6.

Anders als Lampert schlug Trudi sich mit tausend Zweifeln herum. Sie wagte es nicht einmal mehr, mit irgendjemandem zu reden, denn sie fürchtete, sich durch Gesten oder ihren Gesichtsausdruck zu verraten. Da sie aber auch nicht die ganze Zeit in ihrer Kammer sitzen wollte, suchte sie die Burgkapelle auf, nahm in einer dunklen Ecke Platz und begann leise zu beten. Sie flehte die Heilige Jungfrau an, ihr und Gressingen während der nächsten Stunden und Tage beizustehen, und bat sie auch, sich ihrer Mutter, ihrer Geschwister und aller Bewohner von Kibitzstein und den dazugehörigen Dörfern anzunehmen.

Als die Mittagsglocke erklang, verließ sie die Kapelle und eilte in den Saal, in dem das Essen aufgetragen wurde. Sie übersah dabei geflissentlich Hardwins aufforderndes Winken und setzte sich unter den verwunderten Blicken des Haushofmeisters zu einigen ihr unbekannten Gästen an das entgegengesetzte Ende der Tafel. An diesem Tag hätte man ihr Schuhleder oder Kleister vorsetzen können, sie hätte es nicht bemerkt. Ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt, und sie ging wieder und wieder die Schritte durch, die noch vor ihr lagen. Dabei war es ihr, als seien die noch zu überwindenden Probleme viel zu groß, als dass sie sie würde bewältigen können.

Da sie auf Fragen nur einsilbig oder gar nicht antwortete, gaben ihre Tischnachbarn es bald auf, sie anzusprechen, und unterhielten sich mit anderen Gästen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der König die Tafel aufhob, und als das erlösende Wort erklang, sprang sie auf und ging gerade langsam genug zur Tür hinaus, dass ihre Erregung, wie sie hoffte, niemandem auffiel. Draußen begann sie zu rennen.

Als sie in ihre Kammer zurückkehrte, schien es, als habe ihre eigene Unruhe die Magd angesteckt, denn diese fragte sogar, was sie für ihre Herrin tun könne. »Geh zur Wirtschafterin und bitte sie um einen Auftrag für diesen Nachmittag. Wir wollen Speis und Trank ja schließlich nicht ganz umsonst erhalten!«, sagte sie, um Uta loszuwerden.

Sofort quälte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Magd ohne Erklärung zurücklassen musste, und es war kein großer Trost für sie, dass Lampert sich um sie kümmern würde.

Uta zog eine Schnute und blickte demonstrativ auf ihre zerstochenen Fingerkuppen. In den letzten Wochen hatte sie mehr Leintücher und andere Wäsche genäht als in all den Jahren auf Kibitzstein und war von der Wirtschafterin sogar für ihre sorgfältige Arbeit gelobt worden. Ihre Bereitschaft, noch mehr zu tun, war denkbar gering. Aber ein Blick auf das verschlossene Gesicht ihrer Herrin verriet ihr, dass Widerspruch ihr nur Ärger eintragen würde. Nun fühlte sie sich schlecht behandelt, denn das Essen, für das sie arbeiten sollte, kam nicht ihr zugute. Auf das Ende des Winters zu gab es für das Gesinde tagein, tagaus nur noch einen fad schmeckenden Eintopf, und satt wurden nur noch die, die an der Tafel des Königs speisen durften. Aber da Gott es so eingerichtet hatte, dass Trudi ihre Gebieterin war und sie nur eine Magd, schlurfte sie zur Tür.

Dort drehte sie sich noch einmal um. »Braucht Ihr mich heute wirklich nicht mehr? Dann wollt Ihr auch Gressingen nicht mehr aufsuchen. Das ist klug von Euch! Die Leute tuscheln nämlich schon, und der König helfe Euch deshalb nicht, so heißt es, weil Ihr Euch mit seinem Gefangenen abgebt.«

»Nein, heute gehe ich nicht zu Gressingen.« Trudi betonte das Wort »heute«, als wolle sie Uta für ihre Worte tadeln, merkte aber, dass ihre Wangen rot wurden. Sie war nicht gewohnt zu lügen, doch nun musste sie es tun, um den Mann zu retten, den sie liebte.

Hoffentlich vergisst er nicht, wie viel ich für ihn riskiere, fuhr es ihr durch den Kopf. Sofort schämte sie sich dafür, Junker Georg schlechte Absichten zu unterstellen. Sie presste die Hände auf die Wangen, um ihre Erregung zu verbergen, und befahl Uta zu verschwinden.

Kaum hatte die Magd die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, warf Trudi sich aufs Bett, verkrallte sich in das Laken und begann zu weinen. Die Anspannung war einfach zu viel für sie, und sie sehnte sich nach einem Menschen wie ihre Patentante Hiltrud oder Alika, mit dem sie über all das hätte reden können, was ihr schier das Herz abdrückte. Hier in der Fremde fühlte sie sich so allein wie nie zuvor, und es gab wirklich nur Junker Georg, dem an ihrem Wohlergehen lag. Er war der Mann, dem sie ihre Jungfernschaft geopfert hatte, und ihm würde sie treu bleiben, bis der Tod sie schied.

Trudi versuchte sich vorzustellen, wie glücklich sie mit Georg von Gressingen sein würde, doch statt schöner Bilder stiegen Zweifel in ihr hoch. Der Junker hatte ihr im Fuchsheimer Wald geschworen, umgehend um sie zu werben, und hatte es doch nicht getan. Es gab natürlich Gründe, die ihn daran gehindert hatten. Allerdings wäre ihr ein offenes Wort lieber gewesen als all die Monate, die sie in Angst und Unsicherheit verbracht hatte. Auch jetzt war er wieder rasch bei der Hand mit seinen Schwüren, und sie wollte ihm glauben. Aber der Glanz des strahlenden Helden, den sie all die Zeit in ihm gesehen hatte, war wie ein Schleier von ihm abgezogen worden, und darunter kam nun ein ganz gewöhnlicher Mann zum Vorschein.

Als ihr dann durch den Kopf schoss, dass ihr Vater an Junker Georgs Stelle sich durch nichts hätte hindern lassen, zu ihr zu reiten, um mit ihr und ihren Eltern zu sprechen, zuckte sie zusammen und versuchte, all ihre Zweifel weit weg zu schieben. Stattdessen aber sagte eine Stimme höhnisch in ihr, dass selbst Peter von Eichenloh ein Mädchen, das er liebte, nicht hätte warten lassen. Nicht einmal Hardwin hätte das getan, obwohl er von den Nachbarn als charakterloses Muttersöhnchen angesehen wurde.

An dieser Stelle zwang sie sich, ihre Gedanken auf die geplante Flucht zu richten. Sie hatte Georg von Gressingen versprochen, ihm zur Freiheit zu verhelfen, und das würde sie tun. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, wischte sich die Tränen mit dem Bettlaken ab und holte tief Luft. Wenn die Flucht gelingen sollte, wurde es Zeit, zu handeln. Ein weiteres Mal würde es Lampert wohl kaum gelingen, unauffällig die Pferde zu satteln.

Sie raffte ihren Umhang an sich, den Uta fein säuberlich auf die Truhe gelegt hatte, warf ihn über die Schulter und ging hinab zum Hauptportal, als wolle sie ein wenig frische Luft schnappen. Dann kehrte sie auf einem anderen Weg in den Palas zurück und blieb schließlich vor einer Tür stehen, die mit schweren Riegeln verschlossen war. Es gab auch noch ein großes, eisernes Schloss, dessen Bügel in den Ösen hing, die es verschließen sollte. Aber zu ihrem Glück war dieser nicht eingerastet.

Trudi versicherte sich, dass sich niemand in ihrer Nähe befand, und entfernte zuerst das Schloss. Es war höllisch schwer, und wäre es versperrt gewesen, hätte sie es auch mit dem darin steckenden Schlüssel nicht aufgebracht. Das sperrige Ding schien auch dem Rüstmeister und seinen Untergebenen Schwierigkeiten zu bereiten, sonst hätten sie die Tür so versperrt, wie es sich gehörte. Dieser Schlendrian bot Trudi die Gelegenheit, in die Kammer einzudringen. Auch kam ihr die Tatsache entgegen, dass die Riegel gut eingefettet waren und sich leicht und geräuschlos zurückziehen ließen.

Sie horchte kurz, ob jemand auf diesen Gang zukam, stemmte sich dann gegen die schwere Tür und schlüpfte hinein. Viel Zeit hatte sie nicht, das war ihr klar. Jeden Augenblick konnte jemand um die Ecke biegen und die offene Tür sehen. Daher suchte sie auch nicht lange, sondern nahm das vorderste Schwert aus der Halterung und verbarg es unter ihrem Umhang. Schneller als eine Maus auf der Flucht vor dem Besen der Köchin verließ sie die Rüstkammer, schob die Riegel vor und stemmte das schwere Schloss hoch. Dabei entglitt ihr das Schwert und schlug scheppernd auf den steinernen Boden.

Trudi erschrak bis ins Mark und glaubte, sich verraten zu haben. Aber es klangen weder Rufe auf, noch erschollen Schritte, und sie vernahm auch sonst kein verräterisches Geräusch. Mit zitternden Händen hängte sie das Schloss an seinen Platz, raffte das Schwert an sich und eilte, so schnell sie es vermochte, auf dem gleichen Weg zurück.

Sie gelangte ungesehen in ihre Kammer und wagte erst dort wieder richtig Luft zu holen. Als Erstes versteckte sie das Schwert unter ihrer Matratze. Dann zog sie sich bis auf ihr Hemd aus, obwohl es in der Kammer lausig kalt war, suchte praktischere Kleidung für die Flucht heraus und kleidete sich sorgfältig an. Da sie bis zur Dämmerung nichts weiter tun konnte als warten, legte sie sich auf das Bett und zog das Laken bis zum Kinn hoch.

Trotz aller Aufregung schlief sie ein, und als sie erwachte, war es bereits dunkel. In dem Glauben, sie habe den richtigen Zeitpunkt verpasst, sprang sie auf und starrte aus dem Fenster. Unten im Hof eilten gerade die Knechte zu dem Raum, in dem sie das Essen erhielten. Nun erinnerte sie sich, im Aufwachen den Klang der Essensglocke gehört zu haben, und schlug erleichtert das Kreuz.

Sie war gerade noch rechtzeitig aufgewacht, um ihren Plan in die Tat umsetzen zu können. Zu dieser Zeit versammelten sich die Herrschaften um den König zum Abendessen, und das Gesinde, welches nicht zur Bedienung gebraucht wurde, bekam ebenfalls sein Nachtmahl. Uta würde wohl ebenfalls in der Gesindeküche sein. Darüber war Trudi froh, denn sie zog es vor, ohne Abschied von ihrer Magd zu scheiden, um sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Sie holte das Schwert unter der Matratze hervor, steckte es unter ihren Umhang und verließ vorsichtig das Zimmer, das ihr den größten Teil des Winters Obdach geboten hatte.

Das Glück blieb ihr auch weiterhin treu, denn auf dem Weg zu Junker Georgs Kammer begegnete sie keinem Menschen. Da er sein Gefängnis zu den Mahlzeiten verlassen durfte und dabei von dem Wachtposten begleitet wurde, war kein Riegel vorgelegt. Trudi trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Im Raum war es so dunkel, dass sie die Hand nicht vor Augen sehen konnte, und für ein paar Augenblicke fühlte sie sich wie in einer Gruft. Schnell vertrieb sie diesen unpassenden Vergleich, tastete sich zu dem in der Ecke stehenden Hocker und ließ sich darauf nieder, um auf die Rückkehr ihres Geliebten zu warten.

Die Tochter der Wanderhure
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