24
Pine schaute in den Badezimmerspiegel und kämmte ihre Haare aus.
Sie hatte geduscht und das eingetrocknete Blut von der Schläfe abgewaschen. Ihr Kopf dröhnte immer noch von dem harten Aufprall, vielleicht auch von den Medikamenten, die man ihr gegen die Gehirnerschütterung gegeben hatte.
Sie hatte den Verband durch ein Pflaster ersetzt, das von ihren dunklen Haaren verdeckt wurde.
Behutsam schob sie die Haare auf der anderen Kopfseite nach hinten und betrachtete die Narbe, die von einer anderen Wunde geblieben war.
Eine Wunde aus ferner Vergangenheit.
Die bleibende Wunde, die ihr der Mann zugefügt hatte, der ihre Schwester verschleppt hatte.
Draußen war es bereits dunkel. Blum hatte Pine zum Grand Canyon gefahren, wo Pines SUV geparkt war. Danach waren beide ins Büro zurückgekehrt und hatten den Rest des Tages gearbeitet.
Pine wandte den Blick vom Spiegelbild ihrer Narbe an der Schläfe ab, zog ihr Handy hervor und studierte das Gesicht auf dem kleinen Display. Es war das Phantombild, das Jennifer Yazzie für sie angefertigt hatte. Es zeigte den vermissten Mann, den falschen Ben Priest – zumindest so, wie Mark Brennan, der Maultierführer, sich an ihn erinnerte.
Möglicherweise wäre es hilfreich gewesen, das Bild durch ein Gesichtserkennungsprogramm laufen zu lassen, doch wenn Pine mit ihren FBI-Zugangsdaten darauf zugriff, würden ihre Vorgesetzten es mit Sicherheit mitbekommen.
Und wenn Clint Dobbs es ernst meinte, wäre ihre Laufbahn beim FBI damit beendet. Somit war ihr dieses Bild im Moment keine Hilfe, es sei denn, sie fand eine Möglichkeit, wie sie diese Spur verfolgen konnte, ohne sich zu verraten. Irgendeinen Weg musste es geben.
Sie legte das Handy weg und fuhr mit dem Finger über die Narbe.
An dieser Stelle war damals ihr Schädel gebrochen.
Ein sechsjähriges Mädchen mit einem Schädelbruch. Ihr Zustand war sehr ernst gewesen, zumal sie die ganze Nacht bewusstlos mit einem Schädel-Hirn-Trauma in ihrem Bett gelegen hatte.
Doch Pine hatte sich nie darüber beklagt. Sie hatte noch Glück gehabt.
Mercy nicht.
Pine wollte endlich Gewissheit haben, ob Daniel James Tor wirklich der Täter gewesen war, ob er ihre Schwester entführt und getötet hatte. Pine musste es wissen, um irgendwie damit abschließen und ein klein wenig Frieden finden zu können.
Sie hatte sich gerade ausgezogen, um ins Bett zu gehen, da klingelte ihr Handy.
Es war Sam Kettler.
»Sorry, dass ich so spät noch anrufe«, sagte er.
»Kein Problem. Was gibt’s?«
»Ich hab mich nur gefragt, ob Sie vielleicht Zeit für ein Bier hätten.«
»Ich glaube nicht, dass Tony’s Pizzeria noch offen hat«, sagte sie.
»Das wäre kein Problem. Ich bin vielleicht zwanzig Minuten von Ihrer Wohnung entfernt und dachte mir, wir könnten noch ein bisschen abhängen. Es ist ein so schöner Abend.«
Pine schwieg. Sie war im Begriff, sich auf etwas einzulassen, das sie sehr leicht ihre Laufbahn beim FBI kosten konnte.
Echt kein gutes Timing.
»Ist schon okay, Atlee«, fügte er rasch hinzu. »Es war dumm von mir, so spät noch anzurufen. Ich weiß gar nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich …«
»Nein, es ist okay. Kommen Sie vorbei. Ein Bier wäre nicht schlecht.«
Ein Bier kann wirklich nicht schaden. Wer weiß, wann sich wieder eine Gelegenheit ergibt.
»Sind Sie sicher? Ich will Sie zu nichts drängen. Ich komme mir ziemlich aufdringlich vor.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden schon sehen, dass ich gegen Druck jeder Art immun bin. Aber das Bier trinken wir lieber in Ihrem Jeep. Meine Wohnung ist gerade nicht so präsentabel.«
»Klar, kein Problem. Ich wollte mich sowieso nicht selbst einladen. Ich dachte mir, vielleicht können wir uns auf die Treppe setzen oder so.«
Sie lächelte. »Ganz altmodisch, klar.«
Sie nannte ihm die Adresse und zog Shorts und ein T-Shirt an. Vom Fenster aus hielt sie nach ihm Ausschau. Als sie ihn kommen sah, ging sie nach unten, ohne sich vorher die Mühe zu machen, Schuhe anzuziehen. Das stellte sich als keine gute Idee heraus, da der Asphalt noch die Hitze des Tages gespeichert hatte.
Sie setzten sich in seinen Jeep und öffneten zwei gut gekühlte Flaschen Bier. Auch jetzt, kurz vor elf, hatte es immer noch über fünfundzwanzig Grad.
»Verdammt, ist das gut.« Pine leerte die halbe Flasche in einem Zug.
Kettler lächelte und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus. »Die einfachen Dinge im Leben, stimmt’s?« Er schaute sie an und zog die Stirn in Falten. »Sie haben sich verletzt?«
Er deutete auf das Pflaster unter ihrem Haar, das durch eine jähe Kopfbewegung zum Vorschein gekommen war.
Sie fasste sich an die Schläfe. »Da war ich nur ein bisschen ungeschickt.«
»Sieht Ihnen gar nicht ähnlich.«
»Sie würden sich wundern. Aber es ist nicht schlimm, Sam.«
Er nickte und druckste einen Moment herum, als wolle er etwas sagen.
»Was ist?«, fragte sie.
Den Blick auf das Lenkrad gerichtet, sagte er: »Morgen Abend … also, da ist ein Konzert in Phoenix. Ich hab mit einem Kollegen getauscht, damit ich die Tagschicht machen kann und den Abend frei habe. Santana. Hätten Sie Interesse?«
Er schaute zu ihr.
Pine wusste nicht recht, was sie sagen sollte. »Ähm … danke für die Einladung, aber morgen geht es wirklich nicht. Tut mir leid.«
Er blickte rasch zur Seite. »Kein Problem. So kurzfristig … ich weiß gar nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Er lachte leise. »Ich wollte immer Gitarre spielen wie Carlos Santana. Ich und wahrscheinlich eine Million andere Jungs. Das Problem ist nur, ich treffe kaum einen Ton, selbst wenn ich nur leise summe.«
»Ein andermal, okay?«
»Klar, gern.«
Einige Augenblicke schauten sie schweigend durch die Windschutzscheibe.
Pine fühlte sich ein bisschen unwohl in ihrer Haut. Ihre Gedanken waren gespalten. Teils waren sie bei dem Mann neben ihr, teils aber schon bei der bevorstehenden Reise.
Kettler wirkte ebenfalls ein wenig reserviert, nachdem sie seine Einladung abgelehnt hatte.
Pine räusperte sich und versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, hier im Grand Canyon zu arbeiten?«
Die Frage riss ihn aus seiner momentanen Verlegenheit. »Es ist einfach eine wunderbare Gegend. Ich meine nicht nur die geologischen Besonderheiten, das Gelände, das Wandern und alles. Auch die unglaubliche Geschichte des Ortes. Hier ist so viel Interessantes entstanden.«
»Zum Beispiel?«
»Haben Sie schon mal von Maasaw gehört?«
»Nein.«
»Das ist bei den Hopi der Hüter der Welt und zugleich Gott des Todes. Es heißt, dass er hier im Canyon wohnt. Und dann gibt es diese alten Pueblo-Getreidespeicher am Nankoweap Creek. Und Eagle Rock am Eagle Point, ein heiliger Ort der Hualapai. Manche Hopi glauben, dass sich hier im Canyon Sipapu befindet, das Tor, durch das ihre Vorfahren in die vierte Welt gelangt sind.«
»Glauben Sie an diese Dinge?«, fragte Pine überrascht.
Ihre Frage schien ihn ein wenig verlegen zu machen. »Also, manches davon spricht mich schon an. Für mich ist der Canyon viel mehr als ein beliebtes Touristenziel. Es gibt ein Dutzend Pflanzen, die nur hier wachsen. Das Ökosystem entwickelt sich ständig weiter. Mit den Algen im Colorado sind die Flusskrebse gekommen, die wiederum Forellen hergelockt haben, und die den Weißkopfseeadler. Das ist einer der wenigen Vögel, die sich im Winter im Flussgebiet aufhalten.« Kettler tippte sich an die Schläfe. »Sehen Sie, es ist, als wäre da eine Intelligenz am Werk. Der Canyon lebt und atmet. Ist das nicht cool?«
Pine lächelte. »So wie Sie es erklären, ist es wirklich cool. Ich habe wieder eine neue Seite an Ihnen kennengelernt, Mr. Kettler.«
»Ich habe an meinem Arbeitsplatz immer eine Garnitur Sportklamotten. Wenn ich frei habe, gehe ich wandern oder laufe eine Runde. Manchmal klettere ich auch ein bisschen.«
»Klettern?«
»Ja. Ich war mal Army Ranger, da ist Klettern eine Grundvoraussetzung. Heute mache ich es als Hobby. Ich habe immer ein Kletterseil dabei, hab schon eine Menge Berge bestiegen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Würde Ihnen vielleicht auch gefallen.«
»Wer weiß? In der richtigen Gesellschaft.« Sie lächelte und knuffte ihn kumpelhaft mit dem Ellbogen.
Kettler zog die Stirn in Falten und wirkte plötzlich sehr ernst.
»Stimmt was nicht?«, fragte Pine.
»Ich will ganz ehrlich sein. Es gibt noch einen Grund, warum ich heute Abend vorbeikommen wollte.«
Pine richtete sich auf. »Welchen?«
»Colson Lambert und Harry Rice.«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie wurden versetzt.«
»Was? Wohin?«
»In den Zion-Nationalpark in Utah. Mit sofortiger Wirkung. Eine ziemliche Katastrophe für sie. Beide haben Kinder, die hier zur Schule gehen. Sie müssen ihre Familien vorläufig hier zurücklassen, bis die Dinge geregelt sind.« Er sah sie fragend an. »Offenbar wussten Sie das noch nicht.«
»Ich hatte keine Ahnung.«
»Hat es irgendwie mit dem Muli zu tun? Das wäre ziemlich verrückt, aber es ist das einzig Ungewöhnliche, das in letzter Zeit vorgefallen ist. Ich meine …« Seine Stimme verebbte.
»Gut möglich, Sam. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich.«
»Sie können nicht darüber sprechen, oder?«
»Nein, kann ich wirklich nicht.«
»Schon okay. Aber ich dachte mir, Sie sollten das mit Lambert und Rice wissen.«
»Ja, da bin ich Ihnen wirklich dankbar.«
Sie schwiegen eine Weile, bis Pine sagte: »Falls Sie irgendwann mal über etwas reden wollen …«
»Zum Beispiel?«
»Ihre Zeit in der Army.«
»Ich bin nicht mehr in der Army, das ist Vergangenheit. Ich schaue lieber nach vorn.«
Pine dachte an ihre eigene persönliche Situation. »Manchmal ist man erst so richtig frei, wenn man sich den Dingen aus der Vergangenheit stellt.«
»Das stimmt wohl. Aber ich war nun mal Soldat, so wie viele andere auch. Ich komme schon zurecht.«
»Okay.«
Sie wünschten einander eine gute Nacht, mit einer Umarmung, die nicht ganz so flüchtig war wie die vor Tony’s Pizzeria.
Pine spürte, wie Kettlers kräftige Finger sich durch das dünne T-Shirt hindurch sanft in ihre Haut drückten. Sie atmete seinen Duft ein, eine Mischung aus Schweiß, Seife und Shampoo. Einen Moment lang fühlte sie sich leicht und schwebend; dann aber fiel ihr ein, was sie morgen vorhatte, und der Gedanke drückte tonnenschwer auf ihr Gemüt.
Sie löste sich aus der Umarmung und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Danke für das Bier. Und die Einladung fürs Konzert. Es bedeutet mir viel.«
»Jederzeit gerne«, gab er zurück und strich mit der Hand über ihren nackten Arm. »Ich freue mich schon auf das nächste Mal.«
Sie ging zurück zu ihrer Wohnung und sprang mit ihren nackten Füßen über den heißen Asphalt, bis sie den kühleren Gehsteig erreichte. Als sie sich umdrehte, grinste Kettler.
Sie schaute auf ihre nackten Füße hinunter. »Ganz schön dämlich, was?«
»Wenn das dämlich sein soll, stört es mich kein bisschen. Ist sogar verdammt schön.«
Zwei Minuten, nachdem sie Kettler hinterhergeschaut hatte, wie er mit seinem Jeep davonfuhr, ließ sie sich aufs Bett fallen.
Hat er »verdammt schön« gesagt?
Mehrmals ertappte sie sich dabei, dass sie lächelnd an die halbe Stunde mit Kettler zurückdachte. Doch dann kam ihr erneut mit voller Wucht zu Bewusstsein, was vor ihr lag, und ihr Lächeln schwand.
Es war schon ein seltsamer Zufall.
Ausgerechnet jetzt, wo es plötzlich jemanden gab, mit dem sie gern Zeit verbrachte, drängte sich ihr Beruf dazwischen und sorgte dafür, dass sich eine Kluft zwischen ihnen auftat, so breit wie der Grand Canyon.
Du hast gewusst, worauf du dich einlässt, als du die Dienstmarke angenommen hast.
Am nächsten Morgen stand sie um sieben Uhr auf, griff zum Telefon und rief Carol Blum an.
»Wir treffen uns in einer Stunde im Büro.«
»Alles klar. Sie haben schon recht – bevor Sie in Urlaub gehen, sollten wir Ihre alten Fallakten in Ordnung bringen.«
»Sehe ich auch so.«
»Wohin geht die Reise?«
»Ich mache einen Wanderurlaub am Mount Nebo in Utah. Ich muss in die Natur, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hab schon gepackt und fahr dann gleich vom Büro aus los. Ich werde zwei Wochen weg sein. Flagstaff übernimmt so lange für mich, es ist alles geregelt. Das Büro ist offiziell geschlossen, solange ich nicht da bin. Also können Sie sich auch einmal erholen.«
»Dann besuche ich meine Tochter in Los Angeles. Sie hat gerade ihr Baby zur Welt gebracht, und ich hatte noch gar keine Gelegenheit, meine neue Enkeltochter zu verwöhnen.«
Pine setzte eine Sonnenbrille auf und fuhr zum Büro. Sie parkte in der Tiefgarage und nahm die Treppe zum Aufzug.
Blum erwartete sie bereits mit frischem Kaffee.
Um acht Uhr abends ging die Garagentür hoch, und Pines schwarzer SUV fuhr heraus, bog rechts ab und fuhr in Richtung Highway. Blums Prius folgte dicht hinter ihr, bog dann jedoch in die entgegengesetzte Richtung ab.
Zwei SUV setzten sich in Bewegung. Einer folgte Pines SUV, der andere Blums Prius.
Um Mitternacht öffnete sich die Garagentür erneut.
Diesmal fuhr der 1967er Mustang heraus, das Verdeck ebenso geschlossen wie die Fenster.
Pine saß am Lenkrad, Blum auf dem Beifahrersitz. Pine war gekleidet wie immer: Jeans, langärmliges Baumwollhemd und Windjacke. Blum hatte Rock, Jacke und Pumps gegen Hose und Sweater getauscht.
Beide hatten ausreichend Bargeld von ihren Konten abgehoben, weil Kreditkarten in dieser Situation nicht infrage kamen.
In der Tiefgarage stand nun ein anderes Auto unter der Plane, die normalerweise den Mustang bedeckte.
Pine bog nach links ab und fuhr zur State Route 89, auf der es in Richtung Süden weiterging.
Das FBI-Büro Shattered Rock hatte sich soeben selbstständig gemacht.