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Pine zog sich tiefer zwischen die Felsen zurück, als die drei Männer in ihre Richtung kamen.
Sie trugen Tarnkleidung, aber keine Militäruniformen. Es gab keine Abzeichen, keine Namensschilder, keinen Hinweis auf einen militärischen Rang. Dennoch sahen sie eindeutig nach Militär aus, ausgerüstet mit Nachtsichtgeräten und Sturmgewehren.
Pine stieß einen lautlosen Fluch aus, weil es ausgerechnet jetzt heller wurde. Das Licht hier unten im Canyon konnte atemberaubend sein, ein beinahe überirdisches Erlebnis. Nun aber wünschte Pine sich zum ersten Mal, dass es dunkel bliebe.
Allein daran, wie die Männer sich im Gelände bewegten, war zu erkennen, dass es sich um Profis handelte. Sie bildeten ein eingespieltes Team: ein Mann an der Spitze, die beiden anderen an den Flanken. Dabei verständigten sie sich rasch und effizient mittels Handzeichen, während sie mit geschultem Blick die Umgebung absuchten, ohne das kleinste Detail zu übersehen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Pine bemerkten.
Es würde kein langer Kampf werden, das war ihr klar. Flüchtig fragte sie sich, wo die Kerle sie begraben würden.
Falls sie sich überhaupt die Mühe machen.
Warum waren sie hier?
Es gab nur eine Antwort: Die Männer mussten – genau wie Pine – zu der Schlussfolgerung gelangt sein, dass Roth sich irgendwo hier unten aufhielt, wahrscheinlich in einer der zahllosen Seitenschluchten. Und das wiederum verriet Pine noch etwas:
Auch diese Männer wussten von Roths Plan, höchstwahrscheinlich von Ben Priest. Hatten sie ihn einem verschärften Verhör unterzogen? Und was war mit dem bedauernswerten Ed Priest, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dass er Bens Bruder war und sich Sorgen um ihn gemacht hatte?
Während Pine die Männer im Auge behielt, zog sie ihr Handy hervor. Ein großer Anbieter hatte auf dem Gelände des Nationalparks einen Handymast errichtet, über den die Kunden, zu denen auch Pine gehörte, mit etwas Glück eine Verbindung bekamen.
Kein Netz erschien auf dem Handydisplay.
Wieder fluchte Pine in sich hinein.
Wenn ich hier lebend rauskomme, suche ich mir als Erstes einen neuen Anbieter.
Aus ihrer Deckung beobachtete sie, wie der narbengesichtige Mann an der Spitze der Dreiergruppe zu einer kleinen tragbaren Kommunikationseinheit griff, die er an seiner Panzerweste trug, und ein paar Worte ins Mikro sprach. Offenbar verfügten die Männer über eine sichere Satellitenverbindung.
Die sind bestens ausgerüstet.
Pine hatte den starken Verdacht, dass diese Männer Soldaten der US Army oder Angehörige einer paramilitärischen Einheit der CIA waren. Der Gedanke, dass sie demselben Land dienten wie sie selbst, war mehr als beunruhigend. Auch die Männer in Simon Russells Haus, die Russell hatten foltern wollen, waren Staatsbedienstete gewesen. Amerikanische Landsleute.
Pine wusste, wenn sie zu den drei Männern ging und ihren FBI-Ausweis zückte, würden sie ihr eine Kugel in den Kopf jagen. Und eine zweite, um sicherzugehen.
Der Narbengesichtige beendete sein Gespräch und gab den beiden anderen Männern ein Zeichen. Alle drei machten kehrt und bewegten sich zum Eingang der Schlucht zurück.
Pine stieß einen erleichterten Seufzer aus und schaute zum langsam aufhellenden Himmel empor. Wahrscheinlich hatte die Morgendämmerung ihr das Leben gerettet, denn die Männer fürchteten das Licht ebenso wie sie. Vermutlich waren sie die ganze Nacht unterwegs gewesen.
Wo ist ihr Lager? Hier im Canyon? Oder hat ein Hubschrauber sie eingeflogen und holt sie auch wieder ab?
Das wäre ein Verstoß gegen die Vorschriften des Park Service. Aber es war gut möglich, dass irgendein Mächtiger die Finger im Spiel hatte – jemand, der die Autorität besaß, sich über Richtlinien hinwegzusetzen.
Und über Gesetze.
Bei diesem Gedanken überlief es Pine eiskalt.
Sie wartete sicherheitshalber noch eine halbe Stunde, ehe sie ihr Versteck verließ.
Wenig später schlug sie ihr Lager hinter einem mächtigen Felsvorsprung auf, der ihr Deckung und Schatten bot. Schon bald würde es hier unten glühend heiß werden. Pine hatte zuvor schon an einer geeigneten Stelle ihre Trinkblase und einen zusätzlichen Wasserbeutel mit frischem, gefiltertem Wasser gefüllt.
Nun saß sie im Schatten und überlegte ihre nächsten Schritte. Sie aß und trank gerade genug, um Hunger und Durst zu stillen, nicht mehr, sonst machte die Hitze einen fertig, wie sie wusste. Man fühlte sich schlapp, benommen, desorientiert. Es konnte Stunden, sogar Tage dauern, bis man sich erholt hatte – ein Luxus, den Pine sich nicht leisten konnte.
Die Begegnung mit den drei Bewaffneten sagte ihr, dass die Gegenseite, wer immer sie sein mochte, Roth noch nicht gefunden hatte. Die drei Männer waren bestimmt nicht hier, um nach Atlee Pine zu suchen. Sie konnten unmöglich wissen, dass sie sich im Canyon aufhielt.
Waren die Männer ebenfalls auf der Suche nach der Atomwaffe?
Es wäre eine absurde Situation. Roth war anerkannter Experte für Massenvernichtungswaffen. Warum arbeitete er nicht mit den Regierungsbehörden zusammen, um die Bombe zu finden?
Geduldig ertrug Pine die drückende Hitze, legte hin und wieder ein kurzes Nickerchen ein und achtete darauf, genug zu trinken.
Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen, um bei Tageslicht nach Roth zu suchen, doch die Vernunft gebot ihr abzuwarten. Wenn sie sich jetzt auf den Weg machte, würde die Hitze ihr den Rest geben – oder die drei Männer mit den Sturmgewehren. Es war besser, die Suche in der Nacht fortzusetzen.
Die Dunkelheit brach schnell herein, wie immer auf dem Grund des Canyons.
Pine erwachte gegen neun Uhr abends und blickte zum Himmel. Um diese Jahreszeit entlud sich die Hitze des Tages oft in heftigen Gewittern. Auch an diesem Abend schien sich ein Unwetter zusammenzubrauen.
Sie zog einen Regenumhang über und vergewisserte sich, dass der Reißverschluss ihres Rucksacks zugezogen war. Kurz erwog sie, den Rucksack an einer geschützten Stelle zurückzulassen, aber dann hätten Eichhörnchen, Mäuse und andere Nager sich darüber hergemacht. Deren Zähnen hielt kein noch so festes Material auf Dauer stand – einer der Gründe, weshalb der Park Service dafür gesorgt hatte, dass die Wanderer und Camper auf den Lagerplätzen ihr Gepäck an hohen Metallstangen aufhängen konnten.
Pine hatte gerade noch Zeit, in Deckung zu gehen, bevor der erste Blitz über den Himmel zuckte. Das Donnern schien den ganzen Canyon erbeben zu lassen.
Mit dem zweiten Donnerschlag setzte heftiger Regen ein. Der Felsen über Pines Kopf bot ihr einen gewissen Schutz, aber nur so lange, bis der auffrischende Wind die Regenschwaden waagerecht vor sich her gegen die Felsen peitschte. Es war ein wenig kühler geworden, doch hier unten auf der Talsohle war es nicht so extrem wie an den Rändern des Canyons, wo bei einem Gewitter die Temperatur binnen weniger Minuten um bis zu zehn Grad fallen konnte. Pine schwitzte, obwohl der Regen ihre Kleidung durchnässte.
Eine halbe Stunde später war das Gewitter vorübergezogen, und der Himmel klarte auf. Pine warf einen Blick auf den Kompass und machte sich auf den Weg.
Ungefähr eine Stunde später öffnete sich die zweite Seitenschlucht vor ihr.
Es war kurz vor Mitternacht. Mithilfe ihrer Nachtoptik bewältigte Pine das tückische Gelände. Es gab hier keine markierten Wege oder Warnschilder. Wahrscheinlich hatte sich schon lange kein Wanderer mehr in diesen Teil des Canyons verirrt.
Langsam arbeitete Pine sich weiter vor, wobei sie ständig nach Schlangen und anderen Gefahren Ausschau hielt. Wer hier verunglückte, wurde manchmal erst Wochen, Monate oder Jahre später gefunden. Im Canyon waren immer wieder Personen verschwunden; nicht selten hatte man erst nach langer Zeit ihre skelettierten Überreste entdeckt. In dieser Wildnis machten sich die Aasfresser schnell und gründlich ans Werk, meist noch, bevor der Betreffende tot war. Warum warten, wenn die Mahlzeit schon angerichtet ist?
Pine hatte die ganze Nacht nach den drei Bewaffneten Ausschau gehalten, war ihnen zum Glück aber nicht mehr über den Weg gelaufen und hatte den gut zugänglichen Abschnitt der Seitenschlucht relativ schnell durchkämmt. Das Ergebnis: keine Höhle, kein David Roth und erst recht keine Atombombe.
Pine zog weiter und schlug ihr Lager unweit der nächsten Schlucht auf, die sie erkunden würde. Hier war sie vor neugierigen Blicken geschützt und befand sich zudem auf einer erhöhten Position, von der sie die Umgebung überschauen konnte.
Sie frühstückte und legte sich hin, um Kräfte zu sammeln. Als sie ein paar Stunden später erwachte, überlegte sie, ob sie ihre Suche noch bei Tageslicht fortsetzen sollte.
In diesem Moment hörte sie das Knattern eines Helikopters über dem Canyon.
Sie schaute hoch und sah, dass es einer der Touristenhubschrauber war, der über die Schluchtränder des Canyons hinwegflog. Es war den Piloten verboten, tiefer zu gehen; dennoch bestand für Pine die Gefahr, dass jemand sie hier unten sah. Grund genug für sie, ihre Suche auf die Dämmerung und die Nachtstunden zu beschränken.
Also saß sie in ihrem provisorischen Lager, aß Nüsse und Dörrfleisch und trank dazu gefiltertes Wasser. Ihr war heiß, und ihr Körper war steif vom Schlafen auf dem harten Steinboden. Nach der kargen Mahlzeit lehnte sie sich an einen Felsvorsprung, schloss die Augen und versuchte, noch ein wenig zu ruhen. Da ihr Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander war, hatte ihre innere Uhr die Orientierung verloren, aber das ließ sich im Moment nicht ändern.
Sie zog einen Teil ihrer Kleidung aus und betrachtete ihre nackten Arme, wobei ihr Blick an der Tätowierung hängen blieb. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über den Namen ihrer Schwester, zog jeden Buchstaben des MERCY langsam nach. Sie erinnerte sich noch genau an den Abend, an dem sie die Tätowierung hatte stechen lassen. Der Tätowierer hatte keine Fragen gestellt, als Pine ihm erklärt hatte, was ihr vorschwebte. Donny hatte der Mann geheißen. Ein hoch aufgeschossener, dürrer Bursche, der ihr anvertraut hatte, dass er jahrelang von Crystal Meth abhängig gewesen war.
»Von dem Mistzeug magerst du ab«, hatte er Pine gewarnt. »Viel mehr als vom Rauchen. Inzwischen bin ich clean, aber mein Appetit ist bis heute nicht richtig zurückgekommen. Lass bloß die Finger von dem Dreck.«
Pine checkte ihre Vorräte. Sie hatte genug Proviant, um noch eine weitere Schlucht abzusuchen. Dann aber würde sie umkehren müssen; es war eine lange Wanderung zurück zum Bright Angel Trail. Und danach stand ihr der harte Aufstieg bevor.
Okay, sagte sie sich, aller guten Dinge sind drei.