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Der berühmte Grand-Canyon-Express.
Pines Blicke ruhten auf dem Bahnhofsgebäude von Williams, Arizona. Von hier aus fuhr der Zug ab, der die Besucher bis fast an den Rand der Schlucht brachte. Die fünfundsechzig Meilen bis zum South Rim bewältigte er in zweieinviertel Stunden. Der Flug von Phoenix nach Seattle nahm weniger Zeit in Anspruch.
Pine hatte bereits mit verschiedenen Bahnmitarbeitern gesprochen und ihnen ein Foto des echten Benjamin Priest gezeigt. Niemand konnte sich erinnern, den Mann im Zug oder auf dem Bahnhof gesehen zu haben. Als Pine den Leuten dann eine Beschreibung des falschen Priest gab, erfuhr sie, dass mehrere Männer, die so aussahen, beobachtet worden waren.
Tatsächlich hatte jemand unter dem Namen Benjamin Priest ein Rundreiseticket gekauft und es für die Fahrt zum South Rim benutzt. Also musste der Gesuchte im Zug gesessen haben. Die Rückfahrt nach Williams war jedoch nicht in Anspruch genommen worden. Der Mann hatte das Ticket bar bezahlt, sodass es keine Möglichkeit gab, anhand einer Kreditkartennummer zu ermitteln, um wen es sich handelte. Auch das deutete darauf hin, dass der Betreffende seine Identität verbergen wollte.
Als Nächstes suchte Pine das Railway Hotel auf. Die Lobby war mit einem Kamin, einem dicken Teppich, blank polierten Holzbalustraden und eleganten Säulen ausgestattet. Alles strahlte eine Atmosphäre gediegener Gastlichkeit aus. Die Besitzer des Hotels, das von Gästen lebte, die mit dem Zug an- und abreisten, hatten keine Kosten gescheut, um die Reisenden zum Bleiben zu bewegen.
Pine trat an den Empfangstisch, zeigte der jungen Frau das Foto des echten Priest und sagte ihr, wann er vermutlich hier gewesen war. Dann beschrieb sie ihr den Mann, der sich als Priest ausgegeben hatte.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kann mich an keinen der beiden erinnern.«
»Hatten Sie zu der Zeit Dienst?«
»Ja. Ich mache die Tagschicht.«
»Nur Sie? Oder gibt es für diese Zeit noch jemanden an der Rezeption?«
»Nein, dann bin nur ich hier.«
»Verstehe. Hat ein Gast namens Benjamin Priest an diesem Tag bei Ihnen eingecheckt?«
Die Frau tippte etwas in ihren Computer ein und schüttelte den Kopf. »Nein, ein Mr. Priest war nicht bei uns.«
Das musste nicht viel heißen, wie Pine wusste. Er konnte einen anderen Namen benutzt und sein Aussehen verändert haben. Sie bedankte sich und verließ das Hotel mit der Erkenntnis, dass die Fahrt hierher praktisch umsonst gewesen war.
Sie stieg in ihren Wagen und ließ den Motor an.
In diesem Augenblick summte ihr Handy. Es war Carol Blum.
»Ich schicke Ihnen einen Artikel, den ich in der Arizona Gazette gefunden habe«, sagte Blum.
»Worum geht’s?«
»Um eine Expedition, die vor langer Zeit im Grand Canyon stattgefunden haben soll.«
»Wann genau?«
»1909.«
»Und was hat das mit meinem Fall zu tun?«
»Lesen Sie den alten Zeitungsbericht. Ich schicke Ihnen dazu noch einen aktuellen Artikel, in dem der von 1909 ganz schön zerpflückt wird. Wenn Sie beide gelesen haben, werden Sie die Verbindung zu diesem Fall sehen.«
»Okay. Können Sie mir wenigstens einen Hinweis geben?«
»Die Buchstaben J und K spielen in der Geschichte eine wichtige Rolle – sie wurden angeblich irgendwo im Grand Canyon in den Fels geritzt.«
»Was?«
»Lesen Sie zuerst den Artikel, dann reden wir weiter.«
Pine saß ein paar Augenblicke da, von der kalten Luft der Klimaanlage umweht, während es draußen brutal heiß war. Die Luftfeuchtigkeit lag zwar nicht allzu hoch, dennoch war dreißig Grad etwas zu warm für Pines Geschmack.
Ihr Handy gab einen Signalton von sich, und sie öffnete die E-Mail. Blum hatte den Artikel offenbar vergrößert, damit er leichter zu lesen war. Pine brauchte nur ein paar Minuten.
Im Jahr 1909 hatten zwei Forscher namens Jordan und Kinkaid im Auftrag der Smithsonian Institution angeblich ein Höhlensystem im Grand Canyon entdeckt.
Jordan und Kinkaid?
J und K.
Pine las weiter.
Die beiden Forscher hatten von Spuren einer alten Zivilisation berichtet, die sie angeblich in dieser Höhle entdeckt hatten – einer Zivilisation, die womöglich aus dem Orient stammte, vielleicht sogar aus Ägypten. Dem Artikel zufolge hatten Jordan und Kinkaid in einer unterirdischen Zitadelle Mumien, Graburnen und eine Buddhastatue gefunden.
Der zweite Artikel, erst vor wenigen Jahren veröffentlicht, war um einiges detaillierter, und Pine benötigte zehn Minuten dafür. Der Autor war ebenso skeptisch wie Pine, was die angeblichen Funde von 1909 betraf, zumal die Smithsonian behauptete, keinerlei Aufzeichnungen über die beiden Forscher zu besitzen. Obendrein hatte Kinkaid, der dem ersten Artikel zufolge eine für damalige Verhältnisse erstklassige Kamera dabeigehabt hatte, kein einziges Foto von seiner angeblichen Jahrhundertentdeckung mitgebracht. Der Autor vermutete, dass die bei der damaligen Expedition gefundene Höhle irgendwo zwischen Ninety-four Mile Creek und Trinity Creek liegen müsse.
Pine wusste, dass es in der Gegend einige markante Punkte gab, die ägyptische Namen trugen: Turm des Set, Isis-Tempel und Osiris-Tempel. Der aktuelle Artikel erklärte dies damit, dass zu der Zeit, als diese Felsformationen ihre Namen erhielten, große Expeditionen in Ägypten stattgefunden und die Zeitungen ausführlich darüber berichtet hatten. Im Bereich des sogenannten Haunted Canyon gab es Ortsnamen wie »Cheopspyramide«, »Buddha-Kloster« und »Shiva-Tempel«. Viele Orte im Canyon waren nach Göttern und Göttinnen nicht nur aus dem alten Ägypten, sondern auch aus der griechischen, indischen, chinesischen und germanischen Mythologie benannt.
Der Autor des Artikels führte weiter aus, dass es im Canyon tatsächlich viele Höhlen gebe, die nach und nach von Wanderern und Forschern entdeckt worden waren. Die Höhle, von der Jordan und Kinkaid berichtet hatten, war, so vermutete er, von den Anasazi bewohnt worden, die sich als Erste in dem Tal angesiedelt hatten. Sie hatten in Pueblos gehaust und Höhlen in den Fels getrieben, wie es viele alte Kulturen getan hatten.
Die Navajo waren Nachfahren der Anasazi, deren Name in der Sprache der Navajo so viel wie »Die Alten« bedeutete. Es gab sogar eine sogenannte »Mumienhöhle« im Canyon de Chelly, in dem die Anasazi gelebt hatten. Sie lag etwa hundert Meter über der Talsohle und bestand aus zwei aufeinanderfolgenden Höhlen, die einen Wohnraum mit mehr als fünfzig Kammern enthielten, von denen einige für Zeremonien genutzt wurden.
Schließlich kam Pine zum letzten Absatz des Artikels. Der Autor mutmaßte, dass Jordan und Kinkaid über dem Höhleneingang die Buchstaben J und K in den Fels geritzt hatten. Pine wusste nicht, wie er zu dieser nicht näher begründeten Annahme kam.
Als sie fertig war, rief sie Blum an. »Wie haben Sie das Material so schnell gefunden?«
»Ich bin in Arizona aufgewachsen, deshalb kannte ich den Artikel in der Gazette von 1909. Das gehört zur Geschichte unserer Gegend. Als junges Mädchen bin ich mit meinem Vater öfter ins Tal des Canyons gewandert. Er hat sich in seiner Freizeit mit der Geschichte der Gegend beschäftigt und mir von der alten Legende erzählt, als er mir die Felsformationen mit den ägyptischen Namen zeigte. Ich hielt diese alten Geschichten für Quatsch, aber mein Dad glaubte anscheinend, dass da etwas dran war. Trotzdem – ich meine, Ägypter in Arizona? Also wirklich. Andererseits … was hat es mit den Buchstaben J und K auf sich? Das deutet doch auf Jordan und Kinkaid hin. Das ist mir jedenfalls eingefallen, als Sie heute Morgen sagten, ich könnte mich mal umschauen. Vielleicht hat es überhaupt nichts mit Ihrem Fall zu tun, aber ich habe sonst nichts gefunden, was irgendwie relevant sein könnte.«
»Gute Arbeit, danke. Sie kennen den Canyon also recht gut?«
»O ja, wir haben da viele Wanderungen gemacht, als ich jünger war. Auch den Ritt auf einem Muli – aber das ist lange her.«
»Gut zu wissen.«
»Kommen Sie zurück ins Büro?«
»Ich glaube schon.« Pine warf einen Blick auf die Uhr. »Ich weiß, dass Sie in einer Stunde nach Hause gehen.«
»Ich bleibe gerne länger und arbeite weiter an der Sache. Ich hab heute sowieso nichts Besseres zu tun.«
»Dann beantrage ich Überstunden für Sie.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Agentin Pine. Es ist schön, wenn man sich nützlich machen kann.«
»Danke. Dann bis später.«
Pine fuhr los und fragte sich, was eine Expedition, die vielleicht nie stattgefunden hatte, mit einem toten Maultier und der nationalen Sicherheit zu tun haben konnte.
Vielleicht will ich die Antwort gar nicht wissen.