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Der Grand Canyon hatte allen Bemühungen getrotzt.
Die Leichensuchhunde hatten nichts gefunden.
Sollte mich eigentlich nicht wundern, dachte Pine.
Der Canyon war fast 280 Meilen lang und bis zu achtzehn Meilen breit, außerdem durch unzählige Spalten und Nischen zerklüftet. In einem solchen Gelände war ein Toter nicht so leicht zu finden. Was natürlich auch daran liegen konnte, dass es keinen Toten gab.
Lambert hatte Pine am frühen Morgen in einer SMS über die erfolglose Suche informiert.
Pine verfügte nicht über die nötigen Ressourcen, um jeden Zentimeter des Canyons abzusuchen. Außerdem war da noch der Colorado River, der – teils mit roher Gewalt, teils mit feiner Klinge – den harten und weicheren Fels bearbeitet hatte, der den Canyon umgab. Dieser Fluss war dafür verantwortlich, dass es überhaupt einen Canyon gab. Falls der falsche Ben Priest in den reißenden Colorado gestürzt war, trieb seine Leiche mittlerweile vielleicht schon durch Mexiko.
Pine zog ihre Sportkleidung an und schnappte sich einen Seesack mit frischen Sachen, den sie am Vorabend gepackt hatte. Dann stieg sie in ihren SUV und fuhr los.
Die Fahrt zum Fitnessstudio dauerte zehn Minuten. Es gab kaum einen Weg in Shattered Rock, für den man länger als zehn Minuten benötigte. Wenn man mehr als ein Auto auf der Straße sah, konnte man sicher sein, dass man in die Rushhour geraten war.
Pine parkte den Wagen am Bordstein und stieg aus. Es war sechs Uhr morgens, und noch war von der bevorstehenden Hitze des Tages nichts zu spüren. Doch die Sonne war bereits aufgegangen und würde die Luft rasch erwärmen. Dann hatte jede Bewegung im Freien, die schneller als in langsamem Schritttempo vollzogen wurde, unweigerlich einen Schweißausbruch zur Folge. Es würden noch zwei Monate vergehen, bis die Tageshitze auf ein erträgliches Maß gesunken war.
Als Pine das Studio betrat, nickte sie dem Besitzer grüßend zu. Er hieß Kenny Kuni und stammte von der hawaiischen Insel Maui. Bei einer Größe von etwas über eins siebzig brachte er mehr als hundert Kilo auf die Waage.
Kenny nickte zurück. Er war gerade am Squat Rack zugange und hatte die Hantelstange mit so vielen Scheiben vollgepackt, dass sie sich bog. Sein Shirt war schweißgetränkt von seinem Kampf mit den Gewichten, und seine Shorts spannten sich über den braun gebrannten Schenkeln.
Es war ein Fitnessstudio der alten Schule, ohne Schnickschnack, nur mit den grundlegenden Geräten für Leute, die wussten, was sie wollten: trainieren und schwitzen.
Kenny war der Überzeugung, dass eine Klimaanlage in einem Fitnessstudio nichts verloren hatte. Es gab lediglich zwei Bodenventilatoren, die einen Hauch warme Luft hin und her bliesen. Wer in Kennys Studio nicht schwitzte, sollte schleunigst seine Drüsen und Poren untersuchen lassen.
Es waren noch zwei andere Stammkunden anwesend – ein großer schwarzer Kerl Mitte fünfzig mit Waschbrettbauch und ein stämmiger Weißer in den Vierzigern, der regelmäßig trainierte, um die Folgen einer Kniearthroskopie zu überwinden. Pine kannte die Namen der Männer nicht und hatte auch nie danach gefragt. Sie kannte bloß ihre Trainingsprogramme, so wie die beiden wahrscheinlich über ihr Pensum Bescheid wussten. Die Stammkunden kamen nicht ins Studio, um zu quatschen. Sie waren hier, um möglichst viel Gewicht zu bewegen. Dafür sparten sie ihre ganze Energie, denn wenn man die Übungen korrekt ausführte, hatte man keine Puste mehr zum Reden.
Pine zog ihr Sweatshirt aus, unter dem sie nur ein Tanktop trug, sodass ihre vier Tätowierungen zum Vorschein kamen. Auf einen Deltamuskel war das Symbol des Tierkreiszeichens Zwillinge tätowiert. Es entsprach der römischen Ziffer 2, mit einem gekrümmten Querstrich oben und unten. Auf dem anderen Deltamuskel trug sie das astrologische Symbol für den Planeten Merkur, der das Zwillingszeichen beherrschte. Das Zeichen des Merkur bestand aus einem Kreuz unter einem Kreis, auf dem oben ein Halbkreis saß.
Auf beiden Armen schließlich, beginnend am Unterarm, zogen sich bis hinauf zu den Deltamuskeln die Worte »No Mercy«.
Gemini – Zwillingsschwestern. Pine hatte sich die Tätowierungen auf dem College zugelegt. In ihrer Zeit als Gewichtheberin hatte man sie oft danach gefragt, da die Tattoos bei jedem Wettkampf zu sehen waren. Pine hatte ihre Bedeutung nie jemandem erklärt. Die Tätowierungen waren für sie und Mercy, für niemanden sonst.
Nachdem sie sich aufgewärmt hatte, arbeitete Pine mit einer Wut und Verbissenheit an den Gewichten, in der sich ihr Frust über die aktuelle Ermittlung entlud.
Zuerst standen mehrere Serien Bankdrücken auf dem Programm, auf der Flachbank ebenso wie auf der Schrägbank. Es folgten Schulterdrücken, Squat Rack, Kreuzheben, Wadenheben, einarmige Liegestütze, Klimmzüge, Dips, Bauchmuskeltraining mit dem Medizinball sowie Schwungübungen mit der Kugelhantel, zuerst acht Kilo, dann fünfzehn. Es folgte ein nicht minder schweißtreibendes isometrisches Krafttraining, auch wenn sie dabei nichts anderes tat als dazustehen, ohne sich zu bewegen. Weiter ging es mit Kraft- und Balanceübungen: Lunges und Deep Squats, Liegestütze mit erhöhten Beinen, Crunches für die Bauchmuskeln und zuletzt Seilspringen, jedes fünfte Mal mit gekreuzten Armen.
Nun wurde es Zeit für die eigentliche Herausforderung. Alles andere war bloßes Aufwärmen gewesen. Dass sie sich schon ein wenig müde fühlte, war ihr nur recht.
Pine packte Scheiben auf eine Hantelstange, rieb sich die Hände mit Magnesia ein und beugte sich tief über das Gewicht, beide Hände um die Stange geschlossen.
Sie war relativ groß für eine Gewichtheberin, was zugleich Vorteil und Nachteil war. Rein physikalisch gesehen hatte ein kleinerer Mensch einen kürzeren Weg mit dem Gewicht zu bewältigen. Zudem waren kürzere Muskeln in der Regel explosiver. Dafür bildeten Pines längere Muskeln enorme Hebel, die ihr zugutekamen.
Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihre Aufgabe wie eine professionelle Athletin. Als sie innerlich bereit war, folgte jener Sekundenbruchteil, in dem es ganz auf die richtige Dynamik ankam. Mit einer plötzlichen Bewegung riss sie das Gewicht bis in Brusthöhe, balancierte den Körper aus und holte mehrmals tief Atem. Der erste Teil war geschafft. Jetzt galt es, die Stange mit explosiver Kraft hoch über den Kopf zu stoßen und das Gewicht mit ausgestreckten Armen zu fixieren.
Pine hielt einen Moment inne; dann wuchtete sie die Stange hoch und drückte die Arme durch. Ein rascher Ausfallschritt, ein kaum merkliches Schwanken, und sie stand sicher.
Ein gelungener Stoßversuch.
Entgegen einer weit verbreiteten Annahme ging es beim Gewichtheben um weit mehr als nur um rohe Kraft. Pine hatte des Öfteren beobachtet, wie muskelbepackte Männer, die viel stärker waren als sie, an Gewichten scheiterten, die sie selbst ohne Probleme zur Hochstrecke brachte. Natürlich musste man stark sein, aber genauso wichtig war die Technik. Dabei kam es auf blitzartiges Beschleunigen und ein exaktes Timing der Abläufe an, um die schweren Scheiben dorthin zu befördern, wo man sie haben wollte.
Pine ließ die Hantelstange sinken. Die Gewichte prallten klirrend auf den Boden und federten ein paar Zentimeter hoch. Mit einer Hand hielt sie die Stange fest und fixierte sie am Boden – eine tausendfach geübte Bewegung.
Jetzt das Reißen.
Pine nahm ein paar Scheiben von der Stange, um das Gewicht zu verringern, konzentrierte sich erneut auf ihre Atmung und rieb sich dabei die Hände mit Magnesia ein. Für diese zweite Disziplin legte sie lederne Handgelenkbandagen an, da beim Bewegungsablauf enorme Kräfte auf die Gelenke einwirkten. Nur so konnte sie verhindern, dass es ihr die Stange aus den Händen riss.
Okay, und jetzt hol dir das Gold! Oder wenigstens einen Platz in der verdammten Olympiamannschaft. Zumindest in deinen Träumen.
Entschlossen packte sie die Stange mit weit ausgebreiteten Armen, sodass die Hände beinahe die Scheiben an beiden Enden berührten, und ging hinter der Stange in eine tiefe Hocke. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, das Gewicht in einer einzigen explosiven Bewegung hoch über ihren Kopf zu reißen, wobei der Hintern nur Zentimeter über dem Boden blieb. Es war kein natürlicher Bewegungsablauf; umso größer war die erforderliche Kraft und Konzentration. Man durfte sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Wer das Reißen erfunden hatte, musste ein kranker Mistkerl gewesen sein.
Es war die Disziplin, mit der Pine immer schon auf Kriegsfuß gestanden hatte – und der Grund, warum sie es nicht zur Olympiade 2004 in Athen geschafft hatte. Athen, Ort der ersten Spiele der Neuzeit im Jahre 1896. Was für ein unvergleichliches Erlebnis das gewesen wäre!
Okay, vergiss es. Die Chance ist vertan und kommt nicht wieder.
Pine atmete langsam und gleichmäßig durch. Es ging darum, den richtigen Augenblick nach dem letzten Ein- und Ausatmen zu erwischen, um das Gewicht über den Kopf zu reißen und zu versuchen, in der Hocke zu bleiben, ohne dass die Stange einen nach hinten riss. Jetzt kam es auf die richtige Kombination von Timing und Technik an – und die Explosivkraft eines Gewichthebers, die für die meisten Menschen unvorstellbar war.
Okay, Mädchen, jetzt gilt’s. Du packst das. Eins … zwei …
Drei!
Sie öffnete die Augen, riss die Stange hoch und verharrte in einer tiefen Hocke, die Arme V-förmig über dem Kopf, den Hintern knapp über dem Boden.
Sehr gut, Atlee.
Aber noch war es nicht geschafft. Nun galt es, den Körper mitsamt dem Gewicht aus der Hocke in den Stand hochzudrücken.
Jetzt!
In dem Moment, als Pine sich aufzurichten versuchte, liefen die Dinge aus dem Ruder. Ein Zittern im rechten Oberschenkel, ein leichtes Nachgeben im linken Trizeps, nur eine Winzigkeit …
Aus.
Blitzschnell ließ sie ihre Last nach hinten wegkippen. Krachend und scheppernd prallten Stange und Gewichte auf den Boden.
Pine plumpste auf den Hintern und saß schwer atmend da. Schweiß lief ihr übers Gesicht, tropfte ihr auf die Brust.
Chance vertan.
Der Schwarze mit dem Waschbrettbauch und der Weiße mit der Knieoperation waren längst verschwunden.
Aber Kenny Kuni war noch da.
»Alles in Ordnung?«, rief er in beiläufigem Tonfall, während er vorne am Empfangstisch Papierkram erledigte.
Pine nickte und streckte den Daumen hoch.
Als sie sah, wie Kenny sich wieder seiner Arbeit zuwandte, fluchte sie leise: »Scheiße.« Denn nichts war in Ordnung, gar nichts. Die mentalen Abläufe hatten nicht gestimmt. Sie hatte einen kurzen Augenblick gezögert, hatte im entscheidenden Sekundenbruchteil den Mut verloren.
Scheiße.
Seufzend stand sie auf und begann mit Yoga- und Pilates-Übungen, mit denen sie ihr Programm stets ausklingen ließ. Es fühlte sich gut an, die Muskeln und Sehnen zu dehnen – eine Wohltat nach dem beinharten Krafttraining.
Anschließend duschte sie, zog sich an und ging mit feuchten Haaren zu ihrem Wagen.
Die Zeit, die heute ihr gehörte, war abgelaufen.
Der Rest des Tages gehörte dem FBI.