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Pine warf ihren Seesack in eine Ecke ihres Wohnzimmers und ließ den Blick durch die kleine, spartanisch eingerichtete Zweizimmerwohnung am Rand von Shattered Rock schweifen. Das Städtchen war so winzig, dass das Zentrum nur einen Steinwurf entfernt war. Das Haus mit seinen drei Etagen wurde von recht unterschiedlichen Mietern bewohnt. Es gab nur noch ein weiteres dreistöckiges »Hochhaus« in Shattered Rock – ein Hotel, das hauptsächlich von Besuchern des Grand Canyon frequentiert wurde.
Atlee Pine war in einem kleinen Ranchhaus im ländlichen Georgia aufgewachsen. Seit sie von zu Hause ausgezogen war, hatte sie nie in etwas Größerem als einer Zweizimmerwohnung gelebt. Pine hatte keine Zimmerpflanzen, keine Haustiere und keine Hobbys, die darauf warteten, dass sie sich ihnen widmete, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Zwar sollte nach gängiger Meinung die Arbeit nicht der einzige Lebensinhalt sein, doch für Pine gab es nur den Job, und damit konnte sie gut leben.
Nachdem sie Mercy verloren hatte, war sie einer Therapie unterzogen worden. Als verunsichertes, traumatisiertes Mädchen von sechs Jahren hatte sie die Sitzungen als verwirrend und beängstigend erlebt, und sie hatten ihr letztlich kein bisschen über ihren Schmerz hinweggeholfen.
Vor vier Jahren hatte sie es noch einmal versucht. Mit genau dem gleichen Ergebnis. Sie hatte im Kreis der Gruppe gesessen und den anderen Teilnehmern zugehört, wenn diese bei ihrem Seelenstriptease ihre Erlebnisse offenlegten. Als Pine an der Reihe war, hatte sie einen Schweißausbruch bekommen und nicht mehr den Mut aufgebracht, ihr persönliches Drama vor den anderen auszubreiten – sie, die ansonsten furchtlose FBI-Agentin, die ein paarmal angeschossen und mit dem Messer attackiert worden war. Nach der Sitzung hatte sie die Gruppentherapie abgebrochen.
Aus irgendeinem Grund hatte Pine eine Abneigung gegen Besitz entwickelt. Sie wollte mit möglichst wenig Gepäck durchs Leben gehen. Das schloss Menschen mit ein. Ein Psychotherapeut würde es vielleicht so interpretieren, dass sie Angst vor einem weiteren Verlust hatte, womit er möglicherweise gar nicht verkehrt läge. Doch Pine hatte sich nie eingehend genug mit ihrer eigenen Psyche beschäftigt, um herauszufinden, ob an dieser Theorie etwas dran war.
Sie duschte, um den Schweiß und Schmutz der stundenlangen Suchaktion im Grand Canyon loszuwerden, zog frische Sachen an und setzte sich an ihren Küchentisch aus knotigem Kiefernholz, den sie mitsamt der Wohnung übernommen hatte und der zugleich als Ess- und Schreibtisch diente.
Als Erstes checkte sie ihre E-Mails und SMS und entdeckte eine Nachricht von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten in Flagstaff. Er wollte wissen, wie sie mit den Ermittlungen vorankam. Pine stellte fest, dass die Nachricht nicht nur an sie gegangen war, sondern noch an etwa ein Dutzend andere. Zwei davon standen in der Nahrungskette weit über Pines Vorgesetztem, die anderen Namen kannte sie nicht.
Man hatte ihr den Fall nur übertragen, weil der Grand Canyon sich im Bundesbesitz befand und für die Regierung von besonderer Bedeutung war. Pines FBI-Büro in Shattered Rock war im Grunde ausschließlich für das Gebiet des Grand Canyon zuständig. Als Pine hierher versetzt worden war, hatte sie sich von Anfang an um ein gutes Verhältnis zum National Park Service, zur örtlichen Polizei und zu den indianischen Ureinwohnern in der Gegend bemüht – keine einfache Sache, doch sie hatte nicht lockergelassen und die Einheimischen mit ihrer Aufrichtigkeit und ihrem Engagement überzeugt.
Sie machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich wieder an ihren Laptop und googelte nach »Capricorn Consultants«, der Firma des vermissten Ben Priest. Das Ergebnis war eine lange Liste von Einträgen, aber nichts, was auf eine Vertragsfirma des Verteidigungsministeriums hinwies.
Sie schickte eine Mail an den Ranger Colson Lambert mit der Frage, ob es auch wirklich der Name der Firma sei, bei der Priest beschäftigt war, und woher er die Information habe.
Lambert antwortete wenige Minuten später, er habe den Namen und das Tätigkeitsfeld des Unternehmens von Priests Bruder erhalten.
Pine warf einen Blick auf die Uhr. An der Ostküste war es bereits kurz nach elf Uhr abends. Wahrscheinlich zu spät, um Priests Bruder anzurufen.
Sie wandte sich wieder der E-Mail aus dem Büro in Flagstaff zu und las noch einmal die Namen derjenigen, die diese Mail in Kopie bekommen hatten. Kurz entschlossen loggte sie sich in die FBI-Personaldatenbank ein, um sich genauer über diese Personen zu informieren.
Sie furchte ungläubig die Stirn, als das Foto und die entsprechenden Hintergrundinformationen eines der Adressaten auf dem Bildschirm erschienen.
Peter Steuben?
Wie konnte es sein, dass dieser Mann sich für einen solchen Fall interessierte?
Immerhin war Steuben der Chef der National Security Branch, kurz NSB – jene Abteilung des FBI, die für die nationale Sicherheit zuständig war. Die NSB war 2005 ins Leben gerufen worden, als man dem Kampf gegen den Terrorismus als Konsequenz aus dem 9/11-Anschlag oberste Priorität eingeräumt hatte. Die NSB war in mancher Hinsicht die wichtigste Abteilung des FBI, da sie es mit den vielfältigen Bedrohungen aufnehmen musste, mit denen die USA heute weltweit konfrontiert waren.
Und nun wurde der Chef dieser Abteilung per E-Mail über einen Fall informiert, in dem es um ein totes Maultier ging.
Und möglicherweise um einen vermissten Mann, der für ein Unternehmen arbeitete, das nicht zu existieren schien. Andererseits legte so manche Vertragsfirma des Verteidigungsministeriums keinen großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden und eine auffällige Website zu betreiben.
Pine hatte im Laufe ihrer FBI-Karriere einige Zeit an der Ostküste gearbeitet. Dabei hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die Kollegen auf der anderen Seite des Mississippi zu einem großen Teil konservative, engstirnige Beamtentypen waren, die nicht einsehen wollten, dass die Regeln und Strategien, die in New York und Washington angewendet wurden, sich nicht eins zu eins auf den Südwesten der USA übertragen ließen. Pine selbst wusste nur zu gut, warum das nicht funktionieren konnte: Es gab im Westen spezielle Faktoren, die es zu berücksichtigen und zu respektieren galt und die eine besondere Vorgehensweise notwendig machten.
Hier draußen besaß so gut wie jeder eine oder mehrere Waffen, und man begegnete der Regierung in Washington grundsätzlich mit einer gesunden Skepsis. Hinzu kam, dass man in den schier endlosen Weiten des Westens den ganzen Tag herumfahren konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Es war eine Landschaft, die bisweilen an einen unbewohnten Planeten erinnerte.
Doch Pine hatte es längst aufgegeben, mit den Kollegen von der Ostküste über dieses Thema zu diskutieren. Sie konzentrierte sich auf ihren Job und forderte Unterstützung nur an, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.
Doch wenn die NSB sich für ihren aktuellen Fall interessierte, kam sie mit dieser Strategie vermutlich nicht weit. Sie stellte sich vor, wie ein Trupp zackiger FBI-Agenten mit Jersey-Akzent aus dem Hubschrauber stieg und ihr höflich, aber bestimmt zu verstehen gab, sie habe nichts mehr mit diesem Fall zu tun.
Von diesem Gedanken angetrieben, schaute sie erneut auf die Uhr und beschloss, ihr Glück zu versuchen.
Sie tippte die Nummer ein, die Lambert ihr gegeben hatte, und wartete, als es am anderen Ende klingelte.
Beim zweiten Läuten meldete sich eine vorsichtige Stimme: »Ja?«
»Mr. Priest?«
»Ja?«
»Edward Priest?«
»Ja, wer spricht?«
»Special Agent Atlee Pine vom FBI in Arizona.«
»O mein Gott, es geht um Ben, nicht wahr? Er ist tot … Himmel, nein … Großer Gott!«
Pine hörte, wie der Mann zu schluchzen anfing.
»Nein, Mr. Priest«, sagte sie. »Deshalb rufe ich nicht an. Ich ermittle zwar wegen des Verschwindens Ihres Bruders, aber wir haben ihn noch nicht gefunden. Wir können also durchaus davon ausgehen, dass er am Leben ist.«
Das Schluchzen des Mannes verstummte, sein Atem beruhigte sich. »Meine Güte, Sie haben mir einen Heidenschreck eingejagt. Warum rufen Sie so spät noch an?«
»Dafür entschuldige ich mich, aber in einer solchen Situation darf man keine Zeit verlieren. Sie haben einem Kollegen von mir erzählt, die Firma Ihres Bruders heißt Capricorn Consultants.«
»Ja.«
»Das Unternehmen ist im Beltway zu Hause?«
»Ja!«
»Können Sie mir die Adresse oder Kontaktdaten der Firma geben?«
Priest zögerte einen Moment. »Kontaktdaten?«
»Ja. Anschrift, Rufnummer … irgendetwas.«
»Da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Mein Bruder hat mir nur erzählt, dass die Firma so heißt. Und dass er sich ein neues Betätigungsfeld gesucht habe.«
»Wann war das?«
Priests Stimme war schroff gewesen; nun wurde sie misstrauisch. »Warum ist das so wichtig? Er ist im Grand Canyon verschwunden, nicht in Washington, D.C.«
»Ich habe im Zuge der Ermittlungen nach Informationen über die Firma Ihres Bruders gesucht, nur scheint es in Washington kein Unternehmen dieses Namens zu geben.«
Schweigen. Schließlich sagte Priest: »Ich … ich glaube, es ist sechs Monate her, dass er es mir erzählt hat.«
»Sie waren nie bei Ihrem Bruder im Büro?«
»Nein.«
»Hat er irgendwann einmal über seine Arbeit gesprochen?«
»Er … er hat mal diesen Scherz gemacht, mit dem Leute, die für die Regierung arbeiten, deutlich machen, dass sie nicht darüber sprechen können.«
»Sie meinen, wenn er es Ihnen sagt, müsste er Sie töten?«
»Genau.«
»Verstehe.«
»Was geht hier vor, Agentin Pine?«
»Da bin ich mir noch nicht sicher. Können Sie mir ein bisschen mehr über Ihren Bruder erzählen? Seine Ausbildung, Jugend, Familie …«
»Das habe ich doch schon alles Ihrem Kollegen erzählt.«
»Es würde mir sehr helfen, wenn Sie es auch mir erzählen.«
Pine hörte einen langen Seufzer, ehe Priest zu sprechen begann. »Wir sind hauptsächlich an der Ostküste aufgewachsen, aber oft umgezogen. Unser Vater war bei der Navy. Er ist als O-7 in den Ruhestand gegangen.«
»Als Admiral.«
»Genau. Waren Sie auch ein Navy-Kind?«
»Nein, aber ich weiß es von Freunden, deren Väter bei der Navy waren. Was können Sie mir sonst noch sagen?«
»Ben war … ist mein jüngerer Bruder. Wir haben zwei ältere Schwestern. Ben wohnt in Alexandria, Virginia. Eine Schwester lebt in Florida, die andere in Syracuse.«
»Ich habe gehört, Ihr Bruder ist unverheiratet.«
»Stimmt, er wollte sich nie binden. Seine Arbeit ist sein Leben.«
»Welche Ausbildung hat er?«
»Er hat an der Georgetown University studiert.«
»Politikwissenschaft?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Einfach nur geraten. Können Sie mir seine Adresse geben?«
»Hören Sie, ich will Ihnen ja gerne helfen, aber woher soll ich wissen, dass Sie wirklich die sind, die Sie zu sein behaupten?«
»Colson Lambert vom National Park Service hat Sie bereits kontaktiert. Ich kann Ihnen meine Dienstnummer geben und eine Telefonnummer beim FBI, unter der Sie sich nach mir erkundigen können. Sie können mich dann morgen unter dieser Nummer zurückrufen.«
Priest schwieg einen Augenblick. »Schon okay«, sagte er dann. »Warum sollten Sie mich anrufen, wenn Sie nicht vom FBI wären.«
Da würden mir schon ein paar Gründe einfallen, dachte Pine, behielt es jedoch für sich.
Priest nannte ihr die Adresse seines Bruders.
»Sie haben also auch nichts von Ben gehört?«, fragte sie.
»Nein. Soll ich zu Ihnen kommen? Ich hatte Lambert schon gefragt, ob ich mich ins nächste Flugzeug setzen und rüberfliegen soll …«
»Ich halte es für besser, wenn Sie vorläufig zu Hause bleiben. Falls es Neuigkeiten gibt, melde ich mich sofort bei Ihnen. Sie können mich auch jederzeit anrufen, wenn Sie Fragen haben oder Ihnen noch etwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte.«
»Glauben Sie, Bens Verschwinden hat irgendwie mit seiner Arbeit zu tun?«
»Ausschließen kann ich es nicht. In diesem Stadium der Ermittlungen muss man jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Glauben Sie, er ist tot?«
»Ich glaube gar nichts. Im Moment wissen wir einfach nicht genug. Trotzdem möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die sich in einer solchen Situation aufdrängt: Hatte Ihr Bruder Feinde?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Haben Sie schon mit Ihren Schwestern gesprochen?«
»Bis jetzt noch nicht. Sollte ich?«
»Ja. Es wäre möglich, dass Ihr Bruder sie kontaktiert hat.«
»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Aber ich bin sicher, er würde zuerst mich anrufen. Wir wohnen nicht so weit auseinander.«
»Reden Sie trotzdem mit Ihren Schwestern, nur um sicherzugehen. Sie müssen ja nicht erwähnen, was passiert ist. Fragen Sie einfach beiläufig, ob sie in letzter Zeit von Ihrem Bruder gehört haben.«
»Okay. Ich lasse es Sie wissen, falls er sich bei einer der beiden gemeldet hat.«
»Danke, Mr. Priest. Das ist mir eine große Hilfe.«
»Glauben Sie, Sie finden Ben?«
»Ich werde tun, was ich kann. Ach ja, eine Bitte noch. Haben Sie ein neueres Foto von Ihrem Bruder, das Sie mir schicken können?«
»Ja. Er war vor ein paar Wochen bei der Geburtstagsfeier meiner Frau. Es ist ein Foto von ihr mit uns beiden, Ben und mir. Ich maile es Ihnen gleich.«
»Großartig, danke.« Pine nannte ihm ihre E-Mail-Adresse und beendete das Gespräch.
Eine Minute verging, dann erschien das Foto in ihrem E-Mail-Eingang.
Sie öffnete die Mail und betrachtete das Bild, das drei Personen zeigte: einen hochgewachsenen, mindestens eins neunzig großen, schlanken Mann. Das musste Edward Priest sein. In der Mitte stand seine Frau; neben ihr ein kleinerer, stämmiger Mann mit Brille: Ben Priest.
Pine überlegte sich noch ein paar Fragen und beschloss, Edward Priest noch einmal anzurufen.
»Das Foto ist angekommen, danke. Zwei kurze Fragen hätte ich noch. Auf dem Foto trägt Ihr Bruder eine Brille. Benutzt er manchmal auch Kontaktlinsen?«
Priests Antwort stellte Pines bisherige Annahmen auf den Kopf und machte sie für einen Moment sprachlos.
»Nein, Agentin Pine, Sie verwechseln uns. Ich bin der mit der Brille. Ben ist der Große auf der anderen Seite.«