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Carol Blum hatte ihr weitere Informationen über die Website gesandt, auf der sie die beiden Artikel gefunden hatte.
Falls sich die Buchstaben, die jemand ins Fell des Maultiers geschnitten hatte, tatsächlich auf Jordan und Kinkaid bezogen, konnte es durchaus sein, dass der Täter diese Website besucht hatte. Und wer sich im digitalen Raum bewegte, hinterließ eine elektronische Spur in Gestalt einer IP-Adresse. Das FBI hatte schon so manchen Täter gefasst, der sich dieser Tatsache nicht bewusst gewesen war. Die Wahrscheinlichkeit, den Täter auf diesem Weg zu fassen, war nicht übermäßig hoch, wie Pine wusste, doch Blum hatte ihr versichert, dass es nicht allzu viele Websites zu diesem Thema gab; also konnte es durchaus sein, dass sie Glück hatten. Normalerweise hätte Pine diese Information an die IT-Spezialisten im Bureau weitergeleitet, die über alle Mittel verfügten, um die Besucher einer Website auszuforschen, aber diesmal zögerte sie.
Sie sollten Ihre Augen vorne und hinten haben.
Diesen Rat hatte Avery ihr mitgegeben, obwohl sie bisher nicht unbedingt das Gefühl gehabt hatte, dass er sie bei ihrer Arbeit unterstützte. Doch er war ihr Vorgesetzter, und vielleicht hatte er aus irgendeinem ihr unbekannten Grund beschlossen, ihr ein wenig unter die Arme zu greifen.
Oder er lässt dich absichtlich in eine Falle tappen, ging es Pine durch den Kopf.
Sie musste es darauf ankommen lassen.
Pine trank ihr Bier aus und holte zwei Würstchen aus dem Kühlschrank. Den kleinen Hibachi-Grill draußen auf dem Balkon, den sie vom Vormieter übernommen hatte, hatte sie bereits angefeuert. Nur den Sack Grillkohle hatte sie sich noch zulegen müssen. Pine war keine große Köchin, doch jeden Abend essen zu gehen, ließ ihr Budget nicht zu. Es wäre ihrem körperlichen Wohlbefinden vielleicht auch nicht zuträglich gewesen.
Nachdem sie die fetten Würstchen auf den Grill gelegt hatte, stieg ihr der würzige Duft in die Nase. Sie holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm einen kräftigen Schluck. In einer so heißen Gegend war es besonders wichtig, genug zu trinken. Es gab immer wieder Wanderer im Canyon, die zu wenig Flüssigkeit zu sich nahmen – trotz der Warnschilder, die darauf hinwiesen. Dehydration konnte lebensbedrohlich werden. Der Blutdruck sackte ab, der Herzschlag verlangsamte sich, und die Organe fuhren ihre Leistung herunter, bis sie irgendwann die Arbeit einstellten. Und das war es dann. Nur weil man vergessen hatte – oder zu nachlässig war –, genug zu trinken.
Pine schnitt ein paar Tomaten und eine Gurke in Scheiben und gab Rote Bete und eine Handvoll Zuckererbsen dazu. Zuletzt träufelte sie eine selbst gemachte Zitronen-Vinaigrette über den Salat und stellte die Schüssel auf den Küchentisch. Wenige Minuten später sah sie nach den Würstchen. Sie waren bereits aufgeplatzt und von Grillstreifen überzogen, wie Pine sie am liebsten hatte.
Sie setzte sich an den Tisch und aß, während sie auf ihrem Laptop die Website studierte. Der Tonfall war ziemlich verschwörerisch. Pine verzog das Gesicht. Manchmal hatte sie den Eindruck, die ganze Welt sei von Paranoia infiziert. Aus ihrer Sicht war es längst noch nicht entschieden, ob das Internet der Menschheit mehr Nutzen oder Schaden bringen würde.
Sie schickte eine SMS an einen Bekannten, der in einer Google-Filiale in Salt Lake City arbeitete, gab ihm die betreffenden Informationen über die Website und bat ihn, die IP-Adressen aufzuspüren, die in den vergangenen Wochen auf die Seite zugegriffen hatten. Pine hatte keine Ahnung, wie häufig die Website besucht wurde, deshalb erschien es ihr ratsam, einen Zeitrahmen zu setzen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie groß der Kreis der Interessenten war.
Als sie mit dem Abendessen fertig war, räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine. Es war kurz vor neun Uhr, doch sie war noch kein bisschen müde.
Wenig später traf eine SMS von ihrem Bekannten in Salt Lake City ein. Er habe ihre Informationen erhalten, ließ er sie wissen, und würde versuchen, bis morgen etwas herauszufinden.
Pine lehnte sich zurück und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. In ihrem Kopf herrschte ein ziemliches Durcheinander. Was hatte ein abgeschlachtetes Maultier, das möglicherweise in irgendeinem rätselhaften Zusammenhang mit einer alten Legende stand, mit dem verschollenen Mitarbeiter einer Vertragsfirma der Regierung zu tun?
Mit dem Mann, der sich als dieser Mitarbeiter ausgab, verbesserte sich Pine.
Nein, das stimmte auch nicht ganz. Schließlich war noch nicht erwiesen, dass Benjamin Priest tatsächlich für eine Vertragsfirma arbeitete. Und genau genommen war es auch nicht Benjamin Priest, der vermisst wurde, sondern der Mann, der als Priest aufgetreten war.
Pine hatte keine Ahnung, ob der echte Priest je den Grand Canyon besucht hatte. Mit Sicherheit wusste sie nur, dass ein Mann, der sich Benjamin Priest nannte, auf einem Maultier in den Grand Canyon geritten und dort verschwunden war. Der einzige Hinweis war das abgeschlachtete Muli.
War der Mann in der Dunkelheit allein losmarschiert? Es kam durchaus vor, dass Leute die Wanderung durch den Canyon nachts unternahmen, um die Hitze des Tages zu vermeiden, die zwischen Mai und September extrem sein konnte.
Pine hatte die nächtliche Wanderung selbst mehrmals absolviert und dabei um Mitternacht ein kurzes Nickerchen am Ufer des Colorado eingelegt, bevor sie den Aufstieg auf der anderen Seite in Angriff nahm und rechtzeitig oben ankam, um den Sonnenaufgang zu sehen. Doch sie war in Topform, kannte alle Wanderwege und verfügte über die nötige Ausrüstung, einschließlich einer Stirnlampe. Es kam einem Selbstmordversuch gleich, sich ohne entsprechende Beleuchtung in das felsige Gelände mit seinen tiefen Abgründen zu wagen.
Sollte ein Mann, den schon der Ritt auf dem Maultier nervös gemacht hatte, tatsächlich ohne geeignete Ausrüstung auf eigene Faust losmarschiert sein, um den tückischen Aufstieg zu bewältigen?
Für Pine passte das einfach nicht zusammen.
Und was hatte das alles mit Fragen der nationalen Sicherheit zu tun, wie das FBI vermutete?
Pine seufzte. Heute Abend würde sie diese Rätsel nicht mehr lösen.
Sie zog sich aus, duschte, schlüpfte in Shorts und ein weißes Tanktop und setzte sich müde auf die Bettkante. Einen Moment lang betrachtete sie ihre schwieligen Hände und suchte nach Resten von Magnesiapulver, das sich nur mit kräftigem Schrubben von den Fingern entfernen ließ. Wenn sie nicht gerade an einem Fall arbeitete, für den sie viel unterwegs war, besuchte sie dreimal die Woche ein Fitnessstudio in Shattered Rock, um Gewichte zur Hochstrecke zu bringen. Die Räumlichkeiten hatten zuvor ein Chinarestaurant beherbergt, doch anscheinend war Fitnesstraining hier beliebter als Kung-Pao-Huhn. Nebenan befand sich ein Kampfsportstudio, wo Pine an drei Wochentagen Kickboxen trainierte. Entgegen dem gut gemeinten Rat der Bibel ruhte sie auch am siebten Tag nicht, sondern schlüpfte in ihre Laufschuhe und hetzte durch die flache, trockene Landschaft, wo die Sonne unbarmherzig auf sie niederbrannte.
Östlich von Shattered Rock lag Tuba City, eine Stadt an der Westgrenze der Navajo Nation Reservation. Shattered Rock selbst lag knapp außerhalb des Navajo-Territoriums in einem Wüstengebiet namens Painted Desert. Das Klima hier war extrem: Glühend heiße, staubtrockene Sommer wechselten sich mit bitterkalten, kaum weniger trockenen Wintern ab. Deshalb deckte Pine sich jeden Herbst mit Feuchtigkeitscreme und Lippenbalsam ein, und in Wohnung und Büro lief von November bis April der Luftbefeuchter auf Hochtouren.
Sie ließ sich aufs Bett sinken, legte einen Arm über die Stirn und schaute an die Decke.
Es war kurz nach zehn, und obwohl ihr Fenster geschlossen war, hörte Pine das Heulen eines Kojoten in der Ferne – ein klagendes, lang gezogenes Geräusch in der weiten Landschaft. Damals, in Georgia, hatte eines dieser Tiere es auf die Hühner ihres Vaters abgesehen, und sie hatte als kleines Mädchen miterleben müssen, wie er es erschossen hatte. Ihr Dad war nicht der beste Schütze, und der Kojote war nicht auf der Stelle tot gewesen. Mit Tränen in den Augen hatte Atlee zugeschaut, wie das Tier sich in Schmerzen auf dem Boden wand. Die Kugel musste die Hinterbeine gelähmt haben, weil der Kojote trotz verzweifelter Versuche nicht mehr aufstehen und flüchten konnte.
Ihr Vater hatte dem Tier seelenruhig eine Kugel in den Kopf geschossen, um es von seinen Qualen zu erlösen. Dann hatte er sich der einen Tochter zugewandt, die ihm noch geblieben war, hatte die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel genommen und die rauchende Pistole in den Gürtel gesteckt.
»Man lässt ein Tier nicht leiden, Lee. Es ist ein Geschöpf Gottes, genau wie du und ich, also muss man es erlösen, wenn es leidet. Hast du mich verstanden, Mädchen? Man schaut nicht zu, wenn ein Tier leidet. Das tut man einfach nicht, klar?«
Diese Episode hatte sich zugetragen, nachdem Mercy verschleppt worden war – ein Ereignis, das sie alle verändert hatte. Sie waren misstrauisch, verbittert, angespannt geworden. Insgeheim wussten sie, dass Mercy hatte leiden müssen.
Atlee hatte sich die Tränen abgewischt und genickt, ohne den Blick von dem toten Tier zu wenden, dessen leblose Augen sie anzustarren schienen, während sich eine Blutlache um den Kopf bildete. Nie würde sie das Heulen des Kojoten vergessen, als die erste Kugel ihn getroffen hatte und er sterben musste, nur weil er hungrig gewesen war und sich Nahrung hatte verschaffen wollen. Nie würde sie vergessen, wie das Tier sich am Boden gewunden hatte, die Wirbelsäule von der Kugel zertrümmert, ohne zu wissen, was ihm widerfahren war, aber vielleicht schon ahnend, dass sein Leben zu Ende ging, obwohl es immer noch verzweifelt versuchte, aufzustehen und zu flüchten.
Zu überleben.
Bei diesem Gedanken schweifte Pines Erinnerung zu ihrer Schwester.
Mercy musste etwas Ähnliches durchgemacht haben, als sie aus dem einzigen Zuhause gerissen worden war, das sie je gekannt hatte. Eine unbekannte Kraft hatte ihr das Leben geraubt. Einzig und allein, weil es einem kranken Gehirn so gefallen hatte.
Hat dich jemand von deinen Qualen befreit, Mercy?
Hat jemand deinem Schmerz ein Ende gemacht?
Ich hoffe es. Ich bete darum.
In diesem Augenblick verspürte Pine das überwältigende Verlangen, etwas aus sich herauszulassen, das sich in ihrem Innern aufgestaut hatte und schon lange machtvoll nach draußen drängte wie ein aufgestauter Fluss.
Doch die Befreiung blieb ihr verwehrt. Die Tränen wollten nicht kommen.
Daniel James Tors feistes Gesicht blitzte für einen Moment in ihren Gedanken auf.
Falls er es war, der Mercy entführt hatte, hoffte sie inständig, dass das Ende schnell gekommen war. Doch sie wusste nur zu gut, wie Tor mit seinen Opfern umgegangen war.
Pines Gedanken waren immer noch bei ihrer Schwester, als sie endlich in einen unruhigen Schlaf glitt.
Wie fast jede Nacht.