4

»Das ist Sam Kettler«, stellte Colson Lambert den Mann vor.

Pine stand auf der Veranda vor dem Speisesaal der Phantom Ranch, als Lambert mit dem ebenfalls uniformierten Kettler zu ihr kam.

»Er hatte Dienst in der Nacht, als Priest und das Maultier verschwanden«, fügte Lambert hinzu.

Pine musterte Kettler. Er war ungefähr in ihrem Alter und ein attraktiver Mann, knapp eins neunzig groß und athletisch gebaut. Als er den Hut abnahm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, kam sein kurz geschnittenes blondes Haar zum Vorschein. Seine Augen waren hellgrau. Die Muskeln in seinem scharf geschnittenen Gesicht spannten sich, als er abwartend vor Pine stand.

»Colson sagte mir, Sie hätten nichts gehört.«

Kettler schüttelte den Kopf. »Es war eine ruhige Nacht, nachdem die letzten Camper sich schlafen gelegt hatten. Ich hab meine Runden gedreht, meinen Papierkram erledigt und mich um einen Mülleimer gekümmert, den jemand nicht richtig zugemacht hatte. Ein paar Tiere hatten im Müll gewühlt, und da hab ich sie verscheucht. Sonst war alles wie immer.«

»Hat Colson Ihnen erzählt, was vorgefallen ist?«

Kettler trat von einem Fuß auf den anderen. »Ein Reiter ist verschwunden, und ein Maultier wurde aufgeschlitzt.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz schön krank, wenn Sie mich fragen.«

»Was mich vor allem interessiert: Warum stiehlt jemand ein Muli und tötet es dann? Natürlich drängt sich der Gedanke auf, dass Priest es getan hat, aber das wissen wir nicht. Genauso gut könnte Priest den Täter ertappt haben – und der hat Priest dann zum Schweigen gebracht.«

»So könnte es gewesen sein«, stimmte Lambert zu.

Pine schüttelte den Kopf. Ihr Instinkt sagte ihr, dass diese Theorie falsch war. Es hätten zu viele Zufälle zusammenkommen müssen. Das Leben hatte in der Regel wenig Ähnlichkeit mit einem Film oder einem Roman. Manchmal war die einfachste Antwort die richtige.

Sie warf Kettler einen Blick zu. »Denken Sie noch mal nach. Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn es so wäre, hätte ich es gemeldet.«

»Keine Geräusche? Von einem Maultier beispielsweise, auf dem jemand wegreitet?«

»Das hätte ich gehört, da bin ich mir sicher. Um welche Zeit soll das gewesen sein?«

»Das wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich kurz nach elf.«

»Ich komme auf meiner Runde auch mal ein Stück weiter weg von der Ranch. Wenn jemand das Maultier zu der Zeit rausgeholt hat, hätte ich es nicht unbedingt gehört.«

»Okay, danke.« Pine nickte ihm zu. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie’s mich wissen.«

»Mach ich. Viel Glück.«

Er schritt zügig davon. Pines Blick ruhte für einen Moment auf seinen breiten Schultern, die sich unter dem Hemd abzeichneten.

»Was nun?«, fragte Colson.

Pine löste den Blick von Kettlers Rücken und wandte sich ihm zu.

»Wir beginnen morgen in aller Frühe mit der Durchsuchung des Canyons, also esse ich jetzt noch eine Kleinigkeit und leg mich dann aufs Ohr.«

Einige Zeit später lag Pine in einem winzigen Zimmer auf der Phantom Ranch und starrte an die Decke. Jemand hatte eine Matratze, ein klumpiges Kissen und eine Decke für sie aufgetrieben. Ein spartanisches Zuhause für diese Nacht, doch für Pine stellte es kein Problem dar. Sie hatte schon viele Nächte an fremde Zimmerdecken gestarrt.

Der Geländestreifen, auf dem die Phantom Ranch stand, war ursprünglich »Roosevelt Camp« genannt worden, nach Präsident Theodore Roosevelt. Er hatte sich 1913 hier einquartiert, nachdem er den Grand Canyon zum National Monument erklärt hatte. Bei der Gelegenheit hatte er verfügt, dass der Stamm der Havasupai die Gegend verlassen müsse, damit der Nationalpark errichtet werden könne. Die widerwilligen Havasupai waren dieser Aufforderung erst fünfundzwanzig Jahre später nachgekommen, als Roosevelt längst tot war.

Pine konnte sie irgendwie verstehen.

Die heutige Phantom Ranch hatte ihren Namen von der berühmten Architektin Mary Elizabeth Jane Colter, die das Anwesen entworfen hatte. Die Ranch war 1922 entstanden, umgeben von Schatten spendenden Pappeln und Platanen. Mehrere unbefestigte Pfade führten kreuz und quer über den gesamten Bereich. Es war eine kleine Oase im tiefen Schlund des Canyons. In der Kantine stand ein Postsack bereit, in den die Besucher ihre Grußkarten werfen konnten; die Post wurde per Maultier nach oben transportiert. Die Karten trugen den Stempel: Mailed by Mule from the bottom of the Grand Canyon. Was konnte es Cooleres geben in einer Welt der Smartphones und Sprachassistenten?

Pine hatte in ihrem Auto stets mehrere Garnituren Kleidung und andere notwendige Utensilien dabei, dazu den Seesack, der sie bei allen Ermittlungen begleitete. Diesmal hatte sie die Sachen in dem Hubschrauber verstaut, der sie auf den Grund der Schlucht gebracht hatte. Als Vertreterin des FBI war Pine für das Gebiet des Grand Canyon zuständig und verkörperte so etwas wie eine Ein-Personen-Kavallerie. Damit konnte sie gut leben. Allerdings musste sie in ihrer jetzigen Situation auf FBI-Spurensicherungsteams verzichten, die einen Tatort so professionell untersuchten wie in den CSI-Serien. Die Arbeit lastete allein auf Pines Schultern, aber so ging es allen Agenten aus den kleinen Büros.

Pine hatte mit den Wanderern und Muli-Touristen, die im Lauf des Tages eingetroffen waren und inzwischen in ihren Betten lagen, im Speisesaal zu Abend gegessen, der mit langen Tischen und Holzstühlen möbliert war.

Die Leute waren müde und schweigsam gewesen, und auch Pine hatte niemandem etwas über sich erzählt – schon gar nicht, warum sie hier war. Small Talk war ohnehin nicht ihr Ding; lieber hörte sie anderen zu. Auf diese Weise erfuhr man oft interessante Dinge.

Zum Abendessen hatte es Eintopf mit Maisbrot gegeben; dazu hatte Pine drei Gläser Wasser getrunken. Hier unten, in der schwülen Hitze am Grund der Schlucht, war es besonders wichtig, ausreichend zu trinken.

Vor dem Schlafengehen hatte sie sich noch einmal mit Lambert und Brennan unterhalten. Jetzt war es ein Uhr nachts, und draußen waren es immer noch um die fünfundzwanzig Grad, sodass es in Pines Zimmer warm und stickig war. Sie hatte ein Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Ihre beiden Pistolen lagen in Reichweite.

Sie hatte keine Ahnung, wo Ben Priest sich aufhalten mochte. Möglicherweise hatte er den Canyon inzwischen zu Fuß verlassen, dann aber musste ihn jemand gesehen haben. Die Ranger hatten seine Beschreibung in der ganzen Gegend verbreitet und sogar auf der Website des Park Service gepostet. Falls er Sallie Belle getötet und ihr aus irgendeinem abstrusen Grund diese Buchstaben ins Fell geschnitten hatte, würde man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.

Pine hatte sich alle relevanten Fakten notiert und einen Bericht an ihre Vorgesetzten geschickt, zusammen mit einer Liste samt Kontaktdaten jener Personen, die zur fraglichen Zeit zu Fuß, per Boot oder auf einem Maultier im Canyon unterwegs gewesen waren. Diese Informationen würden an alle FBI-Büros im Land weitergeleitet werden, um jeder relevanten Spur nachgehen zu können. Natürlich hatte sie auch ihren unmittelbaren Vorgesetzten in Flagstaff verständigt, der sie daraufhin anwies, sich umgehend zu melden, falls es neue Entwicklungen gab.

Mehr war bis morgen früh nicht zu tun.

Pine lauschte dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen des Wassers im Bright Angel Creek.

Der Park Service hatte zwei Wachen bei dem Kadaver postiert. Andernfalls wäre die arme Sallie Belle mit Sicherheit von nächtlichen Raubtieren zerrissen worden. Pine schlug die Augen auf, als der Grand Canyon und das tote Maultier in ihren Gedanken in den Hintergrund rückten.

Stattdessen musste sie an Daniel James Tor denken.

In gewisser Weise hatte Pine all die Jahre darauf gewartet, dem Mann gegenüberzutreten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Verschwinden ihrer Schwester verantwortlich war.

Warum hatte sie dann neunundzwanzig Jahre gewartet?

Vor sechs Monaten hatte sie noch keine Erinnerung an das Monster gehabt, das vor drei Jahrzehnten in ihr Schlafzimmer eingedrungen war. Die Ärzte hatten jede Menge Fachausdrücke für dieses Vergessen, doch es lief wohl auf eine Amnesie hinaus, bedingt durch das traumatische Erlebnis. In ihrem eigenen Interesse hatte Pines Bewusstsein ihr die Erinnerung an jene Nacht vorenthalten. Nicht nur in ihrer Kindheit, sondern anscheinend auch später als Erwachsene.

Ihre Mutter hatte sie am nächsten Morgen bewusstlos und blutend im Bett gefunden, die Lippen mit Klebeband verschlossen. Sie hatte sofort einen Rettungswagen gerufen, der Atlee ins Krankenhaus brachte. Ihr Leben stand auf der Kippe; erst nach mehreren Operationen war klar gewesen, dass sie überleben und keine bleibenden Hirnschäden davontragen würde. Als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war sie das einzige Kind bei den Pines. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Ermittlungen aufgrund des Fehlens konkreter Hinweise bereits eingestellt. Auch Atlee hatte der Polizei nicht weiterhelfen können, da sie sich an nichts erinnerte.

Atlee hatte ihr Leben weitergeführt. Ihre Eltern, damals beide Mitte zwanzig, hatten sich getrennt – sie hatten keinen Weg gefunden, das traumatische Ereignis gemeinsam zu bewältigen. Zur Tatzeit waren beide betrunken und high gewesen und hatten nicht mitbekommen, dass jemand ins Haus eingedrungen war. Irgendwann waren sie eingeschlafen, während Atlee schwer verletzt im Bett lag und Mercy entführt worden war, um nie wieder zurückzukehren.

Sie gaben sich gegenseitig die Schuld an ihrem Versagen. Zu allem Überfluss hatten sie eine Zeit lang als Hauptverdächtige gegolten. Vor allem ein Ermittler vermutete, dass Pines Vater im Drogenrausch Mercy verschleppt und ihre Leiche irgendwo abgelegt hatte.

Und obwohl ihre Eltern einen Lügendetektortest bestanden und Atlee ausgesagt hatte, dass ihr Vater nicht der Mann war, der in jener Nacht ins Schlafzimmer gekommen war, hatte die Polizei ihr nicht geglaubt. Die Pines sahen sich einer zunehmend feindseligen Stimmung gegenüber, sodass sie schließlich die Stadt verließen.

Nach der Scheidung der Eltern hatte Atlee bei ihrer Mutter gelebt, doch ohne Mercy war nichts mehr so gewesen wie früher.

In den darauffolgenden Jahren hatte sie sich ziellos treiben lassen. Nichts erschien ihr mehr erstrebenswert. Sie schien sich damit abzufinden, dass sie in allem, was sie unternahm, versagte. Irgendwann begann sie zu trinken und Marihuana zu rauchen. Ihre Schulnoten waren katastrophal. Sie hatte ständig Ärger und wurde wiederholt betrunken von den Cops aufgegriffen. Mehrmals erwischte man sie beim Ladendiebstahl. Ihr war nichts und niemand mehr wichtig, am wenigsten sie selbst.

Als Pine einmal einen Jahrmarkt besucht hatte, war sie, einer Laune folgend, zu einer Wahrsagerin gegangen. Die Frau in dem kleinen Zelt hatte ein buntes Kleid, Schleier und Turban getragen. Pine erinnerte sich noch gut daran, dass sie das Ganze für einen faulen Zauber gehalten hatte. Die Frau hatte ihre Hand genommen und die Handfläche betrachtet.

Und im gleichen Augenblick zu Pines Gesicht hochgeschaut – mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens.

»Was ist?«, hatte Pine gefragt.

»Ich spüre zwei Herzschläge … zwei Herzen.«

Pine war sekundenlang erstarrt. Die Frau konnte doch unmöglich wissen, dass sie eine Zwillingsschwester hatte! Sie hatte ihr kein Sterbenswort über sich selbst verraten.

Erneut betrachtete die Wahrsagerin Pines Handfläche, fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.

Und zog die Stirn in Falten.

»Was ist?«, fragte Pine noch einmal, diesmal mit echter Neugier.

»Zwei Herzschläge.« Die Wahrsagerin hielt einen Moment inne. »Aber nur eine Seele.«

Pine hatte sie entgeistert angestarrt. »Zwei Herzschläge – eine Seele?«

Die Wahrsagerin nickte.

»Wie kann das sein?«

»Ich glaube, das wissen Sie«, hatte die Frau geantwortet.

Dieser Augenblick hatte Pines Leben auf den Kopf gestellt. Sie hatte neue Energie entwickelt, hatte sich wieder Ziele gesetzt. Es war, als hätte sie von nun an versucht, zwei Leben zugleich zu leben. Bei allem, was sie tat, hatte sie das Gefühl, es gleichzeitig für ihre Schwester zu tun, als müsse sie verwirklichen, was Mercy selbst nicht mehr erreichen konnte.

Ihre Statur, ihre angeborene Kraft und Ausdauer hatten sie zu einer herausragenden Sportlerin an der Highschool werden lassen. Sie spielte Basketball, war eine erstklassige Leichtathletin und die beste Werferin im Softballteam.

Als sie eines Tages durch Zufall in den Fitnessraum des Footballteams geriet, zeigte sich, dass sie größere Gewichte zur Hochstrecke bringen konnte als die meisten männlichen Sportler. Es war der Beginn ihrer Leidenschaft für das Gewichtheben. Pines Karriere führte steil nach oben; sie gewann einen Pokal nach dem anderen. Als sie aufs College wechselte, bezeichneten manche sie bereits als stärkste Frau der USA in ihrer Gewichtsklasse. Zielsicher strebte sie einen Platz im Olympiateam der Vereinigten Staaten an.

Es war ihr nicht geglückt.

Ein mickriges Kilogramm hatte gefehlt.

Anfangs war sie enttäuscht von sich selbst; es kam ihr beinahe so vor, als hätte sie Mercy im Stich gelassen. Doch mit der Zeit legten sich Enttäuschung und Bitterkeit. Das Leben ging weiter, und Atlee machte sich auf zu neuen Ufern.

Ihr nächstes Ziel war das FBI gewesen, eine Laufbahn als Ermittlerin – die einzige, die sie von nun an für sich sah und die sie mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit verfolgte. Als junge Agentin hatte es sie von Anfang an nach Westen gezogen, denn in den weiten, offenen Landschaften machten einige der übelsten Verbrecher der USA Jagd auf ihre Opfer. Pine hatte viel über diese Psychopathen gelesen und sich eingehend mit ihnen beschäftigt. Dabei hatte sie sich zu einer so guten Profilerin entwickelt, dass man ihr einen Job bei der Behavioral Analysis Unit des FBI anbot, der Abteilung für Verhaltensanalyse, um dort Verbrechen an Kindern zu untersuchen.

Pine hatte das Angebot abgelehnt. Sie wollte diese Monster nicht analysieren. Sie wollte sie jagen und zur Strecke bringen. Sie wollte den Mördern, Folterern und Vergewaltigern höchstpersönlich ihre Rechte vorlesen und dann dabei zuschauen, wie die Justiz sie an einen Ort verfrachtete, an dem sie keinen Schaden mehr anrichten konnten.

Dies alles war ihr in dem Moment vorherbestimmt gewesen, als jemand Mercy auf die Stirn getippt und dabei mit eiskalter Endgültigkeit die letzte Silbe eines Abzählreims gesprochen hatte.

So hatte sich Atlee Pines Leben entwickelt.

Bis vor sechs Monaten, als ein Freund, der einiges über ihre Vergangenheit wusste, ihr vorschlug, bestimmte Kindheitserinnerungen mithilfe von Hypnose wieder zum Leben zu erwecken.

Pine wusste von dieser Möglichkeit, da das FBI selbst sie in einigen Fällen angewandt hatte – mit wechselndem Erfolg. Es war eine umstrittene Methode, die ihre Fürsprecher und Kritiker hatte. Pine wusste, dass in manchen Fällen falsche Erinnerungen zustande gekommen waren, für die unschuldige Menschen hatten büßen müssen.

Doch letztendlich war es viel zu verlockend. Und was hatte sie schon zu verlieren?

Nach mehreren Sitzungen mit dem Hypnotherapeuten war Daniel James Tor aus den dunklen Tiefen von Pines Unterbewusstsein aufgetaucht, bedrohlich wie ein finsterer Schatten – eine sadistische Bestie, die aus ihrer düsteren Höhle ans Tageslicht kam.

Das Problem dabei war, dass Pine schon vor ihren Hypnosesitzungen alles über Daniel James Tor gewusst hatte. Wer sich mit Serienmördern beschäftigte, kannte zwangsläufig den Namen dieses Mannes, der sogar zweifelhafte Berühmtheiten wie Ted Bundy in den Schatten gestellt hatte. Pine hatte Tors Werdegang studiert, kannte seine verbrecherischen Aktivitäten und den Hintergrund seiner Opfer.

Somit drängten sich mehrere Fragen auf: War Tor aus ihrem Unterbewusstsein aufgetaucht, weil er tatsächlich in der Nacht des 7. Juni 1989 durch das Fenster in ihr Schlafzimmer eingedrungen war? Oder war er ihr in der Hypnose erschienen, weil sie es so wollte? Weil er sich zur Tatzeit in der Gegend aufgehalten hatte? Würde eine Begegnung mit diesem Mann ihr ein wenig Frieden schenken, unabhängig davon, ob er der Täter war oder nicht?

Pines Vater war seit Langem tot: Er hatte sich in einem heruntergekommenen Motel in Louisiana eine Woche lang mit Alkohol und Drogen zugedröhnt und sich dann, am Geburtstag seiner beiden Töchter, eine Ladung Schrot in den Kopf gejagt. Pine glaubte nicht an einen Zufall. Sie vermutete, dass Dad ihr damit hatte sagen wollen, dass er sich selbst die Schuld gab an dem, was damals geschehen war. Leider hatte er damit nur erreicht, dass Pine nun an jedem ihrer Geburtstage daran denken musste, dass ihr Vater sich den Kopf weggepustet hatte.

Ihre Mutter lebte noch. Pine wusste, wo sie wohnte, doch sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen. Seit Pine erwachsen war, hatten sich die Differenzen zwischen Mutter und Tochter zu einer Kluft von der Größe des Grand Canyon erweitert – ein Bild, das auf seltsame Weise Realität zu sein schien, genauso wie die verschütteten Erinnerungen an die grauenvolle Nacht, als Mercy verschwunden war. Pine hatte die Erfahrung gemacht, dass das menschliche Bewusstsein über gewaltige Macht verfügte. Es konnte einen dazu bringen, Dinge zu sehen, die nicht da waren, oder Dinge zu übersehen, die man direkt vor Augen hatte.

War es wirklich Tor gewesen, der damals in ihr Zimmer eingedrungen war? Oder hatte sie die Hypnose dazu benutzt, sich etwas einzureden?

Sie wusste es nicht.

Erneut schloss sie die Augen, schlug sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Diesmal lag es nicht daran, dass sie nicht schlafen konnte.

Da draußen war jemand.

Pine brauchte zwanzig Sekunden, um in Hemd, Hose und Schuhe zu schlüpfen, ihre Beretta ins Fußholster zu schieben und sich die Glock zu schnappen.

Dann tat sie, was sie immer tat, wenn sie nicht wusste, womit sie es zu tun hatte.

Atlee Pine ging geradewegs auf das Unbekannte los.