4.

Die Kapelle von Fuchsheim war reich geschmückt. Blumengirlanden umwanden die Figuren der Heiligen, und auf dem Altar lag ein neues, blendend weißes Tuch mit einem eingestickten Kreuz aus Goldfäden. Bona hatte es selbst gefertigt und viel Lob dafür erhalten. Jetzt saß sie neben Trudi und konnte sich nicht einmal darüber freuen, dass ihr Täuschungsspiel in der Hochzeitsnacht so gut gelungen war. Immer wieder starrte sie Michel Adlers aufgebahrten Leichnam an. Marie hatte ihrem Mann die besten Kleider anziehen lassen und ein silbernes Kreuz in seine erstarrten Hände gelegt. Sie kniete ebenfalls neben Trudi, die so regungslos wirkte, als sei sie eine der Statuen, mit denen die Kapelle ausgestattet war. Nur die Tränenspuren auf ihren Wangen bezeugten, dass noch Leben in ihr war.

Marie wusste nicht, wie sie und ihre Töchter die Nacht überstanden hatten. Immer wieder waren Trudi, Lisa und Hildegard in Weinkrämpfe ausgebrochen, und sie hatte sie beruhigen müssen. Dabei bedurfte sie des Trostes nicht weniger als ihre Kinder, doch sie wusste, dass sie nun ebenso stark sein musste wie schon so oft in ihrem Leben. Aber nicht einmal während des Prozesses damals in Konstanz war sie innerlich so verwundet worden. Jetzt fasste sie Trudi um die Taille und zog sie an sich, während sie mit der anderen Hand die beiden jüngeren Mädchen streichelte. Die Nähe der drei gab ihr die Kraft, diese schrecklichen Stunden durchzustehen. Michel war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Auch ihre Töchter hatten ihn aus ganzem Herzen geliebt, Lisa und Hildegard nicht weniger als Trudi, obwohl Michel seine Älteste ihnen vorgezogen hatte. Marie erinnerte sich daran, wie sie sich mit ihrem Mann deswegen gestritten hatte, und nun bat sie ihn für jedes harsche Wort, das sie jemals zu ihm gesagt hatte, stumm um Verzeihung.

Die Glocke der Kapelle begann zu läuten, und der Prälat trat zusammen mit dem Festpriester und dem Fuchsheimer Burgkaplan durch das Portal der Kapelle. Pratzendorfers Gesicht wirkte ernst und, wie Marie fand, auch arg verbissen, als nage ein heimlicher Ärger an ihm. Sie wunderte sich immer noch, weshalb er den jungen Henneberger so geschickt verteidigt hatte, denn der Prälat stammte ursprünglich aus Österreich und hatte ihres Wissens nichts mit den adligen Familien dieser Gegend zu tun gehabt.

Den drei Klerikern folgten die beiden Männer, die im Angesicht des Toten die Reinigungseide leisten sollten. Pratzendorfer hatte durchgesetzt, dass auch Otto von Henneberg seine Unschuld auf das heilige Kreuz schwören durfte, da er angeblich nicht zu betrunken sei. Auch Magnus von Henneberg hatte darauf gedrängt, dass sein Bruder schwor und so von dem Verdacht, der Mörder zu sein, freigesprochen werden konnte, und da keiner der übrigen Gäste annahm, er würde die Seele seines Bruders vorsätzlich dem Höllenfeuer preisgeben, hatten Pratzendorfer und Graf Magnus sich durchgesetzt.

Der Beginn der Litanei riss Marie aus ihren Überlegungen. Obwohl sie sich für eine gläubige Frau hielt, lauschte sie nicht den lateinischen Worten. Sie hatte an Gottesdiensten in Böhmen teilgenommen und gehört, wie dort zu Gott und Christus gebetet wurde, und wusste auch, wie man im fernen Russland die heilige Messe feierte. Die Form war in ihren Augen leerer Tand. Es kam nur auf den Geist an, der die Gebete beseelte. Ihr Blick heftete sich auf die kleine Statue der Muttergottes, die sie neben der heiligen Maria Magdalena am meisten verehrte, und sie sprach ein stilles Gebet. Dabei bedauerte sie, dass ihre Lieblingsheilige in dieser Kapelle nicht mit einem Bildnis geehrt worden war. Dann aber musste sie daran denken, wie oft sie auf freiem Feld zu Maria Magdalena gebetet hatte – oder in jenem kleinen Zelt, in dem sie hatte hausen müssen –, denn zu jener Zeit hatten die meisten Geistlichen und Mönche die Kirchentür vor ihr verschlossen gehalten.

Während der Priester die Messe auch diesmal voller Inbrunst las, wanderten Maries Gedanken weiter, und sie fragte sich, wer denn nun wirklich für Michels Tod verantwortlich war. Auch wenn die beiden Männer, die in schlichten weißen Gewändern auf einem grob zugehauenen Holzbrett knieten und weiße Kerzen in Händen hielten, hier vor dem Sarg einen heiligen Eid schworen, diesen Mord nicht begangen zu haben, mochte dennoch einer von ihnen der Täter sein. Der Würzburger Bischof war mächtig und gewiss in der Lage, von Seiner Heiligkeit, Papst Eugen IV., einen Ablassbrief für diesen Meineid zu beschaffen. Doch welcher der beiden mochte es gewesen sein? Der impulsive Henneberger oder Eichenloh, der kalt wie Eis zu sein schien und jedem mit Spott begegnete?

Marie presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Auch wenn sie es Michel schuldig war, seinen Mörder zu finden und zu bestrafen, wollte sie nicht aufs Geratewohl einen dieser Männer verdächtigen oder gar verfolgen lassen. Ihr Blick streifte Ingobert von Dieboldsheim. Er war zwar ein Feigling, aber einen Stich aus dem Hinterhalt traute sie ihm zu. Einige der Würzburger Vasallen wie Gressingens Onkel Maximilian von Albach kamen ebenfalls in Betracht, und sie durfte auch Ludolf von Fuchsheim nicht außer Acht lassen. Dieser hatte Michel und ihr mehr als seinen halben Besitz überschreiben müssen, um Geld für die Aussteuer und Vorräte für diese Feier zusammenzubekommen.

Nimm dich zusammen, sonst verdächtigst du noch die ganze Welt, schalt Marie sich. Sie brauchte Beweise und keine Vermutungen. Doch der einzige Beweis, den es gab, war Graf Ottos Dolch. Am liebsten hätte sie alles andere von sich geschoben und den jungen Henneberger als den Mörder ihres Mannes angesehen. Doch mit seinem Schwur würde er sich der irdischen Gerechtigkeit entziehen, und auf die Strafe des Himmels zu hoffen, war, wie Marie selbst wusste, ein höchst unsicheres Unterfangen.

Otto von Henneberg quälten schwere Zweifel. Denn so klar, wie Cyprian Pratzendorfer es allen weisgemacht hatte, vermochte er sich nicht zu erinnern. Am Tag zuvor war er noch sicher gewesen, nicht der Mörder Michel Adlers zu sein, aber nun tauchte die Szene, in der er diesen wüst beschimpft und seinen Dolch gezückt hatte, immer wieder vor seinem inneren Auge auf. Er war seinem Freund Eichenloh unendlich dankbar, dass dieser ihm die Waffe aus der Hand geschlagen hatte. Was danach mit dem Dolch geschehen war, wusste er jedoch nicht. Auch vermochte er nicht zu sagen, was zwischen dem Streit und dem Augenblick geschehen war, in dem sein Bruder ihn geweckt hatte.

Im Gegensatz zu seinem Freund Otto hatte Peter von Eichenloh ein reines Gewissen. Er hatte Michel Adler nicht umgebracht und konnte dies jederzeit beeiden. Aber auch er fragte sich, wer der wahre Mörder sein mochte. Inzwischen glaubte er nicht mehr so fest, dass sein Freund unschuldig war, denn einer seiner Bekannten hatte ihm in der Nacht von den Ereignissen in den Hilgertshausener Weinbergen erzählt.

Wie es aussah, hatte Otto, dieser Narr, nicht nur versucht, die Kibitzsteiner Knechte und Mägde vom Grund des Damenstifts Hilgertshausen zu vertreiben, sondern überdies noch seine Leute angestachelt, den Weibern Gewalt anzutun. Er selbst hatte sogar versucht, Trudi Adler zu vergewaltigen. Das befremdete Eichenloh. Als Mitglied seines Trupps hatte Otto sich niemals so gebärdet. Es war, als sei nach ihrer Trennung ein böser Geist in seinen Freund gefahren.

Gerne hätte Junker Peter sich umgedreht und das Mädchen angesehen, das so beherzt gewesen war, ihrem Bedränger den Dolch abzunehmen und ihn damit sichtbar zu zeichnen. Natürlich war der Schnitt durchs Gesicht eine Dummheit gewesen. Ein Stich in den Oberschenkel oder die Schulter hätte ausgereicht, sich den Angreifer vom Hals zu halten. Dennoch fand er, dass Otto diese Strafe verdient hatte.

Während Trudi in Eichenlohs Achtung stieg, wanderten ihre Blicke rachsüchtig zwischen seinem Rücken und Graf Ottos schmäleren Schultern hin und her. Einer der beiden war der Mörder ihres Vaters und würde angesichts des gekreuzigten Heilands einen Meineid schwören, davon war sie überzeugt. Daher flehte sie Gott und Herrn Jesus an, diese Blasphemie nicht zu dulden und den Schuldigen auf der Stelle mit einem Blitzschlag zu bestrafen. Doch als der Prälat die Stelle des Priesters einnahm und die beiden Ritter aufforderte, bei Gott, dem Heiland und dem Heiligen Geist zu schwören, dass sie keine Schuld am Tode Michel Adlers auf Kibitzstein trügen, blieb der Himmel ruhig. Dabei machte Pratzendorfer es den beiden nicht leicht, denn er schilderte die Strafen der Hölle, die der Meineidige erleiden würde.

Er nahm sich vor allem Peter von Eichenloh vor. »Bist du dir dessen bewusst, dass ein falscher Eid deine unsterbliche Seele um das Himmelreich bringen und auf ewig Luzifer ausliefern wird, dem falschen Engel, der von dem heiligen Erzengel Michael vom Himmel gestürzt und in die Tiefen der Hölle geworfen wurde?«

»Ja, dessen bin ich mir bewusst«, antwortete Eichenloh mit fester Stimme.

»Bist du dir dessen bewusst, dass tausend Höllenteufel deinen Leib jeden Tag mit eisernen Krallen zerfetzen, deine Eingeweide herausreißen und um deinen Hals schlingen werden, sofern du einen falschen Eid schwörst?«

»Da ich nicht falsch schwöre, wird dies nicht geschehen.« Junker Peter war Pratzendorfers Gerede allmählich leid. Der Prälat hätte besser Graf Otto ins Gebet nehmen sollen, denn der sah aus, als würde er bereits in der Hölle schmoren.

»Bist du, der du dich Peter von Eichenloh nennst, dir auch dessen bewusst, dass Luzifer selbst deinen Leib in tausend Stücke schneiden und jeden Tag aufs Neue zusammenfügen wird und du bis in alle Ewigkeit Schmerzen erleiden wirst, die alle Qualen, die einem Menschen auf dieser Erde zugefügt werden können, weit übertreffen werden?«

Nur der Gedanke, dass jedes harsche Wort als Zeichen seiner Schuld angesehen werden würde, hielt Junker Peter davon ab, dem Prälaten die Antwort zu geben, die ihm auf der Zunge lag. Er war keiner der Männer, die ergeben buckelten und ihre Zunge geschmeidig tanzen ließen, um auf diese Weise an ihr Ziel zu kommen. Daher beschränkte er sich auf ein schlichtes: »Das alles ist mir bewusst.«

»Trotzdem bist du bereit, diesen Eid zu leisten?« In der Frage schien die Hoffnung zu schwingen, Eichenloh würde im letzten Augenblick, von seinem Gewissen gepeinigt, den Mord zugeben. Den Gefallen tat er Pratzendorfer jedoch nicht, sondern legte die Hand auf das Kruzifix, das der Priester, der dem Prälaten assistierte, ihm hinhielt, und sprach so laut und deutlich wie möglich.

»Ich, Peter von Eichenloh, Ritter des Heiligen Römischen Reiches, schwöre vor Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist sowie allen Heiligen unserer heiligen, apostolischen Kirche, dass ich den Reichsritter Michel Adler auf Kibitzstein weder getötet noch ihm nach dem Leben getrachtet habe! Möge Gott meine Gebeine zerschmettern und mich auf ewig den Qualen der Hölle übereignen, wenn ich falsch geschworen habe!«

Pratzendorfer schnaubte enttäuscht, wandte sich dann Otto von Henneberg zu und forderte auch diesem den Eid ab, verzichtete aber darauf, ihn noch einmal daran zu erinnern, welche Gefahren seiner unsterblichen Seele im Falle eines Meineids drohen würden.

Graf Otto sprach den Eid ebenfalls nach, wenn auch stockend und bei weitem nicht so fest wie sein Freund. Der Prälat schien jedoch zufrieden, denn er segnete ihn, was er bei Eichenloh unterlassen hatte, und stellte sich dann vor den Altar, um allen Anwesenden zu verkünden, dass beide Herren vor Gott geschworen hatten und damit unschuldig seien.

»Dies ist geschehen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen«, schloss er und schlug nachlässig das Kreuz.

Marie holte tief Luft und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen, Trudi aber sprang auf, eilte nach vorne und blieb mit geballten Fäusten vor den beiden Rittern stehen. »Ich glaube Euch kein Wort! Einer von Euch hat meinen Vater feige ermordet und leugnet dies selbst noch an dieser heiligen Stätte. Gott wird denjenigen, der ihn verhöhnt und das Heiligste mit Füßen getreten hat, noch in diesem Leben bestrafen!«

Da Trudi aussah, als wolle sie nicht auf die Strafe des Himmels warten, sondern sich selbst auf die beiden Ritter stürzen, griff Markgraf Albrecht Achilles ein und hielt sie auf. »Beruhigt Euch! Ganz gewiss wird Euch Genugtuung und Rache zuteilwerden.« Da Trudi sich gegen seinen Griff wehrte, eilte Marie zu Hilfe und zog ihre Tochter fest an sich.

»Komm, mein Kind! Auch wenn uns an dieser Stelle die Rache versagt geblieben ist, so wird sie den wahren Mörder gewiss noch ereilen.«

»Ich will ihn tot sehen und ebenso feige erstochen, wie er Papa getötet hat!«, schrie Trudi so laut, dass die Umstehenden zusammenzuckten.

Marie brauchte zuletzt Lisas und Hildegards Hilfe, um Trudi aus der Kapelle zu führen. Eichenloh sah ihnen nach und schüttelte den Kopf über den Hass, der in Trudi Adler tobte. Dann erinnerte er sich an eine Szene in seiner Vergangenheit, in der ihn ein ähnlich hilfloser Zorn erfüllt hatte, und er drehte dem Mörder Michel Adlers in Gedanken den Kragen um.

Die Tochter der Wanderhure
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