11.

So rasch, wie sie gehofft hatte, kam Marie nicht dazu, Hiltrud zu besuchen. Abt Pankratius hatte von ihrer Reise in das Land der Moskowiter erfahren und wollte von ihr hören, wie es in jenem fernen Landstrich zuging. Daher musste Anni den Befehl geben, den Wagen wieder auszuspannen.

Inzwischen hatte Trudi es in der Burg nicht mehr ausgehalten und sich auf den Weg zum Ziegenhof gemacht. Die Bäuerin, eine große, wuchtig gebaute Frau mit weißen Haaren und einem für ihr Alter noch recht glatten Gesicht, fütterte gerade ihre Ziegen mit Brotresten, als das Mädchen erschien. Hiltrud war erfahren genug, um zu erkennen, welcher Kummer in ihrem Patenkind wühlte.

Schnell warf sie den Ziegen die letzten Brotkrumen hin und winkte Trudi, mit ihr zu kommen. »Du hast doch sicher Hunger. Komm mit! Ich mache dir ein Wurstbrot.«

Hunger war das Letzte, das Trudi verspürte, doch sie kannte die Bäuerin und wusste, dass sie deren Angebot nicht ausschlagen durfte. »Danke, Tante Hiltrud«, sagte sie daher artig und folgte der alten Frau ins Haus.

In der Küche wies Hiltrud mit dem Kinn auf einen Stuhl und holte anschließend Brot, Butter und Wurst aus dem kühlen Keller, der ihr als Vorratsraum diente.

»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte sie, während sie das Brot abschnitt und dick mit Butter bestrich.

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas auf dem Herzen hätte?« Trudi versuchte zu lachen, doch es kam nur ein kläglicher Laut aus ihrer Kehle.

»Natürlich hast du etwas auf dem Herzen. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an. Was willst du trinken, Wein?«

Die Frage erinnerte Trudi daran, dass sie im Fuchsheimer Wald zu viel getrunken hatte, und sie schüttelte mit einer Gebärde des Abscheus den Kopf. »Nein, danke! Mir reicht ein Becher Kräutertee.«

»Gut!« Hiltrud trat an den Herd, nahm einen Lappen und ergriff einen Topf, in dem sie einen Sud aus Melisse, Minze und Kamille warm hielt. »Der war zwar für eine kranke Ziege gedacht, aber er ist vielleicht auch gut für ein krankes Herz«, sagte sie, während sie einen Becher mit der dunklen Flüssigkeit füllte.

»Dir kann man wohl gar nichts verheimlichen.« Trudi seufzte tief und blickte zu Boden.

»So schlimm steht es?«

»Es ist nicht nur schlimm, es ist … sehr schlimm.« Das Mädchen blickte seine Patentante an wie ein verschrecktes Kätzchen. »Es ist so, weißt du … Da gibt es einen jungen Ritter. Er hat …, äh, nun, er gefällt mir gut.«

Hiltrud wiegte verwundert den Kopf. Das hörte sich wirklich nicht nach der Trudi an, die sie kannte. Bisher war ihr das Mädchen stets stark vorgekommen und hatte einen festen Willen gezeigt. Das Kind nun so elend vor sich zu sehen, tat ihr weh. Sanft nahm sie Trudi in die Arme und zog sie an ihren Busen.

»Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt? Weißt du, ich habe im Lauf meines Lebens erfahren, dass es manchmal gut ist, wenn man sich einem anderen Menschen anvertrauen kann. Ich erzähle auch gewiss nichts weiter.«

»Das weiß ich doch, Tante Hiltrud. Darum bin ich auch zu dir gekommen. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, sonst werde ich noch verrückt.«

»So schrecklich wird es doch nicht sein!« Ihren Worten zum Trotz machte die alte Bäuerin sich Sorgen. Sie kannte Trudi, seit diese auf ihrem Hof geboren worden war, und hatte sie noch über Dinge lachen hören, bei denen andere Mädchen bereits in Tränen ausgebrochen wären. Wenn ihr Patenkind so verzagt wirkte, musste ihm etwas Ernsthaftes zugestoßen sein.

Hiltrud drängte Trudi, von dem Kräutertee zu trinken, dem sie eine beruhigende Wirkung beimaß, setzte sich zu ihr und wartete darauf, dass sie weitersprach. Nachdem ihre Kinder bis auf einen Sohn den Hof verlassen hatten, war es still um sie geworden. Ihre erstgeborene Tochter hatte geheiratet, ihr ältester Sohn, der nach Ritter Michel benannt worden war, weilte in dessen Diensten als Kastellan auf Burg Kessnach im Odenwald, ihre Mechthild arbeitete oben in der Burg als Köchin, und Giso, ihr Jüngster, besuchte ein Priesterseminar. Nur Dietmar war auf dem Ziegenhof geblieben und ging meist ruhig und schweigsam seiner Arbeit nach. Meist bedauerte Hiltrud die Ruhe, die nun in ihrem Haus herrschte. An diesem Tag aber war sie froh, dass nicht ständig jemand in die Küche platzte, denn sonst wäre es ihr nicht gelungen, Trudi zum Reden zu bewegen.

Da das Mädchen so wirkte, als ziehe es sich in sich zurück, umschlang sie Trudi und brachte sie mit geschickten Fragen dazu, ihr von Georg von Gressingen zu erzählen, der Trudis Beschreibung zufolge ein prachtvoller junger Mann war, dem kein Zweiter das Wasser reichen konnte. Es war zu spüren, wie tief Trudis Liebe zu diesem Mann ging. Das sollte eigentlich kein Grund zum Weinen sein, denn Michel würde Gressingen als Eidam höchst willkommen sein. Aber Hiltrud wusste auch, dass Marie dem Junker nicht die gleiche Sympathie entgegenbrachte wie ihr Mann und ihre Tochter. Ihre Freundin hatte geäußert, Gressingen ähnele zu sehr Michels einstigem Todfeind Falko von Hettenheim und trüge auch Züge von Magister Ruppertus Splendidus, der ihren Vater umgebracht und ihr Heimat und Ehre genommen hatte. Da Hiltrud annahm, Maries Bild von dem Ritter würde durch ihre Voreingenommenheit gegenüber jungen Herren von Stand getrübt, hoffte sie inständig, Georg von Gressingen sei von edlem Charakter und wäre Trudis tiefer Liebe wert.

Doch während ihr Patenkind weitererzählte, schwand Hiltruds Zuversicht. Einmal im Redefluss verfangen, beichtete Trudi ihr auch das, was im Fuchsheimer Wald geschehen war, und sagte zuletzt weinend, sie warte seit jenem Tag darauf, dass Georg von Gressingen auf Kibitzstein erscheinen und seinen Schwur erfüllen würde.

Trudis Bericht erschreckte ihre Patentante so, dass sie einige Augenblicke brauchte, um sich zu fassen. Alles in ihr schrie danach, das Mädchen zu streicheln und zu trösten. Doch Trudi war kein kleines Kind mehr, das sich das Schienbein gestoßen hatte, und das, was geschehen war, würde auch die Zeit nicht heilen. Trudi hatte ihre Jungfernschaft an einen Mann verloren, der ihrer Liebe nicht wert war, und sie würde von Glück sagen können, wenn der Junker nicht im Kreis seiner Freunde mit seiner Eroberung prahlte.

Möglicherweise, berichtigte sie sich, tat sie ihm auch unrecht. Er konnte durch andere Pflichten oder Krankheit daran gehindert worden sein, nach Kibitzstein zu reiten und sich zu erklären. Noch während Hiltrud dieser Gedanke durch den Kopf schoss, kam Trudi darauf zu sprechen.

»Es muss etwas Unerwartetes dazwischengekommen sein, denn sonst wäre Junker Georg bereits hier gewesen. Gewiss wird er in den nächsten Tagen erscheinen und mich für sein Säumen um Verzeihung bitten. Aber wenn ich bis Ende dieser Woche nichts von ihm erfahren habe, reite ich nach Gressingen und sehe nach, was los ist.«

Hiltrud ließ das Mädchen los und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Kind, das kannst du nicht tun! Deine Eltern würden dich niemals allein reiten lassen.«

Das Aufblitzen in Trudis Augen zeigte ihr, dass diese gewillt war, notfalls heimlich die väterliche Burg zu verlassen, um ihren Liebhaber zu treffen. Doch wenn sie dies tat und es bekannt wurde, geriet sie so in Verruf, dass kein Mann mehr um sie werben würde.

»Du solltest besser warten, bis du etwas von Junker Georg hörst. Wahrscheinlich musste er Hals über Kopf auf Reisen gehen, sonst hätte er dir eine Botschaft geschickt.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Trudi klammerte sich so stark an diese Möglichkeit, dass Hiltrud insgeheim die Heilige Jungfrau anflehte, Georg von Gressingen so bald wie möglich erscheinen zu lassen.

»Er muss kommen und mich heiraten. Schließlich habe ich ihm meine Tugend geopfert!« Nun klang Trudi kämpferisch, und Hiltrud sah neue Schwierigkeiten voraus, wenn dieser Wunsch sich nicht erfüllen würde.

»Vielleicht solltest du mit deiner Mutter darüber reden, und Marie mit deinem Vater. Michel ist Manns genug, um Gressingen zu zwingen, sein Wort zu halten.«

Trudi sprang erschrocken auf und wedelte mit den Armen. »Nein! Mama darf nichts davon erfahren. Frag nicht, wie oft sie mir gepredigt hat, ich müsse auf meine Jungfernschaft achten – so als wäre diese das höchste Gut der Welt. Dabei war sie selbst alles andere als eine Jungfrau, als mein Vater sie geheiratet hat.«

Das klang so verächtlich, dass Hiltrud die Hand ausrutschte, und sie erschrak mindestens ebenso wie Trudi, als der Schlag auf die Wange des Mädchens klatschte. Dennoch packte sie ihr Patenkind mit einem schmerzhaften Griff und zog es so nahe an sich heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

»Sag nie mehr ein böses Wort gegen deine Mutter! Sie ist der beste Mensch der Welt! Ich rate dir, mit ihr zu reden, denn wenn sie von Fremden erfährt, was mit dir los ist, wird sie mit Recht zornig auf dich sein.«

Trudi machte sich mit einer heftigen Bewegung frei. »Mama würde mir nicht glauben, wenn ich ihr sage, dass ich betrunken war und es eigentlich gegen meinen Willen geschehen ist, sondern mich für dieselbe lose Metze halten wie Bona von Fuchsheim.«

Hiltrud seufzte. »Kind, ich bin wirklich keine von denen, die dem unversehrten Jungfernhäutchen eines Mädchens übermäßigen Wert beimessen. Viele Frauen werden gegen ihren Willen benutzt oder müssen jemandem zu Diensten sein. Doch in den Kreisen, in die deine Eltern aufgestiegen sind, will man am Morgen nach der Brautnacht das blutbefleckte Laken sehen. Bei Gott, wenn es mir irgendwie möglich ist, werde ich dir helfen, damit du deinen Bräutigam und dessen Verwandte zufriedenstellen kannst. Doch die Gefahr ist größer, als du annimmst. Würde Georg von Gressingen allein behaupten, er hätte dich genommen, könnte man dies als Verleumdung abtun und ihm mit einer Fehde drohen. Doch wenn Bona und Hardwin das Gleiche herumerzählen, ist dein Ruf zerstört. In dem Fall wird nicht einmal deine Mitgift diesen Makel überdecken können, und deinen Eltern bleibt wahrscheinlich nichts anderes übrig, als dich in ein Kloster zu geben.«

Die alte Bäuerin redete auf Trudi ein wie auf eine kranke Kuh, sie solle sich ihrer Mutter anvertrauen. Zwar würde Marie das Mädchen schelten, ihm dann aber beistehen und dafür sorgen, dass Trudi so unbeschadet wie möglich aus dieser Sache herauskam. Doch Trudi glaubte felsenfest, Junker Georg hielte sein Versprechen, und in dem Augenblick, in dem er offiziell um sie anhielt, würde sie allen Vorhaltungen und Strafen der Mutter entgehen. In einem hatte diese nämlich recht. Eine sittsame Jungfer gab sich nicht vor der Hochzeit einem Mann hin, sondern wartete, bis sie von ihrer Mutter ins Brautbett geleitet wurde.

Die Tochter der Wanderhure
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