44

Sie zahlten bar, als sie in einem Motel im Stafford County, Virginia, eincheckten, ungefähr eine Autostunde südlich von Washington.

Sie quartierten sich in einem kleinen, düsteren Zimmer ein und ließen auch hier ihre Taschen gepackt.

Blum setzte sich auf eines der Einzelbetten.

»Glauben Sie, dass Kurt deswegen Ärger kriegt? Weil er uns seine Wohnung überlassen hat?«

»Ich habe ihm gesagt, er soll behaupten, dass er keine Ahnung hatte, in was ich verwickelt bin. Aus seiner Sicht bin ich bloß eine gute Freundin, die für einen Aufenthalt in der Stadt eine Bleibe brauchte. Woher sollte er wissen, was ich hier vorhatte?«

»Trotzdem frage ich mich, woher er wusste, dass die hinter uns her sind.«

»Kurt arbeitet für die Strafverfolgungsbehörde der Army. Er hat Freunde beim Militär und in den Geheimdiensten. Jemand muss ihm einen Tipp gegeben haben.«

»Was glauben Sie, wie das FBI zu der ganzen Sache steht?«

Pine setzte sich auf das andere Bett, zog ihre Schuhe aus und legte sich hin. »Schwer zu sagen. Bestimmt wissen die jetzt, dass ich gelogen habe und nicht nach Utah gefahren bin. Und dass ich weiter ermittle, obwohl sie mich von dem Fall abgezogen haben. Auch die Sache mit den falschen Cops am Dulles Airport dürfte ihnen inzwischen bekannt sein.«

»Glauben Sie, das FBI weiß auch über Simon Russells Rolle Bescheid?«

»Keine Ahnung. Vielleicht wissen unsere Leute nicht einmal, dass die Priest-Brüder mit einem Army-Hubschrauber entführt wurden. Wer weiß, vielleicht beschäftigen sie sich gar nicht mit dem Fall.«

»Warum nicht?«

»Nationale Sicherheit hat immer Vorrang. Möglicherweise hat man sie zurückgepfiffen – so wie mich.«

»Was meinen Sie, wie könnte so ein Umsturzversuch aussehen?«, fragte Blum nachdenklich.

»Nun ja, oft war es ja so, dass der Präsident oder eine Gruppe von Militärs die Kontrolle über die Medien an sich gerissen und aus einem vorgeschobenen Grund das Kriegsrecht erklärt haben. Dann verkünden sie, dass es bis auf Weiteres keine Wahlen gibt, weil das Land bis hinauf in höchste Ämter von Feinden unterwandert ist. Das wiederum ist ihre Rechtfertigung, sich über alle demokratischen Regeln hinwegzusetzen. Als Nächstes erklärt der Präsident, er werde sein Amt auf Lebenszeit ausüben. Sehen Sie sich an, was in China vor sich geht. Es kann aber auch sein, dass die Generäle Panzer in die Hauptstadt schicken und verkünden, dass sie die Macht übernehmen und für allgemeine Sicherheit sorgen werden. Die Bürger müssten bloß ihre Anweisungen befolgen. Der Putsch kann aber auch von einer Gruppe hochrangiger Berater ausgehen. Oder von ein paar Milliardären, denen es nicht mehr genügt, die Politik durch ihre Aktionskomitees und Lobbyisten zu beeinflussen, und die einen direkteren Weg suchen, das zu bekommen, was sie wollen.«

Blum blickte sie ratlos an. »Was sollen wir tun?«

»Wenn ich das wüsste, Carol. Für mich ist das ebenfalls Neuland. In Quantico bringen sie einem nicht bei, wie man einen Putsch gegen die US-Regierung bekämpft. Vielleicht sollten sie das ins Programm aufnehmen.«

»Wie sieht unser nächster Schritt aus?«

Statt einer Antwort nahm Pine die Unterlagen mit den Dateinamen von Ben Priests Computer zur Hand. »Wir müssen erst einmal das Passwort für den USB-Stick knacken. Vielleicht verbirgt sich die Lösung in den Namen der anderen Dateien.«

Sie stellte ihren Laptop aufs Bett, klappte ihn auf und legte die Seiten mit den Dateinamen daneben. »Immerhin wissen wir schon, dass Priest zu denen gehört, die ihre Passwörter von persönlichen Dingen ableiten.«

»Was könnte er in diesem Fall gewählt haben?«, überlegte Blum laut.

»Vielleicht irgendwas bei ihm zu Hause«, meinte Pine. »Nur war da nicht viel außer dem Basketball und dem Sporttrikot.«

»Könnte es etwas Persönliches sein? Etwas Privates, das nichts mit dem Haus zu tun hat?«

»Ja, sicher.« Pine nickte. »Okay, Priest hat zwei Neffen. Sie hatten doch mit der Frau seines Bruders über die Familie gesprochen, nicht wahr?«

»Ja. Die Jungen heißen Billy und Michael, elf und neun Jahre alt.«

Pine notierte es auf einem Blatt Papier. »Was noch?«

»Der Ältere fährt Wasserski und spielt Baseball. Der Jüngere liebt Lacrosse, ist eine Leseratte und spielt Bassgitarre. Beide Jungs verbringen zu viel Zeit in sozialen Netzwerken und kleben regelrecht am Smartphone. Und beide scheinen der Ansicht zu sein, dass ihr Dad so was wie ihr persönlicher Geldautomat ist. Vielleicht liegt das daran, dass er die ganze Zeit arbeitet.«

»Das alles haben Sie bei einem einzigen Mittagessen mit einer Frau erfahren, die Sie gerade erst kennengelernt haben?«

»Sie kennen Mütter schlecht. Die lassen sich nicht lange bitten, wenn es um Informationsaustausch über ihre Sprösslinge geht.«

Pine hatte sich Notizen gemacht. »Okay, das sind schon mal eine ganze Reihe mögliche Passwörter. Versuchen wir’s.«

In den nächsten Stunden gab sie verschiedene Wortkombinationen ein, die auf Blums Informationen beruhten. Auch die Namen von Priests Computerdateien versuchte sie einzubauen.

Es war sinnlos.

Als Pine mit der letzten möglichen Kombination durch war, lehnte sie sich enttäuscht zurück und lauschte dem Regen, der auf das Dach des einstöckigen Motels trommelte.

Blum, die auf ihrem Bett eingenickt war, erwachte wenig später. »Sie hatten kein Glück, nehme ich an?«, fragte sie schlaftrunken.

»War nicht anders zu erwarten.«

»Es ist fast Mittag, und ich bin am Verhungern. Gehen wir was essen? Ein Stück die Straße runter habe ich im Vorbeifahren einen Diner gesehen.«

Sie fuhren zum Restaurant, bestellten ihr Essen und tranken Kaffee, während es draußen immer dunkler wurde. Es goss in Strömen.

Blum blickte hinaus in das eintönige Grau. »Meine Güte, ist es hier immer so? Ich bekäme hier Depressionen.« Sie schaute zu Pine. »Ist das der Grund, warum Sie in den Südwesten gegangen sind? Das Wetter?«

»Nein.« Pine schüttelte den Kopf. »Die Leute.«

»Die Leute?«

»Ich mag keine Menschenmengen«, fügte Pine erklärend hinzu.

»Was ist denn für Sie eine Menschenmenge?«

»So ziemlich alles, was über drei Personen hinausgeht.«

»Okay, dann tut’s mir leid, dass ich Sie mit meiner Anwesenheit einenge«, sagte Blum etwas pikiert.

»Wissen Sie, Carol, uns zwei sehe ich eher als Einheit. Wenn ich also von mir spreche, schließt das Sie mit ein, und umgekehrt.«

»Damals, mit meinen sechs Kindern zu Hause, wäre ich gern mal ein bisschen für mich allein gewesen. Es kam mir vor, als würde mich ständig jemand rufen und irgendetwas von mir wollen.«

»Und heutzutage?«, fragte Pine.

»Heutzutage lebe ich allein. Ich wache allein auf, esse allein, geh allein zu Bett.« Sie schaute Pine über ihre Kaffeetasse hinweg an. »Ich würde es niemandem empfehlen, wirklich. Auch wenn die Menschen um einen herum manchmal nerven. Es sind die einfachen Dinge, die einem viel bedeuten können – jemanden neben dir zu haben, der dir im Bett die Füße wärmt, der dir ein Aspirin bringt, wenn dir der Schädel brummt, und eine Million andere Dinge.«

Während des Essens war Pine ungewohnt still und in sich gekehrt, obwohl Blum versuchte, das Gespräch in Gang zu halten.

Als sie die leeren Teller von sich schoben, fragte Blum: »Was ist los? Woran denken Sie die ganze Zeit?«

»An den Fall. An meine Karriere. Ob eines davon im Eimer ist. Oder beides.«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, sich beruflich zu verändern? Etwas anderes zu machen, das nichts mit dem FBI zu tun hat?«

»Nein.«

»Wissen Sie, ich bin Sternzeichen Löwe. Man sagt, wir sind Kontrollfreaks mit einer einfühlsamen Seite. Aber wir passen uns an. Ich denke, das können Sie auch. Welches Sternzeichen sind Sie?«

Pine starrte sie an, ohne auf die Frage einzugehen.

»Was ist los?«, fragte Blum verwirrt.

Sie zuckte zusammen, als Pine unvermittelt aufsprang und ein paar Geldscheine auf den Tisch warf.

»Gehen wir.«

»Was ist denn?«, fragte Blum, als sie im Auto saßen und zum Motel rasten.

»Um Ihre Frage zu beantworten – ich bin Steinbock.«