1.

Marie hätte Trudi am liebsten ein paar kräftige Ohrfeigen verpasst, denn das Mädchen benahm sich einfach schamlos. Es trank viel zu viel und lachte dabei so laut, dass seine Stimme den Geräuschpegel im Saal übertönte. Anscheinend war es ihrer Tochter zu Kopf gestiegen, dass Markgraf Albrecht Achilles ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Marie konnte nicht wissen, dass Trudi nur deswegen trank, um Albrecht Achilles dazu zu bewegen, es ihr gleichzutun, damit er auch an diesem Abend nicht in der Lage wäre, das zu tun, wonach ihm der Sinn stand. Außerdem war sie enttäuscht, weil Georg von Gressingen noch immer nicht gekommen war, und machte sich Sorgen um ihn.

Marie kehrte ihrer Tochter verärgert den Rücken zu und hielt Ausschau nach Michel, den sie seit dem Augenblick, in dem das Brautpaar in seine Kammer gebracht worden war, nicht mehr gesehen hatte.

Ein Stück von ihr entfernt hockten Otto von Henneberg, der ihrem Mann offen Rache angedroht hatte, und neben ihm der Söldner Eichenloh, ein äußerst widerwärtiger Mensch, wie ihr von einigen Seiten zugetragen worden war. Auch dieser Mann hatte Michel und Trudi bedroht, und beim Anblick der beiden beschlich sie ein ungutes Gefühl. Doch das wurde sogleich wieder von dem Ärger über ihre Tochter verdrängt.

Marie hatte sich auf die Hochzeitsfeier gefreut, nicht nur wegen der Gespräche mit den Nachbarn, sondern auch, weil es die erste längere Reise seit vielen Wochen war. Wegen ihrer Verletzung hatte sie die Burg kaum verlassen können, und wenn, dann hatte sie es nur bis zum Ziegenhof geschafft. Nun aber bedauerte sie es, nach Fuchsheim gekommen zu sein und Trudi mitgebracht zu haben. Beim Anblick ihrer Tochter fragte sie sich, was sie und Michel bei der Erziehung ihrer Ältesten falsch gemacht hatten. Trudi wirkte wie ein oberflächliches Ding, das sich von Schein und Tand beeindrucken ließ. Wahrscheinlich hätte es der einen oder anderen Tracht Prügel bedurft, um ihr die gebotene Achtung und Sittsamkeit beizubringen, doch Michel hatte seine Erstgeborene ständig in Schutz genommen. Aus diesem Grund beschloss Marie, sich in Zukunft nicht mehr von ihrem Mann daran hindern zu lassen, Trudi am Zügel zu nehmen.

In ihrem düsteren Sinnieren und immer wieder durch ihre Pflichten als stellvertretende Hausfrau abgelenkt, bemerkte Marie nicht den vor Aufregung zitternden Knecht, der auf ihren Gastgeber zutrat und auf ihn einredete. Ludolf von Fuchsheim schüttelte ein paarmal ungläubig den Kopf, stand dann aber auf und entschuldigte sich bei Markgraf Albrecht Achilles mit dem Hinweis auf unaufschiebbare Pflichten.

Als der Fuchsheimer nach einer Weile zurückkehrte, war sein Gesicht so bleich, als habe er sein Todesurteil empfangen.

»Verzeiht, Euer Hoheit, aber es ist etwas Schreckliches vorgefallen«, sprach er den Brandenburger an.

Albrecht Achilles von Hohenzollern, der eben noch mit Trudi getändelt hatte, blickte unwillig auf. »Was ist denn los?«

»Ein Mann ist ermordet worden.«

»Ein Mord? Aber wie konnte das geschehen?« Der Brandenburger rief es laut genug, dass es selbst in Trudis bereits arg benebelte Sinne drang. Sie kniff die Augen zusammen, sah, wie die Blicke des Fuchsheimers zwischen ihr und ihrer Mutter hin- und herwanderten, und fühlte, wie eine eisige Hand nach ihrem Herzen griff.

»Besitzt Ihr die Halsgerichtsbarkeit, oder müsst Ihr einen der umliegenden Vögte holen?«, fragte der Markgraf den Fuchsheimer.

Der hob unschlüssig die Hände. »Ich besitze sie, aber nur aus alter Tradition, und da es keine Urkunde gibt, macht der Bischof von Würzburg mir dieses Recht streitig.«

»Dann werdet Ihr wohl den nächsten Würzburger Vogt holen müssen.«

»Es sind einige der Herren anwesend«, wandte Magnus von Henneberg ein, der das Privileg erhalten hatte, ebenfalls an der Tafel des Markgrafen zu sitzen.

»Euer Bruder vielleicht, der nicht weiter denken kann, als seine Nasenspitze reicht?«, fuhr Trudi ihn an. Ihre Stimme, die schon einen schläfrigen Ton angenommen hatte, klang nun wieder klar und scharf.

Graf Magnus ignorierte diese Bemerkung und nickte dem Fuchsheimer herablassend zu. »Als höchstrangiger weltlicher Vertreter meines Herrn werde ich die Sache in die Hand nehmen. Zeigt mir den Toten und seht zu, ob Ihr Zeugen für den Mord auftreiben könnt.«

»Ein Küchenjunge hat den Leichnam im Gemüsegarten gefunden. Aber niemand hat die Tat gesehen, denn man kann höchstens von den Zinnen in den Garten hinunterblicken, und das auch nur, wenn man sich sehr weit vorbeugt. Oh, Gott im Himmel! Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren, während meine Tochter im Brautbett liegt? Das ist ein sehr böses Omen.«

Albrecht Achilles winkte ab. »Solche Dinge geschehen meistens dann, wenn man sie am wenigsten brauchen kann. Kommt mit!«

Der Ansbacher war nicht willens, hinter einem Würzburger Grafen zurückzutreten. Auch wenn Magnus von Henneberg sich als verlängerter Arm des Würzburger Bischofs fühlte, so war der Mord in seiner Gegenwart geschehen, und dies gab ihm als höchstrangigem Anwesenden das Recht, die Untersuchung zu überwachen.

Der Markgraf erhob sich und winkte dem Fuchsheimer und Graf Magnus, ihm zu folgen. Trudi kämpfte sich ebenfalls auf die Beine und wankte, von einer Vorahnung getrieben, hinter den dreien her. Andere wollten sich anschließen, doch da hob der Brandenburger die Hand.

»Die Leute sollen sitzen bleiben und weiterfeiern. Sie stören nur.« Seine Autorität reichte aus, um die meisten Gäste auf ihren Plätzen verharren zu lassen. Die Vögte der umliegenden Städte und Herrschaften, die sich auf Fuchsheim eingefunden hatten, folgten jedoch der Gruppe.

Auch Marie hielt es nicht auf ihrem Platz, denn ihr war das erschrockene Gesicht ihrer Tochter aufgefallen. Nun wurde sie von der gleichen Angst erfasst, die auch Trudi gepackt hielt, und so eilte sie hinter dem Markgrafen her. Fast gleichzeitig mit Albrecht Achilles erreichte sie den Gemüsegarten, und der erste Blick offenbarte ihr das Unfassbare. Sie hatte Michels dunkelblauen Rock selbst genäht und Trudi das Kibitzsteiner Wappen darauf gestickt. Nun war der kostbare Stoff blutgetränkt, und der Kiebitz stand nicht mehr auf einem Felsen, sondern auf einem roten Fleck. Unter Michel hatte sich eine Blutlache ausgebreitet, und sein Gesichtsausdruck zeigte, dass der Tod ihn vollkommen überrascht hatte.

Während Marie stehen blieb und die Hände gegen die Brust schlug, warf Trudi sich auf den Toten. »Papa, nein!« Ihre Schreie gellten durch den Garten und brachen sich an den Mauern. Albrecht Achilles hob sie auf und schob sie Marie in die Arme. »Kümmert Euch um Eure Tochter. Der Schmerz ist zu groß für sie.«

Marie zog Trudi an sich und hielt sie fest, während sie mit tränenlosen Augen auf ihren toten Mann starrte. In wenigen Augenblicken zogen all die Stationen ihres Lebens an ihr vorbei, die sie gemeinsam durchmessen hatten. Sie waren beide in Konstanz aufgewachsen und hatten als Kinder miteinander gespielt. Später, als sie einem Fremden anverlobt und durch dessen Intrigen als Hure verurteilt und aus der Stadt getrieben worden war, hatte nur Michel an ihre Unschuld geglaubt und sogar seine Heimatstadt verlassen, um sie zu suchen. Aber er war in die Irre geleitet worden und hatte sie erst fünf Jahre später wiedergefunden. Diese Jahre waren so hart für sie gewesen, dass sie nach all der Zeit noch davon träumte und sich beim Aufwachen daran erinnern musste, dass sich ihr Schicksal längst zum Guten gewendet hatte. Mit Michels Hilfe war es ihr gelungen, ihre Unschuld zu beweisen und ihre Verderber vor Gericht zu bringen. Dort hatten die Richter sie kurzerhand miteinander verheiratet und Michel zum Kastellan einer der Burgen ernannt, die dem Pfälzer Kurfürsten gehörten.

Marie erinnerte sich an die Jahre des Glücks, die sie dort mit Michel erlebt hatte und die jäh zu Ende gegangen waren, als er in den Krieg gegen die aufständischen Böhmen hatte ziehen müssen. Sie war mit Trudi schwanger gegangen, als die Nachricht sie ereilte, ihr Mann wäre gefallen. Das hatte sie nicht glauben wollen und sich auf die Suche nach ihm gemacht. Ihre Bitten an die Himmelsmutter und die heilige Maria Magdalena, zu der sie auch jetzt noch am liebsten betete, waren erhört worden, und sie hatte Michel wiedergefunden. Erneut waren sie von Glücksgaben überreich bedacht worden, denn Kaiser Sigismund hatte Michel wegen seiner Tapferkeit zum freien Reichsritter ernannt und ihm das Lehen Kibitzstein übergeben.

Doch ihr war es nicht vergönnt gewesen, in Ruhe und Frieden zu leben, denn die Schatten der Vergangenheit hatten sie eingeholt. Eine rachsüchtige Feindin hatte sich ihrer bemächtigt und auf ein Sklavenschiff schmuggeln lassen, und dessen Besitzer hatte sie in das ferne Land der Russen verkauft. Da man an der Stelle, an der sie verschwunden war, eine Leiche gefunden hatte, war sie für tot erklärt worden, und Kaiser Sigismund hatte Michel gezwungen, eine junge Dame aus edler Familie zu heiraten. Nur der Wille, ihren Sohn wiederzusehen, den ihr die Feindin weggenommen hatte, hatte ihr die Kraft gegeben, den weiten Weg zurück in die Heimat zu finden. Michel, der nun mit zwei Frauen verheiratet gewesen war, hatte die andere, die Junge, fortgeschickt und sie wieder zu sich genommen.

Bei der letzten Erinnerung spürte Marie, wie ihr die Tränen aus den Augen traten und wie warme Bäche über die Wangen liefen. Michel war wunderbar, als Ehemann, als Kamerad, als Freund und als Liebhaber – ein Mann, wie es ihn kein zweites Mal auf Erden geben konnte. Und nun lag er tot vor ihr, ermordet mit einem Dolch, der noch in seinem Fleisch stak.

Albrecht Achilles von Hohenzollern und Graf Magnus wandten sich gerade der Waffe zu. »Das war ein gemeiner, ein hinterhältiger Stoß!«, rief der Ansbacher empört aus.

Dem Henneberger war es, als müsse sich jeden Augenblick der Boden unter seinen Füßen auftun und ihn verschlingen. Diesen Dolch kannte er. Er selbst hatte Otto die Waffe anlässlich seines Ritterschlags geschenkt. Für den täglichen Gebrauch hatte sein Bruder eine weniger prunkvolle Waffe benützt, doch die war ihm bei dem Überfall auf die Kibitzsteiner abhandengekommen. Deswegen hatte sein Bruder für dieses Fest den Juwelendolch an seinen Gürtel gehängt. Diesen jetzt als Tatwaffe zu sehen, erschreckte Magnus von Henneberg so, dass er ihn am liebsten an sich genommen und versteckt hätte.

Dafür war es jedoch zu spät, denn Marie wies gerade auf die Waffe. »Ist das nicht der Dolch des jungen Hennebergers? Mit dem hat er vorhin schon meinen Mann bedroht!«

»Irrt Ihr Euch da nicht? Dolche dieser Art tragen etliche der Herren, die hier versammelt sind.« Graf Magnus versuchte noch, seinen Bruder zu schützen, begriff aber dann die Sinnlosigkeit seines Tuns. Traf man Otto mit leerer Scheide an, würde sein Bruder sofort als Mörder gelten – und dazu noch als einer, der seinen Gegner von hinten erstochen hatte. Er selbst war Zeuge des Streits zwischen Adler und seinem Bruder geworden. Daher glaubte auch er an Ottos Schuld und hoffte verzweifelt, dass der junge Narr Vernunft genug besessen hatte, sich einen anderen Dolch zu besorgen. Sonst würde Otto nur noch eine rasche Flucht retten können.

Einen Mann in einer offen erklärten Fehde oder im ritterlichen Zweikampf zu töten, galt als ehrenhaft. Diese Tat aber konnte nur als Meuchelmord bezeichnet werden, und darauf stand der Tod. Selbst Gottfried Schenk zu Limpurg durfte es trotz seiner Stellung als Fürstbischof nicht wagen, den Mörder von dieser Tat freizusprechen.

Markgraf Albrecht Achilles sah, wie Henneberg sich innerlich wand, und genoss es trotz der bedrückenden Situation, den Mann in der Klemme zu wissen. Mit einem bösen Lächeln wies er auf die Burg. »Wir werden jetzt feststellen, ob Frau Maries Verdacht begründet ist!«

Die Tochter der Wanderhure
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