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Ene, mene, muh.

FBI Special Agent Atlee Pine betrachtete die strenge, düstere Fassade des Gefängniskomplexes, in dem einige der gefährlichsten Exemplare der Gattung Mensch verwahrt wurden.

Mit dem schlimmsten von ihnen wollte Pine heute Abend sprechen.

Das ADX Florence, ungefähr hundert Meilen südlich von Denver, war das einzige Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstrafvollzug, das den »Supermax«-Standard erfüllte, die maximale Sicherheitsstufe, die man durch Haftbedingungen erreichte, die einer Isolationshaft nahekamen. Insgesamt saßen mehr als neunhundert Sträflinge auf diesem abgelegenen Flecken Erde hinter Gittern.

Nachts, wenn alle Lichter brannten, funkelten die Gebäude des Gefängniskomplexes, vom Himmel aus betrachtet, wie Diamanten auf schwarzem Samt – so kalt und hart wie die Männer in diesen Mauern, ob Wärter oder Häftling. Es war kein Ort für Leute mit schwachen Nerven. Es war ein Ort, an dem Bestien in Menschengestalt untergebracht waren, Psychopathen übelster Sorte.

So beherbergte das Supermax unter anderem den Unabomber, den Attentäter vom Boston-Marathon, die 9/11-Terroristen, mehrere Serienkiller, einen Mittäter des Anschlags von Oklahoma, verschiedene Spione, Anführer der White-Supremacy-Bewegung sowie eine Reihe von Mafia- und Drogenbossen. Die Jüngsten unter ihnen waren Mitte zwanzig, die Ältesten gingen auf die achtzig zu. Die meisten würden in diesen Mauern sterben. Wer zu mehrfach lebenslänglich verurteilt war, konnte sich keine Hoffnungen machen, jemals freizukommen.

Das Hochsicherheitsgefängnis lag fernab der menschlichen Zivilisation in einem kargen Landstrich in Colorado. Noch nie war es einem Häftling gelungen, aus dem ADX Florence auszubrechen. Sollte es wider Erwarten doch jemand schaffen – er hätte keine Chance. Hier gab es kein Versteck, keine Deckung, keinen Schutz in der flachen, offenen Landschaft, in der es nicht die winzigste Erhebung gab, so weit das Auge reichte. Nirgends wuchs ein Grashalm, geschweige denn ein Baum oder Strauch. Der Gefängniskomplex wurde von vier Meter hohen, von Stacheldraht gekrönten Mauern umschlossen. Auf dem Gelände patrouillierten rund um die Uhr bewaffnete Wärter mit Kampfhunden. Falls doch einmal ein Häftling bis zur Mauer durchkam, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Kugel oder scharfen Hundezähnen getötet. Und niemand würde ihm auch nur eine Träne nachweinen.

Durch die schmalen, einen Meter hohen Fenster der Zellen sah man nur den Himmel oder das Dach des Gefängnisbaus. ADX Florence war so angelegt, dass die Insassen zu keinem Zeitpunkt wussten, in welchem Teil der Anlage sie sich befanden. Die Zellen waren dreieinhalb mal zwei Meter groß, und praktisch alles im Innern, außer dem Häftling, war aus Stahlbeton. Die Duschen schalteten sich nach kurzer Zeit von selbst ab, und die Wände waren schallisoliert, sodass kein Häftling mit einem anderen Kontakt aufnehmen konnte. Die massiven Stahltüren wurden hydraulisch betätigt, und die Essensausgabe erfolgte durch einen schmalen Schlitz in der Zellentür. Außerhalb der Zellen war jede Kommunikation untersagt; die einzige Ausnahme bildete der Besucherraum. Für aufmüpfige Häftlinge und Notfälle gab es die Z-Einheit, »Schwarzes Loch« genannt – ein Bereich, in dem die Zellen völlig dunkel blieben und die Betonbetten mit Riemen versehen waren.

Einzelhaft war in dieser Anstalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Supermax war nicht dafür gedacht, den Insassen in seinen Mauern Freude und Zerstreuung zu bieten.

Atlee Pines Wagen war sorgfältig durchsucht, ihr Name und Ausweis anhand der Besucherliste gecheckt worden. Erst danach hatte man sie zum Haupteingang geführt, wo sie den Sicherheitsmännern ihre Papiere zeigte, die sie als FBI Special Agent auswiesen.

Pine war fünfunddreißig und trug seit zwölf Jahren die FBI-Dienstmarke am Gürtel. Auf der golden schimmernden Plakette prangte ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen; darunter war Justitia mit Waage und Schwert zu sehen. Pine fand es irgendwie passend, dass eine weibliche Figur das Abzeichen der weltweit bekanntesten Polizeibehörde zierte.

Nachdem sie den Sicherheitsleuten ihre Glock 23 ausgehändigt hatte, war Pine unbewaffnet, denn die Beretta Nano, die sie normalerweise in einem Fußholster trug, war im Auto geblieben. Vermutlich war es das erste Mal, dass Pine freiwillig ihre Waffe herausgab. Beim FBI gab man seine Pistole nur ab, wenn man tot war. Doch Amerikas einziges Supermax-Gefängnis hatte seine eigenen Regeln, an die auch Pine sich halten musste, wenn sie hineinwollte – und das wollte sie.

Um jeden Preis.

Atlee Pine war groß, eins einundachtzig ohne Schuhe, und athletisch. Die Größe hatte sie von ihrer Mutter geerbt, den durchtrainierten Körper verdankte sie jahrelangem Krafttraining. Die Muskulatur an Oberschenkeln und Waden, Schultern und Oberarmen war ausgeprägt und gut definiert. Neben Gewichtheben hatte Pine Mixed Martial Arts und Kickboxen betrieben und sich dabei so ziemlich alle Tricks und Kniffe angeeignet, um sich gegen einen größeren, schwereren Gegner zu behaupten.

All diese körperlichen Vorzüge und Fertigkeiten hatte Pine mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen erworben: in einer männlich dominierten Welt zu überleben. Ihre physische Kraft, ihre Ausdauer und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten waren dabei extrem hilfreich. Pines Gesicht war kantig, doch auf seine eigene Weise attraktiv. Ihr Haar war dunkel und schulterlang, und das verwaschene Blau ihrer Augen strahlte etwas Unergründliches aus.

Pine hatte das ADX Florence noch nie besucht. Während zwei stämmige Wärter, die bislang kein Wort gesprochen hatten, sie durch die Gänge führten, fiel ihr als Erstes auf, wie still es hier war. Als FBI-Agentin hatte sie schon mehr als einen Knast von innen gesehen. Normalerweise herrschte eine lebhafte Geräuschkulisse: Schreie, Flüche, wüste Drohungen, vermischt mit banalem, meist lautstarkem Gequatsche; man sah Finger, die Gitterstäbe umklammerten, und drohende Blicke aus den schummrigen Tiefen der Zellen. Wer noch nicht völlig verroht war, würde es spätestens bei seiner Entlassung sein. Falls er bis zur Entlassung überlebte. In Florence lag die Todesrate extrem hoch.

Es war wie in Herr der Fliegen.

Mit dem Unterschied, dass es hier Stahltüren und Toiletten gab.

Doch anders als in anderen Gefängnissen war es hier so still wie in einer Kirche. Pine war beeindruckt. Es war bemerkenswert, wenn man bedachte, dass hier Männer einsaßen, die zusammengenommen Tausende Mitmenschen abgeschlachtet hatten – mit Bomben, Schusswaffen, Messern, Gift oder bloßen Fäusten. Oder, im Fall der Spione, mit Heimtücke und Verrat.

Ene, mene, muh,

und raus bist du.

Pine war von St. George, Utah, herübergefahren, wo sie einige Jahre zuvor gewohnt und gearbeitet hatte. Es war eine lange Strecke; sie hatte den gesamten Bundesstaat Utah und die Hälfte von Colorado durchquert. Ihrem Navi zufolge hätte sie für die 650 Meilen etwas mehr als elf Stunden benötigen müssen; sie hatte die Strecke in knapp zehn Stunden bewältigt, dank des bärenstarken Motors ihres SUV und des elektronischen Warngeräts, das sie durch die allgegenwärtigen Radarfallen gelotst hatte.

Einmal hatte sie haltgemacht, um die Toilette aufzusuchen und sich einen Happen für unterwegs zu besorgen. Den Rest der Zeit hatte sie einfach nur das Gaspedal voll durchgetreten.

Sicher, sie hätte nach Denver fliegen und nur das letzte Stück mit dem Auto fahren können, doch sie hatte Urlaub und brauchte ohnehin ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie vorgehen würde, sobald sie ihr Reiseziel erreicht hatte. Eine lange Fahrt durch weite, menschenleere Landschaften bot dafür ideale Voraussetzungen.

Pine war im Osten aufgewachsen, hatte aber den Großteil ihres Berufslebens in den schier endlosen Ebenen des amerikanischen Südwestens verbracht. Und sie hatte nicht die Absicht, von hier wegzugehen. Sie liebte die Weite und die wilde Schönheit der Natur.

Nach ein paar Jahren beim FBI war Pine in der glücklichen Lage gewesen, sich ihre Dienststelle aussuchen zu können, denn sie war bereit gewesen, in die Provinz zu gehen, wohin sonst niemand wollte. Die meisten Agenten zog es an eines der sechsundfünfzig FBI Field Offices. Manche mochten es heiß und bevorzugten Miami, Houston oder Phoenix. Andere hofften auf eine steile Karriere und bemühten sich um einen Posten in New York oder Washington, D.C. Auch Los Angeles und Boston waren aus verschiedenen Gründen äußerst beliebt. Doch Pine hatte nie Interesse gehabt, in einer dieser Städte zu landen. Sie bevorzugte die Abgeschiedenheit einer Resident Agency, kurz RA, einer kleinen FBI-Niederlassung mitten im Nirgendwo. Und solange sie ihre Arbeit tat und Ergebnisse lieferte, ließ man sie in Ruhe.

In den einsamen Landstrichen des Südwestens war Pine oft die einzige Vertreterin der Bundespolizei in vielen Hundert Meilen Umkreis. Aber das störte sie keineswegs. Manche mochten sie für einzelgängerisch und ungesellig halten, vielleicht sogar für einen Kontrollfreak, aber damit tat man ihr unrecht. Sie kam mit den Leuten in ihrer Umgebung gut aus. Es war unmöglich, die Rolle einer FBI-Agentin effizient auszufüllen, wenn man nicht mit Menschen umgehen konnte.

Doch Pine legte großen Wert auf Privatsphäre. Aus diesem Grund hatte sie sich in die kleine, mit nur zwei Agenten besetzte Resident Agency in St. George, Utah, versetzen lassen. Nach zwei Jahren hatte sich dann die Gelegenheit geboten, in die noch kleinere Ein-Agenten-Zweigstelle im Städtchen Shattered Rock zu wechseln. Dieses erst kürzlich eingerichtete Büro westlich von Tuba City befand sich unweit des Grand-Canyon-Nationalparks. Dort wurde Pine von ihrer Sekretärin Carol Blum unterstützt. Die knapp sechzigjährige Frau war seit Jahrzehnten beim Bureau beschäftigt. Blums erklärter Held war der ehemalige FBI-Direktor J. Edgar Hoover, der lange vor ihrer Zeit beim FBI gestorben war.

Pine war sich nicht sicher, ob Blum es mit ihrer Bewunderung für Hoover ernst meinte oder es nur eine Marotte war.

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

Punkt Mitternacht.

Die Besuchszeit im ADX Florence war längst vorbei, doch für Pine hatte die Gefängnisaufsichtsbehörde eine Ausnahme gemacht.

Geisterstunde, ging es Pine durch den Kopf. Die dunkle Stunde, in der die Monster aus ihren Verstecken hervorkriechen. Die passende Zeit für das, was ich vorhabe.

Pine wurde in den Besucherraum geführt und setzte sich auf einen Metallhocker vor eine dicke Trennscheibe aus Sicherheitsglas. Ein Telefon gab es hier nicht; stattdessen war eine runde Sprechöffnung in das Glas eingelassen und bot die einzige Kommunikationsmöglichkeit. Bei einem Besuchstermin nahm der Häftling auf der anderen Seite der Scheibe auf einem ähnlichen Hocker Platz, der am Boden festgeschraubt war. Der Sitz war unbequem, was durchaus beabsichtigt war.

Pine saß da und wartete auf ihren Gesprächspartner, die ineinandergefalteten Hände auf dem laminierten Tisch vor ihr. Sie hatte sich die FBI-Dienstmarke ans Revers geheftet, weil sie wollte, dass der Mann sie sah. Ihr Blick ruhte auf der Tür, durch die die Wärter ihn gleich hereinführen würden. Er wusste, dass Pine mit ihm sprechen wollte. Er hatte sich mit ihrem Besuch einverstanden erklärt – eines der wenigen Rechte, die er hier im ADX Florence genoss.

Pine spannte sich innerlich an, als sie Schritte hörte, die langsam näher kamen.

Ene, mene, meck.

Die Tür öffnete sich mit einem Summen, und ein massiger Wärter mit der Figur eines Schwergewichtsboxers trat ein. Ihm folgte ein zweiter Wärter, dann ein dritter – beide genauso gebaut wie der erste. Offenbar musste man als Wärter in Florence bestimmte körperliche Voraussetzungen mitbringen, von psychischer Robustheit ganz zu schweigen.

Das ist auch anzuraten. Genau wie eine Tetanusimpfung und eine gute Lebensversicherung, ging es Pine durch den Kopf.

Sie schob diese Gedanken beiseite, als nach den drei Wärtern ein mit Fußketten gefesselter Hüne hereinkam. Daniel James Tor. Der Mann, den sie sprechen wollte. Mit über eins neunzig und muskelbepackt eine furchteinflößende Erscheinung.

Dem Häftling folgten drei weitere Wärter. Wie Pine erfahren hatte, galt hier die Regel, dass die Gefangenen bei jedem Schritt außerhalb ihrer Zelle von mindestens drei Wärtern bewacht werden mussten.

Bei Daniel James Tor hielt man anscheinend die doppelte Anzahl für angemessen. Pine konnte es nur zu gut nachvollziehen.

Tor hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Seine Augen starrten leer vor sich hin, als die Wärter ihn zum Hocker führten und seine Ketten an einem Stahlring im Fußboden befestigten. Eine eher untypische Vorsichtsmaßnahme bei Besuchen, wie Pine wusste. Aber auch das schien angemessen für den siebenundfünfzigjährigen Tor.

Er trug einen weißen Overall mit schwarzen, gummibesohlten Schuhen ohne Schnürsenkel. Seine schwarz gerahmte Brille bestand gänzlich aus weichem Gummi, ohne Metallscharniere oder Schrauben. Die Gläser waren aus dünnem Kunststoff. Es war so gut wie unmöglich, diese Brille als Waffe zu benutzen.

In einem Gefängnis musste jedes noch so kleine Detail beachtet werden. Schließlich hatten die Häftlinge alle Zeit der Welt, über Mittel und Wege nachzudenken, sich selbst oder andere zu verletzen.

Pine wusste, dass Tors Körper unter dem Overall von oben bis unten mit eigenhändig gestochenen Tätowierungen bedeckt war. Einige wenige hatte er sich von seinen Opfern machen lassen, die sich als Tätowierungskünstler betätigen mussten, bevor Tor sie ins Jenseits befördert hatte. Angeblich erzählte jedes einzelne Tattoo eine Geschichte über eines seiner Opfer.

Tor war fast hundertdreißig Kilo schwer, wovon nach Pines Schätzung höchstens zehn Prozent Fett waren. An seinen Unterarmen und am Hals traten die Adern dick hervor. Im Gefängnis gab es wenig anderes zu tun, als zu trainieren, zu essen und zu schlafen. Tor war schon während der Highschool-Zeit ein hervorragender Athlet gewesen. Zu bedauerlich, dass sein Modellkörper mit einem kranken, wenn auch brillanten Gehirn gekoppelt war.

Nachdem die Wärter sich noch einmal vergewissert hatten, dass Tor sicher angekettet war, verließen sie den Besucherraum. Pine hörte, wie sie draußen vor der Tür in Position gingen. Bestimmt war das auch Tor bewusst.

Pine stellte sich vor, was geschehen würde, wenn es Tor irgendwie gelang, die Glasbarriere zwischen ihnen beiden zu durchbrechen. Würde sie sich gegen ihn behaupten können?

Interessante Frage, ging es ihr durch den Kopf. Sie wünschte sich beinahe, Tor würde es versuchen.

In diesem Moment fiel sein Blick auf sie und ließ sie nicht mehr los.

Pine hatte durch Sicherheitsscheiben wie diese schon viele Monster gesehen, von denen sie einige selbst zur Strecke gebracht hatte. Daniel James Tor aber spielte in seiner eigenen Liga. Er war der vielleicht grausamste Serienmörder, der dieses Land je heimgesucht hatte.

Tor legte seine gefesselten Hände auf den laminierten Tisch und neigte den Kopf zur Seite, bis die Halswirbel knackten. Dann musterte er Pine erneut, bevor sein Blick für einen Moment zu ihrer Dienstmarke huschte. Seine Lippen kräuselten sich, als er das Symbol für Recht und Ordnung sah.

»Sie wollten mit mir sprechen«, sagte er mit tiefer, monotoner Stimme. »Und?«

Nun war der Augenblick gekommen, auf den Atlee Pine so lange gewartet und den sie doch so lange hinausgezögert hatte.

Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen nur einen Fingerbreit von der dicken Glasscheibe entfernt waren.

»Wo ist meine Schwester?«

Ene, mene, meck,

und du bist weg.