28
Carol Blum rückte den Innenspiegel in Pines Mustang zurecht, damit sie einen besseren Blick auf das Haus hatte.
Ed Priest hatte es unbestreitbar zu etwas gebracht. Er wohnte mit seiner Familie in einem noblen Viertel in Bethesda, Maryland, in einem zweistöckigen, weiß gestrichenen Backsteinhaus mit gepflegtem Garten, weiten Rasenflächen und einer Garage, die drei Autos Platz bot.
Blum schreckte hoch, als ein Lexus SUV aus der Garage rollte und auf die Straße einbog.
Mary Priest lenkte den Wagen. Hinter ihr saßen zwei Jungen auf dem Rücksitz.
Als der Lexus an ihr vorbeifuhr, konnte Blum durch das offene Seitenfenster einen kurzen Blick auf Marys Profil erhaschen. Ihr Gesicht war blass und verhärmt, die Wangen gerötet.
Die Frau hatte offenbar einiges durchgemacht, und wie es schien, war es noch nicht ausgestanden. Dennoch standen Mary Priest und ihre Familie allem Anschein nach nicht mehr unter Polizeischutz.
Blum fuhr los und folgte Priests Wagen zu einer Hauptverkehrsstraße, die direkt in die Innenstadt von Bethesda führte. Die Kinder waren bereits im Schulalter, doch Mary hatte nach allem, was geschehen war, möglicherweise beschlossen, sie vorerst bei sich zu behalten.
Blum folgte dem Lexus durch den leichten Verkehr, hielt aber einigen Abstand, denn der Mustang war doch ein bisschen auffällig.
Der Lexus stoppte vor einem Gebäude in einer Seitenstraße. Ein großes Schild verriet, dass es sich um eines dieser Lernstudios handelte, die Kinder besuchten, um Mathe, Englisch und andere Fächer zu büffeln. Priest stieg aus und verschwand mit ihren Söhnen im Gebäude, während Blum auf der anderen Straßenseite einen freien Parkplatz fand.
Fünf Minuten später kam Priest wieder zum Vorschein, stieg aber nicht in ihren Wagen. Stattdessen ging sie die Straße hinunter. Blum stieg aus und folgte ihr.
Es war kurz vor Mittag. Blum fragte sich, ob Mary Priest einkaufen ging, während sie auf ihre Kinder wartete. Nach einer Weile verschwand sie in einem Gebäude.
Es war ein Kino.
Priest kaufte eine Karte. Blum tat es ihr gleich und folgte ihr in einigem Abstand in den Kinosaal.
Der Saal war leer.
Priest setzte sich in die Mitte, während Blum auf einem Sitz ein paar Reihen hinter ihr Platz nahm.
Ihr erster Gedanke ging dahin, dass Priest mit jemandem verabredet war, aber die Frau schaute weder auf ihr Handy, noch blickte sie zum Eingang. Sie starrte nur auf ihre Hände hinunter.
Als die Vorschau lief, beschloss Blum, etwas zu unternehmen.
Sie stand auf, ging nach vorne zu der Reihe, in der Priest saß, und setzte sich mit einem Platz Abstand neben sie.
Priest bemerkte nichts, schaute nicht einmal auf. Sie schien völlig in Gedanken versunken zu sein, was Blum Gelegenheit gab, sie zu beobachten. Sie war um die vierzig und ziemlich klein, aber kräftig, mit dunkelblondem, schulterlangem Haar. Bekleidet war sie mit einer cremefarbenen Hose, flachen Schuhen und einer hellblauen kurzärmligen Bluse, die ihre dunkel getönten, sehnigen Arme sehen ließ. Ihre Kate-Spade-Handtasche lag auf dem Sitz neben ihr.
Sie wischte sich mit der Hand über die Augen. Im nächsten Moment brachen die Tränen hervor, und sie barg das Gesicht in den Händen.
Blum öffnete ihre Handtasche, nahm eine Packung Taschentücher heraus und reichte sie ihr.
Priest schreckte hoch und schaute nach rechts. Als sie die ältere Frau neben sich sah, entspannte sie sich, lächelte und bedankte sich. Sie zog ein paar Taschentücher aus der Packung und gab sie zurück. Dann trocknete sie ihre Augen und putzte sich die Nase.
»Ich … ich glaube, es ist eine Allergie«, sagte sie, ohne Blum anzuschauen.
»Oder einfach nur das Leben«, meinte Blum. »Ich habe auch oft genug mit irgendeiner ›Allergie‹ im Kino gesessen.«
Priest lachte leise und wirkte ein wenig verlegen. »Ich wollte den Film gar nicht sehen. Ich habe mich einfach hier reingesetzt.«
»Genau wie ich«, sagte Blum. »Ich wollte nur mal raus, auf andere Gedanken kommen.«
»Ich heiße Mary.«
»Carol«, sagte Blum. Sie schüttelten einander die Hand. »Sollen wir einen Happen zu Mittag essen, wenn der Film uns beide gar nicht interessiert? In meinem Alter freut man sich, wenn man was Gutes zwischen die Rippen kriegt. Und Sie sehen aus, als könnten Sie einen Bissen vertragen.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen habe. Wohnen Sie hier in der Nähe?«
»Nein, ich bin nur zu Besuch in der Stadt. Ich habe Freunde hier, aber die arbeiten tagsüber. Kennen Sie ein gutes Restaurant in der Nähe?«
»Ja, ich denke schon.«
»Okay. Gehen wir?«
Priest lachte. »Ich hätte schon ein bisschen Zeit, also, was soll’s.«
Sie verließen das Kino und gingen ein Stück die Straße entlang. Schließlich bog Priest in eine Seitengasse ein.
»Da wären wir«, sagte sie. »Es ist ein Restaurant im französischen Stil. Die haben hier gute Weine und ausgezeichnetes Essen, ein bisschen kalorienreich vielleicht.«
»Und wenn schon. Ich hab’s schon lange aufgegeben, Kalorien zu zählen.«
Sie wurden an einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants geführt. Als sie sich gesetzt hatten und die Speisekarte studierten, sagte Blum: »Es mag sich ein bisschen abgedroschen anhören, aber ich kann gut zuhören. Als geschiedene Frau mit sechs Kindern und einem Stall voller Enkel lernt man so was. Wenn Sie reden möchten, kann ich gern meinen Senf dazugeben, nach bestem Wissen und Gewissen.«
Priest lächelte und rieb sich die Augen. »Ich glaube, Sie hat mir der Himmel geschickt.«
»Das sind die kleinen Wunder des Lebens.«
Sie bestellten zwei Gläser Merlot und nahmen einen Schluck. »Es klingt sicher verrückt, auch für jemanden wie Sie …«, begann Priest.
»Was denn?«
»Es geht um meinen Mann. Es ist nicht so, dass er mich betrügt oder so etwas. Er ist ein guter Kerl, aber …«
»Aber was?«
Priest schüttelte den Kopf. »Sie werden es mir nicht glauben.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
»Also, angefangen hat es mit Ben, meinem Schwager.«
»Was hat damit angefangen?«
»Er ist in irgendwas verwickelt. In was, weiß ich nicht genau. Aber jetzt zieht er uns da mit hinein.«
»Etwas Kriminelles?«
»Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein Mann plötzlich den Koffer gepackt hat und weggefahren ist, ohne mir zu sagen, wohin. Das hat er noch nie getan. Er war sonst immer offen und ehrlich zu mir. Er ist Wirtschaftsprüfer, wissen Sie.«
»Ist er wieder zurück?«
»Nein.« Mary schüttelte den Kopf. »Und da ist noch etwas. Zwei Männer vom FBI sind zu uns nach Hause gekommen, angeblich, um uns zu beschützen.«
»Vom FBI? Du liebe Güte. Und Sie glauben, das hat mit Ihrem Schwager zu tun?«
»Es kann nicht anders sein. So was ist noch nie vorgekommen.«
»Haben Sie mit Ihrem Mann gesprochen?«
»Nicht, seit er fort ist. Ich habe schreckliche Angst. Wenn ich nur wüsste, ob er Ärger hat.«
»Aber jetzt stehen Sie nicht mehr unter Polizeischutz, oder? Ich meine, Sie spazieren hier allein durch die Stadt. Ich habe jedenfalls niemanden gesehen, der Sie im Auge behält.«
»Das ist auch so eine merkwürdige Sache. Auf einmal sind die FBI-Leute abgezogen. Es sei alles in Ordnung, haben sie gesagt. Bloß falscher Alarm.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Wie wahrscheinlich jede Ehefrau reagieren würde. Ich war auf hundertachtzig.«
»Wäre mir nicht anders ergangen.«
»Ich habe die Kerle angeschrien: ›Wo ist mein Mann? Was geht hier vor? Was haben Sie damit zu tun?‹«
»Und was haben sie gesagt?«
»Nichts. Kein Wort! Sie sind einfach gegangen. Ich habe mich sofort ans Telefon geklemmt und Eds Freunde und Arbeitskollegen angerufen …«
»Und?«
»Keiner hat irgendwas von Ed gehört.«
»Und sein Bruder?«
»Ben? Der ist nicht mal ans Telefon gegangen. Ich habe hundert Nachrichten hinterlassen. Nichts. Dieser Mistkerl! Ich weiß wirklich nicht, was er sich dabei denkt, uns in so etwas reinzuziehen!«
»Aber Sie wissen nicht mit Sicherheit, dass es mit Ihrem Schwager zu tun hat?«
»Warum ruft er dann nicht zurück?«
»Wohnt er in der Nähe?«
»In der Old Town von Alexandria. Das ist im Norden von Virginia, am anderen Flussufer.«
»Waren Sie selbst bei ihm?«
»Gleich nachdem die FBI-Leute weg waren, bin ich zu Ben rübergefahren. Ich habe geklopft wie eine Verrückte. Nichts.«
»Haben Sie denn keinen Schlüssel? Sonst hätten Sie doch nachsehen können, ob alles in Ordnung ist. Ihrem Schwager könnte ja etwas zugestoßen sein.«
Statt einer Antwort öffnete Mary ihre Handtasche und zog einen Schlüssel hervor. »Den hat er irgendwann mal Ed gegeben, als er für längere Zeit wegmusste. Er weiß es wahrscheinlich gar nicht mehr. Ed sollte hin und wieder bei ihm nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Also waren Sie in Eds Wohnung?«
»Nein. Ich habe mich nicht getraut. Das Haus hat eine Alarmanlage, und ich kenne den Code nicht. Den weiß nur Ed.«
»Eine seltsame Geschichte«, sagte Blum. »Ich würde Ihnen ja gerne einen Rat geben, aber mit so etwas habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Ich dachte, Sie haben ein Eheproblem.« Sie lachte auf. »Was das angeht, bin ich Expertin.«
»Ich bin trotzdem froh, dass wir uns begegnet sind«, sagte Mary aufrichtig. »Es tut gut, sich einfach mal den Frust von der Seele zu reden.«
Sie bestellten das Essen und unterhielten sich weiter, während sie aßen.
Schließlich sagte Blum: »Sie sollten auf jeden Fall weiter versuchen, Ihren Mann zu erreichen. Aber gehen Sie nicht noch einmal zum Haus Ihres Schwagers, wo das FBI sich mit ihm beschäftigt. Sie müssen an Ihre Sicherheit denken, schließlich haben Sie Kinder. Warten Sie erst einmal ab, solange Sie nicht wissen, in was Ihr Schwager verwickelt ist.«
»Sie haben recht. Und mein Mann? Soll ich ihn als vermisst melden? Was meinen Sie?«
Blum schaute sie nachdenklich an. »Warten Sie besser noch einen Tag, dann würde ich es melden. Tut mir leid, dass Ihnen das passiert ist, zumal Sie unschuldig da reingeraten sind. Das Leben ist so schon kompliziert genug.«
Priest verzog das Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen. »Kann man wohl sagen. Ich habe zwei Söhne großzuziehen. Und Ed verdient zwar gut, hat aber die unmöglichsten Arbeitszeiten. Ich bin oft mit den Jungs allein. Trotzdem ist es eigentlich immer gut gelaufen. Aber jetzt … ich weiß ja nicht einmal, wo Ed ist.«
Als sie mit dem Essen fertig waren, schlug Blum vor: »Am besten, Sie machen sich ein bisschen frisch. Ihr Make-up ist in Ordnung, aber die Augen sehen ein bisschen verweint aus. Hier.« Sie zog ein Fläschchen Augentropfen aus ihrer Handtasche und reichte es Mary. »Ich passe auf Ihre Sachen auf und werde schon mal die Rechnung bezahlen.« Als Mary protestieren wollte, fügte sie hinzu: »Das ist das Mindeste, was ich tun kann, bei allem, was Sie durchmachen.«
Nachdem die beiden Frauen das Restaurant verlassen hatten, gingen sie zurück zu dem Lernstudio, wo ihre Wege sich trennten.
»Danke für alles«, sagte Mary zum Abschied.
»Ach, nicht der Rede wert.«
»O doch. Sie haben mir zugehört, und Sie haben mir geglaubt. Das ist sehr viel.«
Blum ging zurück zu ihrem Wagen. Drinnen öffnete sie ihre Handtasche und zog den Schlüssel zu Ben Priests Haus heraus, den sie aus Marys Handtasche genommen hatte, als die Frau sich frisch gemacht hatte.
Die Einladung zum Essen hatte sich gelohnt.
Und vielleicht, überlegte sie, können Pine und ich den vermissten Ed Priest finden. Hoffentlich lebend.