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Pine nahm die Glock und die Beretta auseinander und ließ sich viel Zeit, um jeden Teil der Waffen zu reinigen.

Blum saß ihr am Küchentisch gegenüber.

»Lassen Sie mich raten«, sagte sie. »Das ist Ihre Methode, Stress abzubauen, oder?«

Pine machte weiter, ohne aufzublicken, und schob eine Bürste in den Lauf der Glock.

»Es hilft mir, mich zu konzentrieren«, erklärte sie. »Natürlich baut es auch Stress ab. Wenn du deine Waffe nicht pflegst, kann es dich das Leben kosten.«

Blum nippte an ihrem Tee und schaute sich in der kleinen Küche um. Es war noch früh am Morgen, doch das erste Licht des Tages fiel bereits durch die Fenster.

Beide Frauen wirkten müde und abgespannt. Sie hatten lange gebraucht, um einschlafen zu können.

»Als ich jünger war«, sagte Blum, »wäre ich glücklich und zufrieden gewesen, den ganzen Tag in einer solchen Küche zu stehen und für sechs Kinder zu sorgen.«

Pine hob überrascht den Blick. »Aber das haben Sie doch getan, oder?«

»O ja, ich habe für sechs Kinder gesorgt – aber nicht in einer Küche wie dieser. Wir haben in einem Trailer gewohnt, kaum größer als dieses Zimmer hier. Scott, mein Ex, konnte uns nichts Besseres bieten. Er war zu sehr damit beschäftigt, seinen Lohn zu versaufen – wenn er überhaupt welchen bekam.«

»Wie sind Sie über die Runden gekommen?«

»Ich war eine gute Näherin. Das Nähen hat mir meine Großmutter beigebracht. Ich habe Kleider für einen Laden in der Stadt genäht, in der wir lebten. Außerdem habe ich Kuchen gebacken und verkauft. Und ich habe in verschiedenen Häusern geputzt, wenn die Kinder in der Schule waren. Zwischendurch bin ich sogar mal Taxi gefahren. Ich habe alles Mögliche getan, um mich und meine Kinder durchzubringen.«

»Aber Sie waren doch noch ziemlich jung, als Sie zum FBI kamen, oder?«

»Ich habe mit neunzehn geheiratet. Mit achtundzwanzig hatte ich schon alle sechs Kinder. Ich war praktisch permanent schwanger.« Bevor Pine fragen konnte, wie man in so kurzer Zeit so viele Kinder bekommen könne, fügte Blum hinzu: »Einmal waren es Zwillinge.«

Kaum fiel das Wort »Zwillinge«, senkte Pine den Kopf und machte mit dem Reinigen ihrer Pistolen weiter.

»Als die Kinder alle zur Schule gingen«, erzählte Blum weiter, »las ich von einem Stellenangebot als Sekretärin beim FBI. Ich habe mich spontan beworben. Ich hatte nie zuvor in einem Büro gearbeitet, erst recht nicht in einer Regierungsbehörde, aber ich wollte den Job unbedingt.«

»Warum?«

»Ich habe es als Ehre betrachtet, beim FBI zu arbeiten. Ich muss zugeben, ich hatte starke Zweifel, ob sie mich nehmen würden. Okay, ich hatte den zweijährigen College-Abschluss. Außerdem habe ich immer schon viel gelesen und in den Nachrichten verfolgt, was auf der Welt vor sich geht. Ich wusste, dass ich nicht dumm bin, und ich konnte zupacken. Das Einzige, was mir gefehlt hat, war eine Chance, mich zu beweisen.«

»Warum hatten Sie denn Zweifel, dass man Sie nimmt?«

»Weil ich überzeugt war, dass viel qualifiziertere Frauen sich für die Stelle bewerben. Damals kamen für solche Jobs tatsächlich nur Frauen infrage. Die Männer waren für die Ermittlungsarbeit zuständig, während die Frauen den Papierkram erledigen und Kaffee kochen mussten.« Sie stockte kurz. »Das andere Problem war Scott. Er war in irgendwelche dubiosen Geschichten verwickelt, hart am Rande der Legalität. Mir war klar, dass das FBI meinen Hintergrund checken würde. Ich selbst habe mir nie das Geringste zuschulden kommen lassen. Aber ich wusste, wenn sie Scott überprüfen, hatte ich kaum noch eine Chance.«

»Trotzdem haben Sie den Job bekommen. Obwohl das FBI wahrscheinlich auch mit Ihrem Mann gesprochen hat.«

»Ja. Scott hat sich dabei wirklich anständig verhalten und denen gesagt, ich hätte nichts mit seinen Angelegenheiten zu tun. Und er hat meine Vorzüge gepriesen: fleißig, ehrlich, patriotisch … Sie wissen schon.«

»Also hat Scott am Ende seine Fehler gutgemacht?«

»Nicht ganz.«

Pine legte Waffen und Reinigungswerkzeug weg. »Inwiefern?«

»Eine Woche, nachdem ich den Job bekommen hatte, reichte er die Scheidung ein. Es stellte sich heraus, dass er eine reiche Tusse kennengelernt hatte, dreißig Jahre älter als er. Er hatte ihr irgendwelchen Quatsch erzählt, und verliebt, wie sie war, hat sie ihm alles abgekauft. Oh, Scott hat gut ausgesehen, das muss man ihm lassen, und er konnte charmant sein, wenn er wollte … aber auch ein richtiger Mistkerl, wenn er getrunken hatte. Jedenfalls ist er in ihre große Villa eingezogen und mit ihrem Jaguar herumkutschiert. Aber weil das Geld nun mal nicht ihm gehörte, habe ich keinen Penny Unterhalt bekommen. Das bisschen, was er mir für die Kinder überwies, kam immer mit Verspätung, wenn überhaupt. Nach der Scheidung verriet er mir, er habe mich dem FBI gegenüber nur deshalb in den höchsten Tönen gelobt, damit ich den Job bekäme, sodass ich die Kinder allein versorgen könne, weil er nichts mehr damit zu tun haben wolle.«

»Mussten Sie sich sehr beherrschen, ihn nicht zu erschießen? Ich weiß nicht, ob ich so stark gewesen wäre.«

»Manchmal war ich nahe dran«, räumte Blum ein. »Auf der anderen Seite bin ich froh, dass die Kinder nicht zu ihm kamen. Dann wäre wohl nicht viel aus ihnen geworden.«

»Trotzdem leben Ihre Kinder heute nicht in Ihrer Nähe. Obwohl Sie alles für sie geopfert haben.«

»Nun ja, es war ein toller Job beim FBI, aber nicht besonders gut bezahlt. Also habe ich nebenbei gearbeitet, um über die Runden zu kommen. Manchmal waren es zwei Nebenjobs – da blieb für die Kinder nicht mehr viel Zeit. Ich habe wichtige Ereignisse in ihrem Leben verpasst. Sportveranstaltungen, Schulbälle, sogar eine Abschlussfeier, weil ich nicht freibekam. Das haben sie mir übel genommen. Ich weiß es – sie haben es mir oft genug ins Gesicht gesagt. Vielleicht haben sie sogar mir die Schuld gegeben, dass ihr Dad fortgegangen ist, obwohl er nie viel Zeit mit ihnen verbracht hat.«

»Verdammt ungerecht. Das war sicher nicht leicht für Sie.«

Blum trank ihren Tee aus. »Natürlich nicht. Trotzdem sind sie meine Kinder, und meine Gefühle ändern sich nicht, egal, was sie von mir denken.«

»Was ist aus Scott geworden?«

»Er hat das Geld der Tussi verprasst und sich eine Neue angelacht. Irgendwann wurde er fett und kahl, und seine Masche zog nicht mehr. Später kamen gesundheitliche Probleme dazu. Eines Tages hörte ich, dass er in einem staatlichen Pflegeheim irgendwo an der Ostküste gelandet war. Er hat mich von dort ein paarmal angerufen.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass er einsam sei und sich nach jemandem sehne, mit dem er reden könne.«

»Der hat ja Nerven.«

»Ich habe trotzdem ein paarmal mit ihm gesprochen. Ich meine, was soll’s? Schließlich ist er der Vater meiner Kinder. Und er hat den Preis für sein beschissenes Leben gezahlt. Vor ungefähr einem halben Jahr habe ich erfahren, dass er inzwischen dement ist und sich kaum noch erinnern kann, was gestern war.«

»Vielleicht ist das gar nicht so schlimm für ihn«, meinte Pine gedankenversunken.

»Wie kommen Sie darauf? Er hatte auch schöne Erinnerungen.«

»Ich spreche von den weniger schönen.«

Blum lehnte sich zurück und schaute sie nachdenklich an. »Jetzt habe ich Ihnen in zehn Minuten meine Lebensgeschichte erzählt. Wie war es bei Ihnen?«

»Sie wissen doch schon einiges aus meinen Papieren. Was soll ich noch sagen?«

»Es ist immer besser, Dinge aus erster Hand zu erfahren.«

Pine zuckte mit den Schultern und schwieg.

»Einmal kamen Sie vom Joggen direkt ins Büro. Sie hatten ein Tanktop an, sodass ich diese Tätowierung sehen konnte, das Symbol für Zwillinge.«

»Und?«

»Als ich vorhin meine Zwillinge erwähnte, haben Sie weggeschaut und wieder Ihre Pistolen gereinigt.« Blum blickte auf Pines Arme. »Außerdem tragen Sie die Worte ›No Mercy‹ auf den Unterarmen.«

»Viele haben heute eine Tätowierung.«

»Ja, aber meistens das Übliche. Rosen, Totenköpfe, irgendwelche Schnörkel, was weiß ich. Bei Ihnen hat es eine tiefere Bedeutung.«

»Seit wann sind Sie Psychologin?« Pine ölte die Abzugsfeder ihrer Pistole, ohne aufzublicken.

»Ich bin eine gute Beobachterin. Und eine gute Zuhörerin.«

»Ich brauche niemanden, der mir zuhört.« Pine machte sich daran, die Waffen zusammenzusetzen.

»Daniel James Tor.«

Mit einem Mal zitterten Pines Hände so heftig, dass die Waffenteile leise klimperten.

»Möchten Sie darüber reden?«, fragte Blum.

»Nein. Warum sollte ich?«

»Weil wir zusammen über den Abgrund gesprungen sind. Und wir können nicht wissen, wie es ausgeht. Wir könnten immer noch abstürzen und tief unten im Canyon landen. Wenn man sich gemeinsam auf so etwas einlässt und dabei auch noch gegen das Gesetz verstößt, dann hat man das Recht, ein paar Dinge vom anderen zu erfahren.«

Pine setzte die Beretta zusammen und schob sie ins Holster.

Blum wartete geduldig.

Draußen hatte leichter Regen eingesetzt.

Pine schaute auf die Uhr. »Wenn die Maschine nach Moskau pünktlich gestartet ist, wird Fabrikant bald in München zwischenlanden.«

»Ja«, sagte Blum.

Stille.

Pine räusperte sich. »Also gut. Die Polizei hatte zuerst meinen Vater in Verdacht. Dass er meine Schwester entführt hat, meine ich.«

»Sind Sie sicher, dass er es wirklich nicht getan hat?«

»Dad hatte einen Lügendetektortest bestanden. Er war ein gebrochener Mann, nachdem Mercy fort war. Meine Eltern ließen sich scheiden. Mein Vater … Er hat sich das Leben genommen.«

»Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

»Nicht dass ich wüsste. Mein Dad war nicht der Typ, der vorausgeplant hat. Er hat stets impulsiv gehandelt.«

»Wäre doch möglich, dass ihn Schuldgefühle dazu getrieben haben, sich das Leben zu nehmen«, gab Blum zu bedenken.

»Das glaube ich nicht. Ich meine, er hatte Schuldgefühle, natürlich, aber nicht, weil er Mercy etwas angetan hätte, sondern weil er in der Nacht, als es passiert ist, zu betrunken war, um es zu verhindern.«

»Wie können Sie sicher sein?«

»Ich habe mich einer Hypnose unterzogen, um die Erinnerung zurückzuholen. Was ich gesehen habe, war nicht mein Vater, sondern Daniel James Tor.«

»Sie konnten sich erinnern, wie er Ihre Schwester entführt hat?«

Pine zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Ich weiß nur nicht, ob ich ihn unter Hypnose gesehen habe, weil er es getan hat, oder weil ich wusste, dass er zur Tatzeit in der Gegend war, und eine Antwort auf meine Frage haben wollte.«

»Verstehe.«

»Sie haben von Tor gehört?«

»Natürlich. Ich war schon beim FBI, als sie ihn in Seattle geschnappt haben. Er hatte auch bei uns im Südwesten Frauen und junge Mädchen getötet. Eine in Flagstaff.«

»Außerdem eine in Phoenix und eine in Havasu City. Die drei Tatorte bilden ein Dreieck.«

Blum nickte nachdenklich. »Ja, stimmt, jetzt erinnere ich mich wieder. Der Kerl hatte es mit geometrischen Formen. So haben sie ihn letztendlich erwischt. Was für ein Idiot.«

Pine schüttelte den Kopf. »Er ist verrückt, aber kein Dummkopf.«

»Sie sind ihm begegnet?«

»Ja.«

»Wie war’s?«

»Schlimm«, gestand Pine.

»Hat er zugegeben, Ihre Schwester verschleppt zu haben?«

»Nein. Das hatte ich auch nicht erwartet. Jedenfalls nicht beim ersten Treffen.«

»Beim ersten Treffen? Heißt das, Sie wollen ihn wiedersehen?«

»Das habe ich vor.«

»Zu welchem Zweck?«

»Um die Wahrheit herauszufinden. Vielleicht bin ich naiv, aber Mercys Schicksal ist das Einzige, was mich interessiert.«

»Und wenn Sie es nie erfahren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Irrer wie Tor Ihnen die Wahrheit sagen wird. Für ihn ist es allenfalls ein Spiel, um Sie zu quälen. Dort, wo dieser Mistkerl vor sich hin vegetiert, hat er ja nicht viel anderes.«

»Ich muss es trotzdem versuchen.«

Bevor Blum antworten konnte, summte Pines Handy.

Sie las die Nachricht. Sie stammte von Kurt Ferris, ihrem Bekannten, dem die Wohnung gehörte.

Du musst sofort verschwinden. Die wissen, wo du bist. In zehn Minuten sind sie da.

»Wir müssen los«, stieß Pine hervor. »Schnell.«

Sie schnappten sich ihre noch unausgepackten Taschen und rannten hinaus auf den Parkplatz.

Sekunden später schoss der Mustang aus der Tiefgarage und jagte nach Süden. Pine bog an der nächsten Kreuzung ab, dann noch einmal, und hielt in einer schmalen Gasse.

»Was haben Sie vor?«, fragte Blum.

»Ich will sehen, was passiert.«

Knapp eine Minute später stoppten vier schwarze SUVs vor dem Wohnhaus. An die zwanzig Soldaten in Kampfanzügen sprangen aus den Fahrzeugen und stürmten ins Gebäude.

»War es das, was Sie sehen wollten?«, fragte Blum.

Pine nickte und fuhr los.

»Kurt hat nicht geschrieben, wer hier aufkreuzt. Ich dachte, es wäre das FBI

»Wer immer es ist – es war verdammt knapp. Woher können die gewusst haben, dass wir hier sind?«

»Der Militärgeheimdienst hat seine Augen und Ohren überall. Und hier gibt’s jede Menge Kameras. Zum Glück hat Kurt irgendwie Wind davon gekriegt, sodass er uns warnen konnte.«

»Big Brother schläft nicht«, meinte Blum.

»Und er fährt schwere Geschütze auf.«

»Okay, welche möchten Sie sein?«, fragte Blum.

Pine warf ihr einen fragenden Blick zu, während sie auf den Highway auffuhr. »Was?«

»Thelma oder Louise?«