31
»Brauchen Sie noch Eis, Agentin Pine?«
Blum stand draußen vor der Badezimmertür.
Pine saß in der Wanne, die sie zum Teil mit Eiswürfeln gefüllt hatte.
»Nein danke«, rief sie zurück.
»Sie haben mir immer noch nicht erzählt, was passiert ist.«
Pine bewegte vorsichtig ihre Arme und Beine in dem Eisbad. »Später. Ich brauche noch ein bisschen Zeit.«
Inzwischen war das Gefühl in ihr linkes Bein zurückgekehrt, doch die Schmerzen waren höllisch.
»Soll ich Ihnen was zu essen oder zu trinken bringen?«
»Ein Bier wäre nicht schlecht.«
»Ein Bier? Es ist sieben Uhr morgens.«
»Okay, dann zwei Bier. Danke.«
Pine hörte Blum davongehen und ließ sich zurück ins Eis sinken. Sie würde nur noch wenige Minuten in der Wanne sitzen können. Das Eis war zwar hilfreich gegen die Schmerzen und die Schwellung, aber jeder Mensch hatte irgendwo seine Grenzen, zumal sie sich in den letzten drei Stunden mehrmals dieser Behandlung unterzogen hatte.
Als Blum zurückkam und an die Tür klopfte, erhob Pine sich langsam aus dem Eisbett, hüllte sich in ein Badetuch, öffnete die Tür und nahm eine der zwei Bierdosen entgegen, die ihre Assistentin ihr hinhielt.
»Sie sehen echt zum Fürchten aus«, meinte Blum. »Ihr Gesicht ist geschwollen, das linke Auge ist fast zu, die Lippe aufgesprungen. Und Sie bewegen sich, als wären Sie hundert Jahre alt. Sind Sie wieder in eine Schlägerei geraten oder von einem Hausdach gefallen?«
»Es fühlt sich an wie beides zusammen«, murmelte Pine, während sie sich auf den Toilettendeckel setzte und einen großen Schluck Bier nahm. Dann steckte sie ein paar Eisstücke in einen Waschlappen und hielt ihn sich ans Gesicht.
»Das zweite Bier kriegen Sie, wenn Sie mir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Blum und hielt die Dose hoch.
Pine schaute zu ihr und nickte. »Setzen Sie sich, es kann ein Weilchen dauern.«
Blum kauerte sich auf den Rand der Badewanne und schaute ihre Chefin erwartungsvoll an.
Pine schilderte ihr, was sich zugetragen hatte – von dem Moment, als sie in Priests Haus eingedrungen war, bis zu der Abreibung, die der Asiate ihr verpasst hatte.
»Der Kerl war der Beste, der mir je untergekommen ist«, sagte sie. »Er wusste in jeder Situation die richtige Antwort. Da reichen meine Kampfkünste bei Weitem nicht.«
»Aber am Ende haben Sie ihn doch besiegt«, warf Blum ein.
Pine hustete, zuckte zusammen, stellte die Bierdose ab und fasste sich an die Seite. »Wie ein Sieg fühlt es sich aber nicht an.«
Sie stand auf, öffnete den Medizinschrank, nahm ein Fläschchen heraus, schluckte vier Schmerztabletten mit Wasser aus dem Hahn und setzte sich wieder auf den Toilettendeckel.
»Dieser Speicherstick«, sagte Blum, »haben Sie schon reingeschaut?«
Pine schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, dass wir etwas Brauchbares finden.«
»Was immer drauf ist, muss für Priest wichtig sein, sonst hätte er den Stick nicht so gut versteckt.«
»Darauf zähle ich.«
»Und sonst gab es nichts Aufschlussreiches in dem Haus?«
Pine schüttelte den Kopf. »Rein gar nichts.«
»Soll ich Ihnen was zu essen machen?«
»Nicht nötig. Ich schaue nur noch schnell nach, was auf dem Speicherstick ist, dann gönne ich mir eine Mütze voll Schlaf. Gott sei Dank wirkt das Eis. Die Schwellung geht zurück.«
Pine stand auf und ging vorsichtig in ihr Zimmer, nachdem sie heißes Wasser in die Wanne hatte laufen lassen, damit das Eis schmolz. Sie schlüpfte in eine Jogginghose, schnappte sich Laptop und USB-Stick und zog sich in die Küche zurück, wobei sie sich die Eispackung weiterhin ans Gesicht drückte.
Blum stellte ihr eine Tasse heißen Tee auf den Tisch. »Pfefferminztee. Hilft gegen alles und jedes.«
»Mag sein, aber das Bier lässt mich leichter vergessen, was mir vorhin passiert ist.«
»Die Pfefferminze tut Ihnen besser. Na los, trinken Sie.«
Pine legte den Eisbeutel beiseite und nahm ein paar Schlucke Tee, dann fuhr sie den Laptop hoch und steckte den Speicherstick in den USB-Port.
Nachdem Pine die notwendigen Tasten gedrückt hatte, um den Stick zu öffnen, starrten beide Frauen auf das leere Eingabefeld, das auf dem Bildschirm erschien.
»Verdammt«, rief Pine wütend. »Natürlich passwortgeschützt.« Sie schüttelte den Kopf. »Und dafür hab ich mir in den Arsch treten lassen.«
»Keine Chance, das Passwort zu knacken?«
»Vielleicht, falls Priest irgendwas Persönliches gewählt hat. Aber wenn es ein computergeneriertes Passwort ist, braucht man eine gewaltige Rechenleistung.«
»Vielleicht fällt uns was ein. Haben Sie eine Ahnung, wer die zwei Männer im Haus waren?«
»Nein, aber das werde ich schon noch herausfinden.«
Sie griff zu ihrem Handy und rief die Fotos auf, die sie von den Waffen der Angreifer geknipst hatte.
»Solche Pistolen habe ich noch nie gesehen. Vielleicht lässt sich online etwas finden.«
Blum wirkte skeptisch. »Wir wurden schon einmal gehackt. Kann man uns nicht über Ihren Computer ausfindig machen?«
»Theoretisch ja, deshalb benutze ich eine Spielart des VPN.«
»VPN?«
»Virtual Privat Network. Damit bewegen sich die eigenen Daten in einem abgesicherten Tunnel, und ich kann das Web praktisch anonym nutzen.«
Pine rief eine Datenbank für Pistolen auf. Seite um Seite scrollte sie nach unten und schaute dabei immer wieder auf die Fotos, die sie geschossen hatte, um Vergleiche anzustellen. Plötzlich hielt sie inne. »O Mann!«
»Was ist?«
»Einen Moment …«
Sie scrollte weiter, bis sie zu einem Foto gelangte, das die andere Pistole zeigte. Sie schaute zu Blum hoch. »Kein Wunder, dass ich die Waffen nicht erkannt habe.«
»Wieso?«
»Nummer eins ist eine MP-443 Grach, Nummer zwei eine GSh-18.«
»Keine amerikanischen Pistolen, oder?«
»Nein, russische. Die Grach wird von der Polizei benutzt, die GSh vom Militär.«
Die beiden Frauen warfen einander unbehagliche Blicke zu, bis Blum trocken feststellte: »Die Russen, wer sonst. Von denen sind wir ja nichts anderes gewohnt.«
Pine schüttelte den Kopf. »Was hat Moskau mit einem toten Muli im Grand Canyon zu tun?«
Darauf wussten sie beide keine Antwort.
»Sie sollten jetzt ein bisschen schlafen, Agentin Pine, dann sind Sie bald wieder fit. Ich glaube, für diesen Job hier müssen Sie in Höchstform sein.«
»Wir beide.«
Pine ging in ihr Zimmer und zog sich aus, da sogar der leichte, flauschige Jogginganzug auf ihrem geschundenen Körper schmerzte. Sie warf einen Blick auf ihre Bauchdecke, die von einem großen, gelblich-blauen Fleck verunziert wurde; dann tastete sie an ihrem Bein entlang bis zu der Stelle, an der ihr Gegner sich mit seinem schmerzhaften Griff aus der Umklammerung befreit hatte. Noch immer spürte sie ein unangenehmes Kribbeln. Offenbar hatte der Kerl mit seinem Finger einen Nerv gequetscht, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn besaß.
Vorsichtig legte sie sich ins Bett, den Eisbeutel immer noch ans Gesicht gedrückt. In der anderen Hand hielt sie ihre Glock. Ihre geprellten Rippen protestierten mit grellem Schmerz, als sie mehrmals tief durchatmete.
Sie schloss die Augen, ließ ihre Gedanken zurück zu den beiden Männern in Priests Haus wandern.
Zwei Russen.
Und dann war da der andere Kerl, diese Regenschirm schwingende asiatische Kampfmaschine …
Was hatte er noch mal gesagt? Dass sie ihn irgendwohin begleiten solle, damit er ihr dort ihre prekäre Lage verdeutlichen könne.
Wie hatte der Kerl sie überhaupt gefunden? Hatte er das Haus überwacht und sie hineingehen sehen? Oder hatte er sie beim Verlassen des Hauses beobachtet und war ihr gefolgt?
Wahrscheinlich Letzteres. Beim Hineingehen hatte sie sehr darauf geachtet, nicht gesehen zu werden.
Arbeitete der Kerl mit den beiden anderen Typen zusammen?
Aus irgendeinem Grund glaubte Pine das eher nicht.
War er vielleicht sogar ein Gegner der beiden Russen?
Letztere waren eindeutig Killer, die ihre Anweisungen ausführten. Der Asiate schien ihr mehr zu sein als ein gewöhnlicher Vollstrecker.
Pine legte den Eisbeutel weg, streckte den Arm aus und nahm ihre Dienstmarke vom Nachttisch. Ihr war jedes noch so kleine Detail der metallenen Oberfläche vertraut. Damals, als ihr die Marke nach der Ausbildung in Quantico ausgehändigt worden war, hatte Pine sie die ganze Nacht in der Hand gehalten und betastet, als würde sie Blindenschrift lesen.
Die Gestalt der Justitia drückte das aus, was Pine am wichtigsten war: Gerechtigkeit. Wobei sie nicht in allgemeinen Kategorien dachte, sondern mehr an Recht und Unrecht auf persönlicher Ebene. An den Einzelnen. Denn wenn man den einzelnen Menschen außer Acht ließ, blieb das große Ganze nichts als eine leere Floskel.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Die Marke in der einen Hand, die Glock in der anderen.
Beide unerlässlich in ihrem Job. Vielleicht auch, was ihre Identität betraf.
Was wäre ich ohne diese beiden Dinge? Das hilflose kleine Mädchen aus Andersonville, Georgia?
Pine schloss die Augen und formte mit den Lippen jene Worte, die sie seit fast dreißig Jahren immer wieder flüsterte.
Ich werde dich nie vergessen, Mercy. Niemals.