Hoffnungen, die sein Onkel bezüglich des Würzburger Bischofs hegte, nicht auf Sand gebaut waren. Dann sah er, dass der Prälat ihn mit einem Lächeln betrachtete, das wohlwollend genannt werden konnte, aber auch prüfend wirkte.

Pratzendorfer neigte kurz das Haupt vor dem Bischof, bat dann Albach und Gressingen, ihm zu folgen, und verließ mit ihnen den Raum. Kurz darauf erreichten sie eine kleine Kammer, in der mehrere Schemel standen. Ein Diener brachte eine Lampe, in der zu Gressingens Verwunderung eine teure Wachskerze brannte, die einen angenehmen Duft verbreitete, und stellte sie mangels eines Tisches auf die Fensterbank.

»Wünschen die Herren Wein?«, fragte er dabei.

Gressingen wollte schon ja sagen, doch der Prälat schüttelte den Kopf. »Nein, du kannst gehen.«

Nach einer stummen Verbeugung drehte sich der Diener um und schloss die Tür hinter sich. Pratzendorfer schien auf die Schritte des Mannes zu lauschen, die draußen verhallten, und musterte Albach währenddessen mit sichtlichem Ärger. »Mein werter Ritter Maximilian, Ihr habt an dem Treffen auf Fuchsheim teilgenommen und Euch dabei mit dem Gastgeber und dessen Freunden zerstritten. Dabei hatte ich gehofft, Ihr würdet Euch klüger verhalten.«

»Aber ich …«, versuchte Albach sich zu verteidigen, doch der Prälat schnitt ihm das Wort ab.

»Beim Herrgott im Himmel! Warum seid Ihr den Leuten dort sofort in die Parade gefahren, anstatt so zu tun, als würdet Ihr diesen Schreiern zustimmen? Ihr hättet ihr Vertrauen gewinnen müssen! Ich hatte gehofft, Ihr wäret das Ohr an ihren Tischen, das wir dringend benötigen.«

Nun begann Albach zu begreifen. »Ihr meint, ich hätte die Feinde des Bischofs bespitzeln sollen? Das wäre eines Ritters unwürdig.«

»Auf diese Weise hättet Ihr Eure Treue zu Herrn Gottfried beweisen können! Doch diese Gelegenheit habt Ihr leichtfertig aus der Hand gegeben. Betet zu Gott, dass Euer Neffe es geschickter anfängt als Ihr.«

Der Blick des Prälaten wanderte zu Georg von Gressingen, der bestürzt zugehört hatte und nun versuchte, sich möglichst keine Regung anmerken zu lassen.

»Ihr, Gressingen, werdet die Freundschaft der Feinde Seiner fürstbischöflichen Exzellenz suchen und dafür sorgen, dass deren verbrecherische Pläne scheitern. Macht Ihr Eure Sache gut, werde ich Euch einem anderen hohen Herrn im Reich empfehlen, in dessen Diensten Ihr Reichtum und Ruhm erringen könnt.«

Albach ärgerte sich, weil sein Neffe ihn zu übertrumpfen schien. »Hochwürdigster Herr, ich kann immer noch nach Fuchsheim reiten und so tun, als stünde ich auf Ritter Ludolfs Seite!«

Statt verlorenen Boden gutzumachen, erntete er ein Kopfschütteln des Prälaten. »Dafür ist es zu spät. Weder Ritter Ludolf noch dieser emporgekommene Bierbrauer auf Kibitzstein würden Euch Euren Gesinnungswechsel abnehmen.«

Damit hat der Prälat vollkommen recht, sagte sich Junker Georg und musste ein spöttisches Lächeln verbergen. Sein Onkel war ein allzu geradliniger Mensch und zu keiner Verstellung fähig. Er aber würde dem Fürstbischof jenen Dienst leisten, den Pratzendorfer in Herrn Gottfrieds Namen von ihm verlangte. Dann aber fiel ihm ein, dass er es bei diesem Auftrag nicht vermeiden konnte, Michel Adler und dessen Tochter zu begegnen. Das Mädchen würde auf einer Heirat oder wenigstens einem offiziellen Eheversprechen bestehen, und wenn er Pratzendorfers Auftrag ausführen wollte, konnte er sich nicht gegen eine Verlobung mit Trudi sträuben, sonst würde er ebenso wie sein Onkel jedes Vertrauen bei Michel Adler und dessen Freunden verlieren. Aber er wollte nicht an eine Frau gefesselt sein, deren Familie den Zorn des Fürstbischofs auf sich geladen hatte.

Kurzentschlossen trat er vor und sprach den Prälaten an. »Ich bin bereit, Euch und Unserem erhabenen Bischof zu dienen. Doch bitte ich Euch, mir für den Fall, dass ich zu Lügen gezwungen werde, die meine Ehre beschmutzen, mir bereits jetzt die Absolution zu erteilen.«

Pratzendorfer zog die Augenbrauen hoch und blickte Gressingen fragend an. Diese Bitte hatte der Junker sicher nicht ohne Grund vorgebracht. Gressingen ging es offensichtlich nicht nur um zukünftige Sünden, sondern auch um solche aus der Vergangenheit. Das musste mit Michel Adlers Tochter zusammenhängen. Der Prälat erinnert sich an Berichte, dass Georg von Gressingen in der letzten Zeit mehrfach Gast auf Kibitzstein gewesen war. Da der Junker in eher bescheidenen Verhältnissen lebte, hatte wohl die üppige Mitgift, mit der Michel Adler seine Lieblingstochter ausstatten wollte, ihn angezogen.

Von dem Schweigen des Prälaten beunruhigt, scharrte Gressingen unruhig mit den Füßen. Pratzendorfer ließ ihn eine Weile schmoren, und als er der Miene des Junkers zu entnehmen glaubte, dass dieser bereit war, sich völlig in seine Hände zu begeben, nickte er. »Kommt heute Abend mit mir in die Kapelle. Dort werde ich Euch von allen Sünden freisprechen, die Ihr im Namen Seiner Hoheit, des Fürstbischofs, begehen müsst.« Gressingens heftiges Nicken zauberte ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen des Prälaten. Dieser junge Mann würde ein gutes Werkzeug werden, denn er war offensichtlich bereit, für Gold und einen höheren Rang sein Gewissen zu verkaufen. Damit würde er ihn für weitaus wichtigere Dinge benutzen können, als nur die Pläne von ein paar im Grunde unbedeutenden Burgherren auszukundschaften. Zunächst aber galt es, ihn für diesen ersten Dienst vorzubereiten.

»Die kurze Audienz bei Seiner Eminenz war bewusst inszeniert, Herr von Gressingen. Es soll so aussehen, als wäret Ihr bei ihm in Ungnade gefallen. Aus diesem Grund wird Euer Besitz in den nächsten Tagen von Würzburger Kriegsknechten besetzt werden. Die Burg und das Land, das dazugehört, waren früher einmal Eigentum des Hochstifts. Es soll so aussehen, als habe Herr Gottfried Euch aufgefordert, ihm den Treueid zu leisten, und Euch, nachdem Ihr Euch geweigert habt, Euren Besitz weggenommen.« Pratzendorfer sah die Verwirrung auf Gressingens Gesicht und machte eine beschwichtigende Geste.

»Keine Sorge, Ihr verliert Euren Besitz nicht für immer, sondern bekommt alles zurück und werdet überdies noch belohnt. Es ist jedoch wichtig, dass Ihr als Feind des Bischofs geltet, um auf Fuchsheim, Steinsfeld, Mertelsbach, Kibitzstein und dem Kloster Schöbach ein und aus gehen zu können.«

Das sah Junker Georg ein. Dennoch sträubte sich alles in ihm dagegen, in Zukunft als landloser Ritter zu gelten, denn das würde seinen Wert in den Augen der Adligen stark mindern. Bei dieser Überlegung blitzte ein Gedanke in ihm auf. Wahrscheinlich war dieses scheinbare Unglück sein Vorteil, denn Michel Adler dürfte daraufhin keinen erwünschten Schwiegersohn mehr in ihm sehen. Aber er würde sich dennoch Absolution erteilen lassen, denn die Lossprechung von seinen Sünden gab ihm freie Hand.

Die Tochter der Wanderhure
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