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John Puller stellte seinen Seesack auf den Boden seines Schlafzimmers, nahm die Mütze ab, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Nase und ließ sich aufs Bett fallen. Er war gerade von der Ermittlung in Fort Sill zurückgekehrt – mit dem Ergebnis, dass er Private Rogers in der Gasse gestellt hatte.

Als Rogers trotz Pullers Aufforderung, sich zu ergeben, den Abzug seiner Armeepistole betätigt hatte, war Puller einen Schritt nach rechts getreten, hatte die Silhouette seines Ziels aber im Auge behalten und gleichzeitig abgedrückt. Er hatte nicht gesehen, dass Rogers gefeuert hatte. Es war der Blick in den Augen des Mannes gewesen – und der Fluch, der ihm über die Lippen gekommen war. Da die Kugel aus der M11 Rogers getroffen hatte, hatte er diesen Fluch nicht beenden können. Rogers war seinem Wort treu geblieben: Er hatte die Gasse nicht kampflos verlassen. Irgendwie musste Puller ihn dafür bewundern. Der Mann war kein Feigling, auch wenn vielleicht nur Jim Beam aus ihm gesprochen hatte.

Rogers’ Kugel war in die Backsteinwand hinter Puller geschlagen. Die Wucht des Aufpralls löste einen Ziegelsplitter, der herausgeschleudert wurde und ein Loch in Pullers Ärmel bohrte, ihn aber nicht verletzte. Uniformen konnte man mit einem Faden ausbessern, Haut und Fleisch ebenfalls, aber Puller war ein Loch in der Uniform lieber als ein Loch im Arm.

Er hätte Rogers mit einem Kopfschuss erledigen können, aber so ernst die Lage auch gewesen war – Puller hatte sich schon in viel schlimmeren Situationen befunden. Deshalb hatte er seine Waffe nach unten gerichtet und dem Private ins rechte Bein geschossen, direkt über dem Knie. Bei Schüssen in den Oberkörper bestand die Gefahr, dass der Getroffene das Feuer erwiderte, weil solche Treffer manche Gegner nicht gänzlich kampfunfähig machten. Schüsse ins Knie jedoch verwandelten selbst die härtesten Männer in schreiende Babys. Rogers hatte seine Waffe fallen lassen, war kreischend zu Boden gestürzt und hatte sein verletztes Bein umklammert. Wahrscheinlich würde er längere Zeit nur humpeln können, aber wenigstens würde er leben.

Puller hatte ihm einen Verband angelegt und einen Rettungswagen gerufen. Dann war er mit dem Verletzten ins Armeekrankenhaus gefahren und hatte sogar zugelassen, dass Rogers versuchte, ihm die Hand zu zerquetschen, als der Schmerz zu stark wurde. Im Krankenhaus hatte er den erforderlichen Berg an Formularen ausgefüllt und jede Menge Fragen beantwortet, ehe er in eine Transportmaschine des Militärs gestiegen und nach Hause geflogen war.

Dem Mann, den Rogers auf offener Straße erschossen hatte, nachdem ein Drogendeal schiefgelaufen war, war nun ein Anschein von Gerechtigkeit zuteilgeworden. Und Familie Rogers aus Pittsburgh konnte nun einen Sohn und Bruder im Knast besuchen. Und die Steelers hatten noch immer einen Fan, der ihnen zujubeln konnte, wenn auch aus dem Militärknast.

Es hätte nicht passieren sollen, aber es war passiert. Puller wusste, wenn es hieß: Entweder ich oder der andere. Trotzdem zog er es vor, jemandem Handschellen anzulegen, statt den Abzug zu betätigen. Und auf einen anderen Soldaten zu schießen, ob er nun ein Verbrecher war oder nicht, behagte ihm erst recht nicht.

Alles in allem ein beschissener Tag, lautete Pullers Fazit.

Jetzt brauchte er erst einmal Schlaf. Ein paar Stunden würden ihm genügen. Dann würde er seinen Dienst wieder aufnehmen. Als Agent der Militärstrafverfolgungsbehörde hatte man nie richtig frei, auch wenn er in den nächsten Tagen an einen Schreibtisch verbannt werden würde, während eine interne Untersuchung darüber befand, ob sein Einsatz extremer Gewalt in der Gasse in Lawton, Oklahoma, angemessen gewesen war oder nicht. Anschließend aber würde er dorthin gehen, wohin man ihn schickte. Das Verbrechen hielt sich nicht an einen Orts- oder Zeitplan, zumindest nicht seines Wissens nach. Deshalb hatte er in der Army niemals eine Stechuhr gedrückt, denn solch ein Einsatz ließ sich nicht auf die normale Bürozeit beschränken.

Puller hatte kaum die Augen geschlossen, als sein Telefon summte. Er blickte auf das Display und stöhnte leise. Es war sein alter Herr. Genauer gesagt das Krankenhaus, das wegen seines Vaters anrief.

Er ließ das Telefon aufs Bett fallen und schloss erneut die Augen. Später, morgen oder übermorgen, würde er sich mit dem General befassen. Nicht jetzt. Jetzt wollte er nur schlafen.

Das Telefon summte erneut. Es war das Krankenhaus. Schon wieder. Puller ging nicht ran, und das Telefon verstummte endlich.

Und fing sofort wieder an.

Diese Arschlöcher geben einfach nicht auf.

Dann überschlugen sich Pullers Gedanken. Vielleicht hatte sein Vater … Aber nein, sein alter Herr war zu stur, um zu sterben. Er würde seine beiden Söhne wahrscheinlich überleben.

Puller setzte sich auf, griff nach dem Telefon und stutzte.

Auf dem Display wurde eine andere Nummer angezeigt, nicht die des Krankenhauses.

Es war sein befehlshabender Offizier, Don White.

»Ja, Sir?«, meldete er sich.

»Puller, wir haben ein heikles Problem. Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört.«

Puller blinzelte und brachte die ominöse Aussage seines CO mit den Anrufen des Krankenhauses in Verbindung. Sein Vater. War er wirklich tot? Das konnte nicht sein. Legenden starben nicht. Sie waren einfach da. Immer.

»Was gehört, Sir?«, fragte er mit trockener, kratziger Stimme. »Ich bin gerade erst aus Fort Sill nach Hause gekommen. Ist es mein Vater?«

»Nein, Ihr Bruder«, sagte White.

»Mein Bruder?«

Robert »Bobby« Puller saß im DB, dem sichersten Militärgefängnis der USA. Nun richteten Pullers Gedanken sich auf andere Möglichkeiten, was Bobby betraf.

»Ist er verletzt?« Puller fragte sich, wie das sein konnte. Es gab keine Häftlingsaufstände im DB. Andererseits hatte einer der Wärter Bobby einmal zusammengeschlagen – aus Gründen, die er seinem jüngeren Bruder niemals verraten hatte.

»Nein. Es ist ernster.«

Puller atmete tief durch. Ernster?

»Ist er tot?«

»Nein. Anscheinend ist er geflohen.«

Puller atmete noch einmal durch, während sein Verstand diese Aussage zu verarbeiten versuchte. Man entkam nicht aus dem DB. Das wäre so, als würde man mit einem Toyota zum Mond fliegen. »Wie?«

»Das weiß niemand.«

»Sie haben ›anscheinend‹ gesagt. Ist der Sachverhalt irgendwie unklar?«

»Ich sagte ›anscheinend‹, weil das DB genau das zurzeit behauptet. Es ist letzte Nacht passiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Ihren Bruder bislang noch nicht gefunden hat, sollte er noch auf dem Gelände sein. Das DB ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht.«

»Wird noch ein anderer Gefangener vermisst?«

»Nein. Aber da ist noch eine Sache, die genauso problematisch ist …«

»Und welche, Sir?«

»Eine noch nicht identifizierte Leiche, die man in der Zelle Ihres Bruders gefunden hat.«

Der erschöpfte Puller konnte diese Worte kaum verarbeiten. Er hätte aber auch nicht viel damit anfangen können, hätte er zehn Stunden Schlaf hinter sich gehabt.

»Eine nicht identifizierte Leiche? Also kein anderer Gefangener oder Wärter?«

»Richtig.«

»Wie genau ist er geflohen?«

»Ein Unwetter hat die Stromversorgung lahmgelegt«, erklärte White, »und dann ist der Notstromgenerator ausgefallen. Vom Fort wurde Verstärkung gerufen, um sicherzustellen, dass es nicht drunter und drüber geht. Die Gefängnisleitung war sicher, dass alles in Ordnung ist, bis man die Häftlinge zählte. Einer war verschwunden. Ihr Bruder. Und dann kam noch ein zweiter dazu. Der Tote. Der Staatssekretär für Heeresangelegenheiten hatte angeblich einen Herzanfall, als er darüber informiert wurde.«

Puller hörte nur mit einem Ohr zu. Ihm kam ein anderer beängstigender Gedanke. »Wurde mein Vater informiert?«

»Ich habe ihn jedenfalls nicht angerufen. Aber ich kann nicht für andere sprechen. Ich wollte Sie nur in Kenntnis setzen, so schnell es geht. Man hat auch mich gerade erst informiert.«

»Aber Sie sagten doch, es sei gestern Abend passiert.«

»Das DB posaunt nicht heraus, dass es einen Häftling verloren hat. Es ging durch die üblichen Kanäle. Sie kennen die Army, Puller. Alles braucht seine Zeit, ob man nun einen Hügel erstürmen oder eine Presseerklärung herausgeben will.«

»Aber mein Vater könnte es erfahren haben?«

»Ja.«

»Sir, ich möchte ein paar Tage Urlaub beantragen.«

»Das dachte ich mir schon. Betrachten Sie ihn als gewährt. Sie wollen bestimmt bei Ihrem Vater sein.«

»Ja, Sir«, sagte Puller, obwohl es ihm vor allem darum ging, sich mit dem Dilemma seines Bruders zu befassen. »Ich nehme an, der Fall wurde der CID übertragen.«

»Da bin ich mir nicht sicher, Puller. Ihr Bruder ist bei der Air Force. War bei der Air Force.«

»Aber das DB ist ein Heeresgefängnis. Da gibt es keine Revierkämpfe.«

White schnaubte. »Das ist das Militär, John. Es gibt sogar Revierkämpfe wegen des Männerpissoirs. Und wenn man bedenkt, was für ein Verbrechen Ihr Bruder begangen hat, könnte es in diesem Fall noch ganz andere Interessen und Machtspiele geben, die das übliche Geplänkel zwischen den Waffengattungen um Längen übertreffen.«

Puller wusste, was das bedeutete. »Interessen der nationalen Sicherheit.«

»Und wenn Ihr Bruder frei herumläuft, könnte das eine Menge Reaktionen auslösen.«

»Er kann nicht weit gekommen sein. Das DB liegt mitten in einer militärischen Einrichtung.«

»Es gibt einen Flughafen in der Nähe. Und Autobahnen.«

»Dann bräuchte er falsche Papiere. Eine Transportmöglichkeit. Geld. Eine Verkleidung.«

»Mit anderen Worten«, sagte White, »er hätte Hilfe von außen gebraucht.«

»Glauben Sie, dass er die gehabt hat? Wie sollte das gehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist ein beinahe unglaublicher Zufall, wenn in einer Nacht gleichzeitig die Hauptstromversorgung und der Notgenerator ausfallen. Und wie es einem Häftling möglich sein soll, aus einem Hochsicherheitsgefängnis des Militärs zu spazieren … nun, das versetzt einen schon in Erstaunen, oder? Und wie erklären Sie sich, dass ein unbekannter Toter in der Zelle Ihres Bruders lag? Woher kommt die Leiche, verdammt?«

»Hat man schon die Todesursache ermittelt?«

»Falls ja, hat man es mir nicht mitgeteilt.«

»Glaubt die Gefängnisleitung, dass Bobby … dass mein Bruder den Mann getötet hat?«

»Ich habe keine Ahnung, welche diesbezüglichen Theorien es gibt.«

»Was meinen Sie, Sir? Hatte Robert Hilfe von innerhalb und außerhalb des Gefängnisses?«

»Sie sind der Ermittler, Puller. Was glauben Sie?«

»Keine Ahnung. Es ist nicht mein Fall.«

Don Whites Stimme wurde nachdrücklicher. »Und es wird nie Ihr Fall sein. Halten Sie sich während Ihres Urlaubs von diesem verdammten Schlamassel fern. Mir reicht ein Puller, der Probleme bis zum Stehkragen hat. Haben Sie verstanden?«

»Ich habe verstanden«, antwortete Puller, fügte aber in Gedanken hinzu: Ich stimme nur nicht mit dir überein.

Er beendete das Gespräch und beobachtete, wie sein fetter Kater, Unab, ins Zimmer geschlichen kam, aufs Bett sprang und den Kopf an seinem Arm rieb. Puller streichelte das Tier, hob es hoch und drückte es an seine Brust.

Sein Bruder saß seit mehr als zwei Jahren im DB. Nach einem im wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozess war Robert von den Geschworenen, allesamt Offizierskameraden, verurteilt worden. So funktionierte das Militär nun mal. Es vergingen niemals Jahre, wie in manchen Zivilfällen, um einen Fall wie diesen zu verhandeln, und es gab auch keine endlosen Berufungen. Und die Medien hatte man größtenteils am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Für zivile Schickimicki-Anwälte, die mehr Interesse an fetten Honoraren und am Verkauf von Buch- und Filmrechten hatten als daran, für Gerechtigkeit zu sorgen, war bei solch einem Prozess kein Platz. Die Uniformträger hatten alles unter sich ausgemacht und die Fronten früh und gründlich geklärt. Natürlich wurde auch schmutzige Wäsche gewaschen, wenn man eine Uniform trug, doch sie wurde niemals auf einer Wäscheleine aufgehängt, damit alle sie sehen und riechen konnten. Stattdessen wurde sie in einer Mülldeponie begraben, die sich als Gefängnis tarnte.

Puller war nicht einmal beim Prozess gewesen, sondern Tausende von Meilen entfernt auf einem CID-Einsatz im Nahen Osten, wo er die Hälfte der Zeit Soldat gespielt und ein Gewehr auf die Feinde der USA gerichtet hatte. Der Army waren seine familiären Probleme gleichgültig. John Puller musste eine Mission ausführen und führte sie aus. Als er in die Staaten zurückkam, saß sein älterer Bruder bereits im Gefängnis, wo er den Rest seines Lebens bleiben würde.

Oder auch nicht, wie es im Moment aussah.

Puller zog sich aus, ging unter die Dusche und ließ das Wasser auf sich herunterprasseln, während er die Stirn gegen die feuchten Wandfliesen drückte. Noch immer ging sein sonst so ruhiger Atem schnell und unregelmäßig.

Er konnte nicht akzeptieren, dass Bobby aus dem Gefängnis geflohen war. Denn dafür gab es nur einen zwingenden Grund: Eine Flucht bedeutete, dass Bobby tatsächlich schuldig war.

Das hatte Puller niemals glauben oder akzeptieren können. Es lag einfach nicht in ihrer DNA. Pullers waren keine Verräter. Sie hatten für ihr Land gekämpft und geblutet und waren dafür gestorben. Sie konnten ihre Herkunft bis in die Zeit George Washingtons zurückverfolgen. Corporal Walter Puller war gestorben, als 1863 Picketts Angriff auf Gettysburg abgewehrt wurde. Ein anderer Ahnherr, George Puller, war 1918 in einer englischen Sopwith Camel über Frankreich abgeschossen worden. Er war mit dem Fallschirm abgesprungen und hatte überlebt, starb jedoch vier Jahre später beim Absturz eines Testflugzeugs. Mindestens zwei Dutzend Pullers hatten im Zweiten Weltkrieg bei allen erdenklichen Waffengattungen gekämpft. Viele von ihnen waren nicht in die Heimat zurückgekehrt.

Wir kämpfen für unser Land. Wir verraten es nicht.

Puller drehte das Wasser zu, trocknete sich ab und ging gedanklich noch einmal das Gespräch mit seinem befehlshabenden Offizier durch. Der CO hatte ein gutes Argument vorgebracht. Es war ein unglaublicher Zufall, dass in derselben Nacht sowohl Stromversorgung als auch Notgenerator ausfielen.

Und wie hätte Robert ohne Hilfe entkommen können? Das DB war eines der sichersten Gefängnisse, die man jemals gebaut hatte. Noch nie war jemandem die Flucht gelungen. Noch nie.

Und doch hatte sein Bruder es anscheinend geschafft.

Und einen Toten im Kielwasser zurückgelassen, den niemand identifizieren konnte.

Puller zog frische Zivilkleidung an. Nachdem er Unab nach draußen gelassen hatte, damit er im Sonnenschein und an der frischen Luft herumstreunen konnte, ging er zu seinem Wagen.

Nun musste er doch eine Fahrt machen.

Zu einem Ort, den er genauso hasste wie die Schlachtfelder des Nahen Ostens. Aber er musste dorthin. Er konnte sich vorstellen, wie die Laune seines Vaters sein würde, wenn er begriffen hatte, was geschehen war. Wahrscheinlich war nicht einmal George Patton – eine andere militärische Legende, die berüchtigt war für ihre Wutausbrüche – so schlimm gewesen wie John Puller senior, wenn er angepisst war. Dann wurde es für alle, die sich in Hörweite befanden, laut und unangenehm.

Puller stieg in die weiße Limousine, die ihm die Army zur Verfügung gestellt hatte, ließ den Motor an, kurbelte die Fenster herunter, damit sein kurzes Haar schneller trocknete, und fuhr los.

So hatte er seinen ersten Tag, nachdem er einen anderen Soldaten in einer Gasse niedergeschossen hatte, nicht verbringen wollen. Aber in seiner Welt war nichts vorhersehbar.

Auf dem Weg zu John Puller senior, Drei-Sterne-General im Ruhestand, lächelte er ein wenig verkrampft bei dem Gedanken, dass er jetzt gern die Panzer von Pattons Dritter Armee als Eskorte gehabt hätte. Vielleicht würde er die Panzerung und Feuerkraft dringend brauchen.