6.
Klara von Monheim mochte die Kibitzsteiner verachten, doch sie war keine Närrin und vermied alles, was den Zwist entflammen konnte. Nachdem es ihr nicht auf Anhieb gelungen war, ihre Gegner in die Schranken zu verweisen, spielte sie auf Zeit. Der Druck, den der Fürstbischof von Würzburg auf die kleinen Burgherren in diesem Teil Frankens ausübte, würde auch ihr zum Vorteil gereichen. Da sie den Zorn über die Niederlage nicht an den Kibitzsteinern auslassen konnte, rächte sie sich an ihrer Vorgängerin.
Die verstorbene Äbtissin wurde nicht so feierlich zu Grabe getragen, wie sie es in ihrem Letzten Willen bestimmt hatte, und erhielt auch nicht den prunkvollen Sarkophag mit ihrem steinernen Abbild, welchen sie in ihrem Testament eingehend beschrieben hatte. Stattdessen wurde sie mit einer schlichten Zeremonie in einer abgelegenen Ecke des Friedhofs in die Erde gesenkt. Kein hochstehender Gast geleitete sie zur ewigen Ruhe, und es gab auch keinen Leichenschmaus.
Einige der Stiftsdamen murrten, doch ihr Protest stieß bei ihrer neuen Oberin auf taube Ohren. Klara von Monheim verargte es der Toten, dass diese mehr als ein Viertel des Stiftslands an die Kibitzsteiner verpfändet und das dafür erhaltene Geld an ihre Familie weitergeleitet hatte. Damit hatte die Frau dem Stift geschadet und jeden Anspruch auf Achtung verspielt.
Am liebsten hätte Klara von Monheim auch den jungen Henneberger mit Verachtung gestraft und ihn aus dem Stift gewiesen. Damit aber hätte sie Magnus von Henneberg verärgert, der in Würzburg großen Einfluss besaß. Also musste sie versuchen, aus der Entstellung ihres gräflichen Vogts Kapital zu schlagen. Da seine Wunde gewiss das Mitleid der Burgherren ringsum erregen würde, bestand sie darauf, dass er sie nach Fuchsheim begleitete. Otto von Henneberg war diese Reise zuwider, denn man würde ihn dort weniger mit Mitleid als mit Spott überhäufen. Dies war Klara von Monheim ebenfalls bewusst, doch sie wollte den Leuten zeigen, dass nur ihr Vogt bei dem Zwischenfall den Schaden davongetragen hatte, nicht aber die Jungfer auf Kibitzstein. Am liebsten hätte sie Trudi vor allen Gästen auf ihre körperliche Unversehrtheit untersuchen lassen, um zu zeigen, dass ihr nichts geschehen sei und alle Klagen des Kibitzsteiners heillos übertrieben wären.
Zum Glück ahnte Trudi nichts von den Überlegungen der Äbtissin, sonst hätte sie keinen Schritt Richtung Fuchsheim getan. Ihre Sorgen waren so schon groß genug. Zwar hatte Alika ihr Kleid rechtzeitig fertiggestellt, und der Streit mit Lisa war langsam in den Hintergrund getreten. Dafür aber lag ihr der Rat der Mohrin, sich ihrem Vater anzuvertrauen, schwer auf der Seele. Dasselbe hatte ihr auch ihre Patin, die Ziegenbäuerin, empfohlen. Beide Frauen kannten Marie und Michel und wussten, dass Trudis Vater es wohl leichter aufnehmen würde. Ihm trauten sie zu, die Nachricht Marie vorsichtig beizubringen und sie zu beschwichtigen, damit sie nicht zu harsch reagierte.
Trudi schwankte lange, ob sie den Verlust ihrer Jungfräulichkeit beichten sollte. Wenn Gressingen um sie warb, fiel dies nicht ins Gewicht. Doch seit dem Gespräch mit Alika verlor sie mit jedem Tag, an dem sie nichts von ihm hörte, ein kleines Stück von ihrem Vertrauen in den jungen Ritter. Daher klammerte sie sich schließlich an die Hoffnung, ihr Vater könne Junker Georg die Angst nehmen, er sei nach dem Verlust seines Besitzes hier auf Kibitzstein nicht mehr willkommen.
Da die Burg zu einer Fehde gerüstet wurde, war es nicht leicht, ihren Vater alleine anzutreffen. Meist stand Karel bei ihm oder dessen Unteranführer Gereon, und gingen die beiden woanders ihren Pflichten nach, wollten die Mutter, Anni oder sonst jemand eine Entscheidung von ihm. Da Trudi kein Aufsehen erregen wollte, wagte sie es nicht, ihn vor anderen Ohren um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Daher bot sich ihr erst am letzten Abend vor ihrem Ritt nach Fuchsheim die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte. Ihre Mutter war mit Lisa und Hildegard zur Ziegenbäuerin gegangen, Karel und Gereon standen unten im Burghof und wählten die Kriegsknechte aus, die die Familie nach Fuchsheim begleiten sollten, und Annis Stimme drang aus dem Küchenanbau.
Michel saß allein in der Halle, die ihm auf einmal viel zu groß und gleichzeitig bedrückend vorkam, und hielt einen leeren Becher in der Hand. Als er nach einem Knecht rufen wollte, tauchte Trudi neben ihm auf.
»Darf ich dir einschenken, Papa?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Der Krug ist leer. Ich wollte gerade nach Kunz rufen, damit er einen neuen holt«, antwortete Michel. Er klang so müde, dass Trudi ihr Vorhaben beinahe aufgegeben hätte.
»Das mache ich schon!«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. Bevor ihr Vater etwas erwidern konnte, nahm Trudi den leeren Krug und rannte los. Im Keller füllte sie das Gefäß mit dem besten Tropfen, den ihre Eltern je gekeltert hatten. Sie war dabei so aufgeregt, dass sie nicht richtig achtgab und den Hahn zu spät schloss. Ein Teil des Weines floss über und bildete auf dem Boden eine Pfütze.
Trudi überlegte kurz, ob sie einen Lappen holen und die Lache aufwischen sollte. Doch es brannte ihr unter den Nägeln, mit ihrem Vater zu reden, und so kehrte sie dem Weinkeller den Rücken. Sollte der Kellermeister doch rätseln, wer sich an dem Fass für besondere Anlässe vergriffen hatte.
Als Trudi in die Halle zurückkehrte, saß Michel noch immer an derselben Stelle und hing seinen Gedanken nach, die seiner Miene zufolge nicht gerade erfreulich sein konnten. Das Mädchen zögerte, sagte sich aber, dass dies die einzige Gelegenheit vor dem Ritt nach Fuchsheim war, ihrem Vater zu beichten, was ihr zugestoßen war.
»Hier, Papa! Es ist der gute Wein aus deinem besonderen Fass! Willst du ihn nicht lieber im Erkerkämmerchen trinken? Allein in der Halle zu sitzen, ist doch nicht schön.«
Trudis Tonfall ließ Michel aufmerken. So hatte sie als kleines Kind gesprochen, wenn sie in einem ihrer Wutanfälle ein Spielzeug ihrer Schwestern oder einen anderen Gegenstand zerschlagen hatte. Danach war sie stets zu ihm gekommen, in der Hoffnung, er würde bei ihrer Mutter um gut Wetter bitten. Inzwischen hielt Trudi sich weitaus besser im Zaum als früher, aber nun klang sie wieder so, als habe sie etwas sehr Dummes angestellt. Michel stand auf, nahm ihr die schwere Weinkanne aus der Hand und rang sich ein Lächeln ab. »Das ist genug Wein, um mehreren Männern schwere Köpfe zu verschaffen. Willst du mich etwa betrunken machen?«
Es gelang ihm nicht, Trudi zum Lachen zu bringen, und das war ein schlechtes Zeichen. Was immer auch seine Tochter getan hatte, musste schwer auf ihrer Seele liegen.
»Komm mit! In der Erkerkammer können wir ungestört miteinander reden.«
»Danke, Papa!« Trudi ging mit hängendem Kopf hinter ihm her und blieb an der Tür zur Erkerkammer stehen, während Michel Platz nahm und sich einen Becher Wein einschenkte. Als er sich zu ihr umdrehte, erschrak er über ihr bleiches Gesicht und die zuckenden Lippen und winkte ihr energisch, sich neben ihn auf die Bank zu setzen.
Als sie saß, reichte er ihr den Becher. »Trink du erst einmal einen Schluck. Du siehst aus, als hättest du eine Stärkung bitter nötig.«
Trudi nahm das Gefäß entgegen, erinnerte sich jedoch sofort daran, wie Georg von Gressingen sie im Fuchsheimer Wald zum Trinken angestiftet hatte, und setzte es mit einem Laut des Unmuts ab. Entschlossen, sich durch nichts mehr aufhalten zu lassen, stand sie wieder auf, schloss die Tür der Erkerkammer und schob den Riegel vor.
Michels Besorgnis stieg, und als Trudi die Hände knetete und nach einem Wort suchte, mit dem sie beginnen konnte, bat er sie, geradeheraus zu sagen, was sie bedrückte.
»Papa, erinnerst du dich noch an unseren letzten Besuch in Fuchsheim?«, brachte sie mühsam heraus.
Michel nickte grimmig. »Nur allzu gut! Ritter Ludolf hatte uns eingeladen, um eine gemeinsame Haltung gegen Würzburg zu beschließen. Herausgekommen ist kaum etwas. Allein der wackere Abt Pankratius von Schöbach stand auf meiner Seite, doch das ist kein Wunder, denn er wurde damals schon offen bedrängt und hat Unterstützung gesucht. Maximilian von Albach aber wollte uns alle dazu bewegen, uns dem Würzburger zu unterwerfen, und Gressingen, von dem ich mir Unterstützung erhofft hatte, schwänzte die Besprechung wie ein dummer Junge.«
Es war wohl kein guter Gedanke gewesen, Vater an jenen Fehlschlag zu erinnern, fuhr es Trudi durch den Kopf. Gleichzeitig aber schrie alles in ihr danach, Gressingen zu verteidigen. Mutiger, als sie sich fühlte, stand sie vor ihrem Vater und blickte ihm in die Augen. »Herr von Gressingen hat nicht an der Besprechung teilgenommen, weil er mich auf einen Spaziergang begleitet hat. Dabei sind wir in den Wald geraten und …«
Sie stockte kurz, atmete tief durch und presste die nächsten Worte so rasch hervor, als hätte sie Angst, sie sonst nicht mehr aussprechen zu können. »Dabei ist etwas furchtbar Unziemliches zwischen uns geschehen!«
Es dauerte einige Augenblicke, bis Michel die Tragweite dieses Geständnisses begriff. Er starrte seine Tochter an, die wie das Fleisch gewordene schlechte Gewissen vor ihm stand und bereit schien, jede Strafe hinzunehmen. Ihre Haltung verhinderte, dass er zornig auffuhr und Trudi auf der Stelle züchtigte. Stattdessen zwang er sich zur Ruhe und versuchte, seine wirbelnden Gedanken zu ordnen.
»Erzähle mir genau, was geschehen ist!«, bat er sie, in der Hoffnung, seine Tochter habe in ihrer Unerfahrenheit aus einem Hasen einen Bären gemacht.
Es fiel Trudi schwer, die nächsten Worte zu sprechen. »Wir haben getan, was verheiratete Männer und Frauen miteinander tun.«
»Du hast also deine Ehre im Wald von Fuchsheim fortgeworfen!« Michel gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Herr Georg hatte geschworen, mich als seine Gemahlin heimzuführen«, verteidigte Trudi sich und ihren Geliebten.
»Das hätte er zuerst tun sollen. So aber hat er wie ein Lump an dir gehandelt!«
Trudi brach in Tränen aus. »Junker Georg ist kein Lump! Bestimmt hätte er bereits um mich angehalten, wenn dieser schreckliche Bischof ihm nicht die Heimat weggenommen hätte!«
Michel erinnerte sich daran, dass Marie von Gressingens Charakter nicht viel gehalten hatte. Leider hatte sie sich als die Weitsichtigere erwiesen. Am liebsten hätte er sich auf sein Pferd geschwungen, um den Übeltäter zu suchen und mit eigener Hand für diesen üblen Streich zu bestrafen. Aber er wusste, dass er mit dieser Handlungsweise einen Skandal entfachen würde, dessen einzige Geschädigte seine eigene Tochter sein würde.
»So leicht kommt Gressingen mir nicht davon. Ich werde morgen auf Fuchsheim mit ihm reden und ihn dazu bringen, dich zu heiraten, und wenn ich ihn vor den Traualtar prügeln muss. Er kann nicht meine Tochter verführen, als wäre sie eine wohlfeile Bauernmagd, und sich dann einfach davonstehlen.«
Obwohl Trudi der Vergleich mit einer nachgiebigen Bauernmagd schmerzte, war sie doch froh, dass ihr Vater einer Ehe zwischen ihr und Gressingen immer noch zustimmen wollte.
Sie fasste die rechte Hand ihres Vaters und führte sie an die Lippen. »Ich danke dir, Papa.«
Michel entzog ihr die Hand mit einem heftigen Ruck. »Das ist kein Geschenk, sondern eine leidige Notwendigkeit. Freudig werde ich dich Gressingen nicht anvermählen. Doch du hast mir keine andere Wahl gelassen. Und nun geh! Deine Mutter hat dir gewiss Arbeit aufgetragen, die getan werden muss. Ich rate dir, ihr in Zukunft besser zu gehorchen und sie nicht mit deinem störrischen Sinn zu reizen. Oder willst du, dass sie dich in ein Kloster gibt, anstatt eine Heirat mit Gressingen zu gestatten? Ich würde ihr nicht widersprechen.«
So kalt und abweisend hatte Trudi ihren Vater noch nie erlebt, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh, ihn verlassen zu können.
Während sie durch die Burg eilte und mit einem für sie überraschenden Eifer die Mägde antrieb, saß Michel in der Erkerkammer und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er und Marie hatten alles getan, um Trudi zu einem sittsamen jungen Mädchen zu erziehen. Jetzt erfahren zu müssen, dass sie ihre Jungfernschaft an einen Unwürdigen verschleudert hatte, tat ihm körperlich weh.
Er überlegte, ob er es Marie berichten sollte, schüttelte aber in unbewusster Abwehr den Kopf. Er traute es seiner Frau zu, Trudi mit dem Stock zu züchtigen und sie hier auf Kibitzstein zurückzulassen. Dabei war es nun unabdingbar, das Mädchen mit nach Fuchsheim zu nehmen. Es ärgerte Michel, dass er Gressingen seine Tochter würde anbieten müssen wie sauren Wein. Dann aber sagte er sich, dass Trudi ausnehmend hübsch war und eine recht üppige Mitgift mit in die Ehe bringen würde. Mit beidem konnte Gressingen zufrieden sein.
Aber was würde sein, wenn Gressingen sich weigerte? Bei dem Gedanken wanderte seine Rechte zum Griff des Schwerts, das seit dem Ärger mit der neuen Äbtissin von Hilgertshausen an seiner linken Hüfte hing. Noch fühlte er sich nicht zu alt, um diesem Lümmel heilige Furcht einbleuen zu können. Gressingen würde Trudi heiraten, ob er es nun freiwillig tat oder mit Beulen am ganzen Leib.
Michel befand, dass ihm der Inhalt des großen Kruges, den Trudi gefüllt hatte, gerade recht kam, und schenkte sich in rascher Folge mehrere Becher ein. Dabei wurde ihm nach und nach bewusst, wie stark er Trudi ihren Schwestern und auch Falko, seinem einzigen Sohn, vorgezogen hatte. Wäre das Mädchen zur rechten Zeit so herangenommen worden, wie sie es verdient hätte, müsste er jetzt nicht hier sitzen und sich Gedanken um sie machen.
Die Enttäuschung über seine Tochter trieb ihm erneut die Tränen in die Augen. Mit dem Handrücken wischte Michel sie weg und versuchte, seinen Gedanken einen anderen Weg zu weisen. Auch wenn alles in ihm schrie, Gressingen wie einen tollen Hund niederzuschlagen und seine Tochter in das nächste Kloster zu stecken, durfte er nicht vergessen, in welch gefährlicher Lage sich Kibitzstein befand. Aus diesem Grund überlegte er sich, welche seiner Nachbarn er als Verbündete gegen das Stift Frauenlob zu Hilgertshausen und den Fürstbischof von Würzburg gewinnen könnte.