4.

Trudi war froh, als die Wallfahrer endlich das Städtchen Altötting erreicht hatten und unter Singen und der endlosen Wiederholung der gleichen Gebete die alte Kapelle umrundeten, in der der Sage nach schon der große Kaiser Karl gekniet haben sollte. Trotz ihres ehrwürdigen Alters zählte die Kapelle in Altötting nicht zu den berühmten Wallfahrtsorten, denn bisher hatten sich an dieser Stelle noch keine bedeutenden Mirakel ereignet.

Dennoch galt der Ort als heilig und wurde von vielen frommen Menschen aus dem Umland besucht.

Trudi selbst fand den Platz wenig ansprechend. Die Kapelle war klein und von einem fremdartig wirkenden, achteckigen Grundriss. Sie stand inmitten einer freien Fläche, die als Markt benutzt wurde. Auch an diesem Tag boten die Bauern der Umgebung hier ihre Erzeugnisse an, und die Wallfahrer mussten sich ihren Weg zwischen Schweinen, Hühnerkäfigen und dem letzten Herbstgemüse suchen. Wirbelwind wollte nach Krautbüscheln und Rüben schnappen, doch Trudi hielt sie am kurzen Zügel und verhinderte, dass das Tier etwas naschte.

Lampert hatte jedoch weniger Glück, denn er hatte auf zwei Pferde achtzugeben, und Uta machte sich einen Spaß daraus, rasch eine Steckrübe zu stibitzen und einem der beiden Gäule ins Maul zu stecken. Während das Tier zufrieden kaute, fuhr die Bäuerin, die die Rüben verkaufte, zornig auf und überschüttete Lampert mit einem Wust von Beschimpfungen, von denen er allerdings nur die Hälfte verstand.

Schließlich zügelte Trudi ihr Pferd und kehrte zu dem Gemüsekarren zurück. »Man sollte dich auspeitschen, so mit meinem Knecht zu sprechen. Es geht doch nur um eine jämmerliche Frucht.«

Die Bäuerin dachte jedoch nicht daran, klein beizugeben. »Der Gaul hat die Rübe von meinem Karren gestohlen. Du musst sie bezahlen.« In ihrer Wut achtete sie nicht darauf, Trudi wie eine Dame von Stand anzureden.

Lampert wollte sie deswegen zur Rede stellen, aber Trudi winkte ihm, zu schweigen. »Das Weib ist den Atem nicht wert, den du verschwendest. Hier, da hast du Geld. Es ist viel mehr wert als diese eine Rübe.« Damit warf Trudi der Frau eine Münze zu.

Diese fing sie auf und betrachtete sie misstrauisch. »Das ist fremdes Geld und hier nichts wert«, behauptete sie.

Jetzt juckte es Trudi doch in den Fingern, ihr einen Hieb mit der Reitpeitsche überzuziehen. Da trat ein Mönch hinzu und mischte sich in das Gespräch ein.

»Kann ich Euch helfen, Herrin?«, fragte er.

Trudi nickte. »Dieses Bauernweib regt sich auf, weil eines meiner Pferde eine ihrer Rüben gefressen hat. Ich wollte ihr Geld geben, doch sie behauptet, es würde hier nicht gelten.«

Der Mönch entwand der Bäuerin die Münze, musterte sie kurz und drohte der Frau mit der Faust. »Das ist ein guter Pfennig und mehr wert als dein ganzes Gemüse. Wenn du die Dame betrügen willst, werde ich zum Marktaufseher gehen. Der wird dir eine Strafe auferlegen und dich für die nächste Zeit vom Markt ausschließen!«

Es war fast zum Lachen, wie rasch die Frau einknickte. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie hob die Arme flehend zu Trudi empor. »Gnade, Herrin! Ich wollte Euch wirklich nicht betrügen. Doch ich kenne die Geldstücke nicht so gut wie dieser fromme Mann hier und wusste daher nicht um ihren Wert. Bitte lasst nicht zu, dass er mich dem Marktrichter meldet. Wie soll ich meine Kinder ernähren, wenn ich mein Gemüse nicht mehr in die Stadt bringen darf?«

Ihr Jammern rührte Trudi, und sie wandte sich mit einer besänftigenden Handbewegung an den Mönch. »Lasst das Weib in Frieden, frommer Bruder. Es soll meinem Knecht noch ein paar Rüben für die Pferde geben und ein Vaterunser beten. Dann sei ihm verziehen.«

»Ihr seid sehr nachsichtig, Herrin.« Der Mönch machte keinen Hehl daraus, dass er die Bäuerin härter bestraft hätte sehen wollen, und befahl ihr, Lampert noch einige Steckrüben zu reichen. Als Trudi wieder anritt und der Knecht und Uta ihr folgten, blieb er für einen Augenblick zurück und wandte sich noch einmal an die Bauersfrau.

»Du wirst das Geldstück in den Opferstock werfen. Wage aber nicht, ein falsches hineinzulegen. Ich kenne die Münze und finde heraus, wenn du statt ihrer eine geringere spendest.«

Die Bäuerin sagte sich, dass die fremde Dame gnädiger mit ihr verfahren war als der einheimische Mönch, wagte ihm aber nicht zu widersprechen. Seufzend beugte sie das Knie vor dem frommen Mann und reichte ihm die Münze.

»Hier, legt Ihr sie in den Opferstock. Ich vergesse es sonst, und dann bestraft Ihr mich deswegen, obwohl ich das Geld gewiss nicht aus Absicht behalten hätte.«

Der Mönch nahm die Münze entgegen und steckte sie in den Beutel, den er an einem Strick um seine Taille hängen hatte. Dann schlug er das Kreuz über die Bäuerin, die sichtlich der Münze nachtrauerte, und eilte Trudi nach, die als Fremde dringend seiner Führung bedürftig war.

Er holte sie an der Pforte der Kapelle ein und vermochte ihr gerade noch die Tür zu öffnen, damit sie eintreten konnte. Innen war kaum Platz, denn etliche Menschen knieten vor der aus Lindenholz geschnitzten Madonnenfigur, die, wie der Mönch leise erklärte, bereits über hundert Jahre an dieser Stelle stand.

»Seht sie Euch an, Herrin, dann erkennt Ihr die Kraft, die in ihr ruht. Noch begnügt die Himmelsherrin sich damit, unsere Gebete anzuhören und im Stillen zu wirken. Doch ich bin mir sicher, dass sich das erste große sichtbare Wunder, welches sie an dieser Stelle bewirken wird, noch zu meinen Lebzeiten ereignet!«

Mit diesen Worten kniete der Mönch nieder und küsste den Boden vor der Statue, die in Trudis Augen zwar wunderschön gearbeitet war, aber durch ihre geringe Größe nicht gerade imposant wirkte. Dennoch flehte sie die Königin des Himmels um Schutz und Hilfe für sich und die Ihren an. Dann erinnerte sie sich jedoch daran, dass mit dem Fürstbischof von Würzburg ein Vertreter der heiligen Kirche gegen ihre Mutter stand, und ihr wurde das Herz schwer. Würde Gott aufseiten seiner Diener stehen, auch wenn diese Unrecht taten, und die schützende Hand von ihr und ihrer Mutter abziehen? Als sie zu der kleinen Madonnenstatue mit dem Jesuskind hochblickte, verneinte sie diese Frage, denn sie fühlte sich getröstet. Auch spürte sie eine Kraft in sich wachsen, die ihr den Mut gab, auch noch das letzte Stück Weges nach Graz in Angriff zu nehmen.

Lampert war zunächst geduldig vor der Kapelle stehen geblieben, aber da er selbst den Wunsch verspürte, vor dem Gnadenbild zu beten, vertraute er die drei Pferde einem zuverlässig aussehenden Jungen an. Danach trat er ein, blieb aber bei der Tür neben Uta stehen, da beide es nicht wagten, sich durch die frommen Leute zu zwängen. Sie konnten daher die Statue nicht so gut sehen wie ihre Herrin, richteten aber ihre Gebete an die Mutter Jesu und baten sie, ihnen ihre Bitten zu erfüllen.

Uta wünschte, dass die Reise bald zu Ende sein möge. Im Süden ragten hohe Berge in den Himmel, deren weiße Gipfel verrieten, dass dort bereits der Winter Einzug gehalten hatte. Ihr war es gleich, ob sie sich nun als Gäste auf irgendeiner Burg oder in einem Kloster einquartierten oder auf dem schnellsten Weg nach Schweinfurt zurückkehrten. Da sie selbst dann, wenn sie stramm ritten, mindestens zehn, wahrscheinlicher aber dreizehn bis fünfzehn Tage für den Rückweg benötigen würden, flehte sie die Jungfrau Maria an, ihnen für diese Zeit gutes Wetter zu senden. Vor allem anderen wünschte sie sich schließlich, der elende Regen möge aufhören, der durch die Kleider drang und ihre Glieder zu Eisklumpen werden ließ.

Anders als Uta, die nur von einem Tag zum anderen dachte, ahnte Lampert, was seine Herrin plante. Einige der Fragen, die sie unterwegs gestellt hatte, waren zu verräterisch gewesen. Auch wenn die Reise beschwerlich war, so freute er sich doch darauf, die Residenz des Königs und vielleicht sogar diesen selbst zu sehen. Den König umgab ein besonderer Segen, dessen jeder, der ihn sah, teilhaftig wurde, und dafür lohnten sich auch die Unan nehmlichkeiten dieser Reise. Um sich einer solchen Ehre würdig zu zeigen, betete er, dass Herr Friedrich von Habsburg, der als Dritter seines Namens die Krone des großen Karls trug, Trudi Gehör schenken und ihrer Familie im Streit mit dem Würzburger Bischof und anderen Feinden beistehen würde.

Danach bat er die Himmelsmutter, Uta endlich Vernunft annehmen zu lassen. Zu Hause war das Mädchen ganz anders gewesen als auf dieser Reise. Doch nun kamen Seiten ihres Charakters zum Vorschein, die ihn abstießen. Ein wenig selbstsüchtig war sie schon immer gewesen, doch sie hatte sich redlich bemüht, ihrer Herrin gut zu dienen. Hier in der Fremde aber war sie zu einer Beißzange und Jammerliese geworden.

Als Trudi sich erhob und sich bekreuzigte, vermochte sie nicht abzuschätzen, wie lange sie vor der Madonnenstatue von Altötting gekniet und gebetet hatte. Es konnten ebenso wenige Minuten wie mehrere Stunden gewesen sein. Sie wollte in das Weihwassergefäß greifen, doch der Mönch kam ihr zuvor und benetzte ihre Stirn mit dem kühlen Nass. Das war eine so intime Geste, dass sie sich am liebsten die Stirn trockengerieben und den Mönch zur Rede gestellt hätte. Doch das Wissen, jemanden zu benötigen, der ihr auf ihrem weiteren Weg guten Rat geben konnte, hielt sie davon ab. Sie verließ die Kapelle und sah, dass die Händler und Marktfrauen bereits ihre Stände abbauten. Also musste der Marktaufseher bereits gegen die Stände geschlagen haben.

Nun wandte Trudi sich an den Mönch, der ihr eilfertig gefolgt war. »Könnt Ihr mir eine sichere und saubere Herberge nennen, ehrwürdiger Bruder?«

Der Mann wies auf ein größeres Gebäude am Rand des Platzes.

»Dort werdet Ihr eine gute Unterkunft finden. Die Wirtsleute sind ehrlich und reinlich, und bei ihnen kehren sogar hohe Herrschaften ein.«

Dies hörte sich nicht an, als wäre es ein billiger Gasthof. Trudi seufzte, denn ihr Geld nahm schneller ab, als es ihr lieb sein konnte. Sie würde rascher reisen müssen als bisher, wenn sie unterwegs nicht in einen leeren Beutel blicken wollte. Hinzu kam, dass sie jemanden benötigte, der sie und ihre beiden Begleiter vor Räubern und Dieben schützen konnte.

Der Mönch sah, dass die junge Dame an anderes dachte, und wollte sich abwenden. Da hielt Trudis Ruf ihn auf. »Verzeiht, ehrwürdiger Bruder, doch ich habe noch eine Bitte an Euch. Mir sind meine beiden Trabanten abhandengekommen, so dass ich ohne bewaffneten Schutz reisen muss. Kennt Ihr nicht ein paar edle Ritter, die sich meiner annehmen und mich an mein Ziel geleiten würden? Ich wäre Euch sehr dankbar.«

Der Mönch rieb sich über seine Tonsur. »Wohin führt Euch Eure Reise, Herrin?«

»Nach Graz zu König Friedrich.«

Während Lampert in sich hineinlächelte, weil er richtig geraten hatte, stieß Uta einen entsetzten Schrei aus. »Ihr wollt noch weiter in die Ferne reisen, Jungfer? Aber das könnt Ihr doch nicht machen!«

Lampert versetzte ihr einen Stoß. »Halt den Mund! Du hast wohl vergessen, was du bist: nämlich eine Magd, die gehorcht, wenn die Herrin ihr etwas befiehlt. Oder willst du Schläge bekommen?«

Trudi hatte Uta zwar noch nie geschlagen, ihr unterwegs aber schon mehrfach mit dem Stock gedroht. Daher fürchtete Uta, doch Hiebe zu bekommen, wenn sie nicht den Mund hielt, und sah Lampert mit dem Blick eines waidwunden Rehs an.

Währenddessen hatte der Mönch nachgedacht und schüttelte nun bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid, Herrin, aber ich weiß leider niemanden, der Euch bis Graz bringen kann. Der eine oder andere wäre gewiss bereit, Euch ein Stück Weges zu geleiten, aber bei diesem Wetter reitet niemand mehr bis dorthin.«

Diese Auskunft war beunruhigend, doch Trudi war nicht bereit, den Spieß ins Korn zu werfen. Sie nestelte ihren Beutel vom Gürtel, holte eine Münze heraus und drückte sie dem Mönch in die Hand. »Hier, nehmt diese kleine Spende. Wenn Ihr von einem Herrn erfahrt, der mich zu König Friedrich begleiten kann, so lasst es mich bitte wissen.«

Der Mönch ergriff die Münze und deutete eine Verbeugung an.

»Ich werde dieses Geld zu den Spenden für die Kapelle legen. Doch was das Geleit nach Österreich angeht, so bedauere ich, dass Ihr nicht zwei Tage früher hier angekommen seid. An jenem Morgen ist eine größere Schar aufgebrochen, die nach Graz reisen wollte. Deren Anführer hätte Euch gewiss den Schutz angedeihen lassen, dessen Ihr bedürftig seid.«

»Das ist wirklich schade.« Trudi seufzte und fragte sich, ob es ihr gelingen könnte, diese fremden Reiter einzuholen. Doch selbst wenn sie unterwegs die Pferde bis zur Erschöpfung antreiben ließ, würden sie mehrere Tage ohne Schutz durch ein fremdes Land reiten müssen. Da war es besser, hier jemanden zu suchen, dem sie sich anschließen konnte.

Die Tochter der Wanderhure
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