20

Das am Südrand des Grand Canyon gelegene El Tovar Hotel war 1905 eröffnet worden. Es war nach einem spanischen Entdecker benannt und gehörte zu einer Hotelkette, die ursprünglich von der Fred Harvey Company betrieben worden war. Das Hotel lag nur wenige Meter vom Rand des Canyons entfernt und war in rustikalem Stil aus Colorado-Kalkstein und Kiefernholz aus Oregon gebaut. Das Gebäude hatte flache Giebeldächer und wies eine Vielzahl architektonischer Details wie Erker, Türme und Veranden auf. Im Inneren war es eine Mischung aus Jugendstil, indianischem Design, Blockhütte und Jagdzimmer. Der hintere Speisesaal bot eine atemberaubende Aussicht auf den Canyon.

Ed Priest stieg die breite Vordertreppe zum Hotel hinauf. Es war kurz vor einundzwanzig Uhr, doch draußen war es immer noch warm, obwohl die Sonne längst hinter dem westlichen Horizont versunken war.

Rasch durchquerte er die Lobby und ging weiter zum Speisesaal an der Rückseite des Gebäudes. Dort nannte er dem Oberkellner seinen Namen und wurde zu einem Tisch im hinteren Teil des Saales geführt. Zu dieser Stunde waren nicht mehr viele Gäste zum Essen hier.

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt.

Priest setzte sich, schaute sich um, sah auf seine Uhr und spielte nervös mit der Serviette.

Die Kellnerin kam an seinen Tisch. Priest sagte ihr, er wolle mit der Bestellung warten, bis seine Verabredung gekommen sei.

Zehn Minuten vergingen. Priests Unruhe wuchs. Er kaute an den Fingernägeln, ohne seine Umgebung aus den Augen zu lassen, und schob nervös Messer und Gabel hin und her.

»Eddie?«

Priest blickte auf und sah eine hochgewachsene Frau, die auf ihn herunterschaute.

Einen Moment lang war er verwirrt, doch als er die Frau genauer betrachtete, fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Ben?«

»Nicht so laut, Eddie. Ich hab gute Ohren.«

Benjamin Priest trug eine blaue Hose, eine langärmelige weiße Bluse, eine beige Leinenjacke und flache Pumps. Auf seinem Kopf saß eine dunkle Perücke, und sein Gesicht war dezent geschminkt. Dazu trug er eine getönte Brille.

Er setzte sich an den Tisch und legte seine Handtasche auf den Stuhl neben ihm.

»Du hast von Verkleiden gesprochen, aber so was hab ich nun wirklich nicht erwartet«, zischte Ed ihm zu.

»Das ist ja der Zweck der Übung«, erwiderte Ben. »Dass niemand damit rechnet.«

»Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen.« Pine kam an den Tisch und setzte sich Ben gegenüber.

Ben Priest zuckte zusammen und wollte aufspringen, doch Pine legte ihre FBI-Dienstmarke auf den Tisch und öffnete ihre Jacke, sodass ihre Waffe zu sehen war.

»Immer mit der Ruhe, Ben«, sagte sie.

Priest setzte sich langsam wieder hin.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»FBI, dein Freund und Helfer. Nachdem wir das geklärt hätten, können Sie mir sicher verraten, was hier vor sich geht.«

»Sie haben nicht die nötige Sicherheitsfreigabe.«

»Wenn ich sie nicht habe, dürfte Ihr Bruder sie erst recht nicht haben. Und wenn Sie ihm nicht sagen dürfen, was Sache ist, warum sind Sie dann gekommen?«

»Es ist kompliziert …«

»Das ist mir schon klar.«

»Ich kann hier nicht darüber sprechen.«

»Aber Sie wollten sich hier mit Ihrem Bruder treffen.«

Ben schaute sich nervös um. »Draußen. Im Wagen. Aber ich warne Sie – Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich einlassen.«

»Deswegen bin ich ja hier. Um mir Klarheit zu verschaffen.«

»Sind Sie wirklich vom FBI

Pine hielt mit einer Hand ihre Dienstmarke hoch und zückte mit der anderen ihren Ausweis.

Ben studierte beides; dann sagte er: »Draußen.«

Als sie zur Eingangstür gingen, blickten Ben Priest und Pine sich wachsam um. Pine achtete besonders darauf, ob jemand sie beobachtete, und sei es nur aus dem Augenwinkel. Doch es waren nur noch wenige Gäste da, dazu eine Handvoll Hotelmitarbeiter. Ed Priest hingegen hielt seinen Blick nach vorn gerichtet.

Pine ging voraus, öffnete die Eingangstür und trat ins Freie. Sie schaute sich einen Moment um; dann nickte sie den beiden Männern zu.

»Wo steht Ihr Wagen?«, fragte sie Ben.

»Da drüben auf dem Parkplatz. Der hellgrüne Explorer.«

»Gut. Geben Sie mir den Schlüssel, ich fahre.«

»Wohin?«, fragte Ben verwirrt.

»Nur ein bisschen durch die Gegend, damit wir reden können. Vor allem Sie. Kommen Sie.«

Ben ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, Ed stieg hinten ein. Pine setzte sich ans Lenkrad und ließ den Motor an.

»Fangen Sie ganz vorne an«, sagte sie, als sie vom Parkplatz fuhr und auf die Straße abbog, die vom Nationalpark wegführte. »Capricorn Consultants?«

»Gibt es nicht.«

Ed meldete sich von hinten zu Wort. »Was? Aber … du hast doch gesagt, du hättest eine Firma gegründet, die so heißt.«

Ben drehte sich zu seinem Bruder um. »Tut mir leid, Eddie, das lässt sich in der Branche nicht vermeiden.«

»Welche Branche?«, hakte Pine nach. »Geheimdienst?«

»Da war ich früher mal«, antwortete Ben.

»Auf unserer Seite?«

»Das ist nicht so einfach.«

»Für mich schon«, hielt Pine dagegen. »Falls Sie als Spion für eine fremde Regierung arbeiten, haben wir ein Riesenproblem.«

»Scheiße, Ben, bitte sag mir, dass es nicht so ist«, rief Ed aufgebracht.

»Ich kann für bestimmte Interessen außerhalb dieses Landes arbeiten, ohne gegen dieses Land zu arbeiten. Auch Verbündete können zu Feinden werden. Und manchmal muss man sich mit einem vermeintlichen Feind verbünden, wenn es die Situation erfordert. Die Welt verändert sich ständig.«

»Arbeiten Sie für einen unserer Verbündeten oder für die Gegenseite?«

»In letzter Zeit arbeite ich für mich selbst, nachdem ich für Uncle Sam und andere tätig war. Es ist ein guter, ehrlicher Job.«

»Okay, weiter«, drängte Pine.

»Ich habe mich selbstständig gemacht.«

»Was genau machen Sie?«

»Ich helfe meinen Klienten, knifflige Dinge zu organisieren.«

»Und was organisieren Sie? Zum Beispiel, dass ein Typ auf einem Maultier durch einen Canyon reitet und sich als Sie ausgibt?«

»Sie haben doch sicher von Geldwäsche gehört, oder?«

»Nicht bloß davon gehört«, erwiderte Pine. »Ich habe selbst in einigen Fällen von Geldwäsche ermittelt.«

»Aber Geld ist nicht das Einzige, was man weißwaschen kann. Das Gleiche kann man mit Personen machen.«

»Indem man ihnen eine neue Identität verschafft? Damit sie sozusagen von der Bildfläche verschwinden?«

»So ungefähr«, bestätigte Priest.

Pine sah ihm an, dass er log, beschloss jedoch, fürs Erste mitzuspielen. »Ich habe den Mann erwähnt, der den Muliritt in den Canyon gemacht hat. Er ist verschwunden. Man hat nur das tote Muli gefunden – mit zwei ins Fell geschnittenen Buchstaben: J und K

Ben ließ langsam den Atem entweichen. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«

Pine hatte das Gefühl, dass er diesmal die Wahrheit sagte.

»Hatten Sie es so geplant, dass der Mann auf einem Maultier in den Canyon reitet und dann mitten in der Nacht verschwindet?«

»Ja.«

»Was genau war der Plan?«

Ben schüttelte den Kopf. »Darüber kann ich nicht reden.«

»Wissen Sie, wo der Mann jetzt ist?«

Wieder schüttelte Ben den Kopf. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört.«

»Weiß unsere Regierung, was er tut?«

Keine Antwort.

Pine ließ nicht locker. »Die Abteilung für nationale Sicherheit des FBI interessiert sich brennend dafür. Haben Sie das gewusst?«

Ben nahm seine Brille ab und wischte sich über die müden Augen. »Sagen wir mal so – es überrascht mich nicht.«

»Schon wieder eine Antwort, mit der ich nichts anfangen kann«, sagte Pine verärgert. »Sie haben mir so gut wie nichts Konkretes gesagt. So langsam verliere ich die Geduld.«

»Du musst mit Agentin Pine zusammenarbeiten, Ben!«, drängte Ed. »Meine Familie …«

»Ich weiß, Eddie. Ich kann’s nicht ändern.«

»Du hast uns in die Sache reingezogen!«

»Nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Das hast du dir selbst eingebrockt. Du hättest dich raushalten sollen, dann hätten sie dich in Ruhe gelassen.«

»Ich habe doch nur versucht, dich zu erreichen, als du plötzlich verschwunden warst. Was hast du denn erwartet, wie ich darauf reagiere?«

Ben deutete auf Pine. »Du hast mit ihr gesprochen. Mit dem FBI. Das haben die natürlich mitgekriegt.«

»Wer hat es mitgekriegt?«, hakte Pine sofort nach.

Wieder schwieg Ben.

»Sie hat mich angerufen«, rechtfertigte sich Ed. »Was hätte ich denn tun sollen?«

»Scheiße, das bringt uns nicht weiter«, sagte Ben. »Fahren Sie zurück zum Parkplatz. Ich muss weiter.«

»Sie gehen nirgendwohin«, stellte Pine klar. »Entweder Sie arbeiten mit mir zusammen, oder ich nehme Sie fest.«

»Mit welcher Begründung?«

»Behinderung und Irreführung der Justiz. Die Suche nach Ihnen hat schon Tausende Dollar gekostet. Unsere Einsatzkräfte haben wertvolle Zeit verschwendet, in der sie anderen hätten helfen können.«

»Das ist doch Schwachsinn! Das wissen Sie selbst!«

»Das wird dann ein Richter beurteilen. Besser wäre allerdings, wenn Sie endlich meine Fragen beantworten, damit wir der Sache auf den Grund gehen können.«

»Wer hat denn gesagt, dass ich der Sache auf den Grund gehen will?«, rief Ben wütend. »Oder dass ich den Wunsch habe, dass Sie das tun?«

»Sie haben Ihren Bruder und seine Familie in große Gefahr gebracht. Das müssen Sie wiedergutmachen.«

»Ich muss gar nichts.«

»Ben!«, rief Ed entgeistert. »Wir sind doch eine Familie.«

Ben wandte sich ihm zu. »In diesem Fall hat etwas anderes Vorrang. Die Sache ist zu groß. Tut mir leid, Eddie, aber es ist nun mal so.«

»Du Mistkerl!«, ereiferte sich Ed. »Und dich finden alle so großartig! Du egoistischer Bastard.«

Pine hörte den beiden kaum noch zu. Sie befanden sich auf einem abgelegenen Straßenabschnitt. Es war völlig dunkel, sie sah keine Lichter hinter sich.

Dennoch schrillte ihre innere Alarmglocke.

Irgendetwas stimmte nicht.

In diesem Moment sah sie den heranjagenden Schatten im Augenwinkel.

»Festhalten!«, schrie sie gellend.

In der nächsten Sekunde wurde der Explorer mit solcher Wucht gerammt, dass die Hinterräder von der Fahrbahn gehoben wurden. Der Wagen landete so hart auf dem Asphalt, dass es sie von den Sitzen gerissen hätte, wären sie nicht angeschnallt gewesen. Der Aufprall löste alle Airbags aus.

Der Wagen kam von der Straße ab, donnerte über das Kiesbett auf einen Grasstreifen zu, an dessen Ende eine Wand aus Bäumen aufragte.

Pine riss das Lenkrad herum, um die Kontrolle über das Fahrzeug wiederzuerlangen, doch es schlingerte haltlos über das Kiesbett und den Grasstreifen.

»Festhalten!«, rief sie.

Im nächsten Augenblick prallten sie gegen die Wand aus Bäumen. Doch Pines verzweifeltes Lenkmanöver hatte im letzten Moment dafür gesorgt, dass der Wagen nicht mit der vollen Breitseite gegen die Bäume krachte, sondern nur mit dem linken vorderen Kotflügel.

Da die Airbags bereits geöffnet waren, knallte Pine mit dem Kopf gegen die Scheibe, ehe sie bewusstlos zurück in den Sitz geschleudert wurde.

Sie bekam nicht mehr mit, wie der Tank barst.

Augenblicke später loderten auf einer Seite des Wagens Flammen hoch.