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Das Gefängnis sah aus wie der Campus eines Kleinstadt-Colleges, nicht wie ein Ort, an dem Männer zehn und mehr Jahre wegen Verbrechen einsaßen, die sie in der Uniform der Armee der Vereinigten Staaten begangen hatten. Es gab keine Wachtürme, dafür zwei versetzt stehende, vier Meter hohe Sicherheitstürme, bewaffnete Patrouillen und genug Überwachungskameras, um jeden Millimeter des Geländes im elektronischen Blick zu behalten.
Die United States Disciplinary Barracks befanden sich am nördlichen Ende von Fort Leavenworth, direkt am Ufer des Missouri, auf vierzig bewaldeten Morgen im Hügelland von Kansas – eine Erhebung aus Ziegeln und Stacheldraht, die ein grüner Daumen errichtet hatte. Es war das einzige militärische Hochsicherheitsgefängnis für Männer in den Vereinigten Staaten, bekannt unter der Abkürzung USDB oder kurz »DB«.
Sechs Kilometer südlich des DB befand sich eine Haftanstalt für Zivilisten, eines von drei Gefängnissen auf dem Gelände von Fort Leavenworth. Zusammen mit der Regionalen Justizvollzugsanstalt der Streitkräfte, ebenfalls ein Militärgefängnis, befand sich eine vierte, privat geführte Anstalt in Leavenworth, womit die Gesamtzahl der Insassen aller vier Gefängnisse auf etwa fünftausend Personen stieg. Das Fremdenverkehrsamt von Leavenworth, das offensichtlich jede bekannte Einrichtung in der Gegend touristisch ausschlachten wollte, um Besucher anzulocken, hatte diese außergewöhnliche Ansammlung von Knästen mit dem Slogan »Lebenslang in Leavenworth« in die Werbebroschüren eingeflochten.
Regierungsgelder flossen durch diesen Teil von Kansas, schwappten wie eine Flut aus grünen Papierheuschrecken über die Grenze nach Missouri, kurbelten die lokale Wirtschaft an und füllten die Kassen von Läden, Schnellrestaurants und anderen Etablissements, in denen die Soldaten mit geräucherten Rippchen, kaltem Bier, schnellen Autos und billigen Nutten versorgt wurden.
Im DB saßen ungefähr 450 Häftlinge ein. Die Gefangenen waren in ausbruchsicheren Zellen untergebracht, darunter eine Special Housing Unit oder SHU, eine Isolationshaftzelle. Die Mehrzahl der Insassen war wegen Notzuchtvergehen hier. Sie waren größtenteils jung, ihre Haftstrafen lang.
Im Schnitt befanden sich an jedem beliebigen Tag etwa zehn Häftlinge in Einzelhaft, während die anderen im normalen Trakt untergebracht waren. Es gab keine Gitter an den Türen; sie bestanden aus festem Metall, und am Boden war ein Schlitz eingelassen, durch den die Tabletts mit dem Essen geschoben wurden. Diese Öffnung ermöglichte es obendrein, dem Gefangenen eiserne Fußfesseln anzulegen, wenn er transportiert werden musste.
Im Gegensatz zu anderen Staats- und Bundesgefängnissen wurde im DB Wert auf Disziplin und Respekt gelegt. Es gab keine Machtkämpfe zwischen den Häftlingen und dem Aufsichtspersonal. Hier herrschte das Militärgesetz, und die häufigste Antwort der Gefangenen lautete »Yes, Sir!«, dicht gefolgt von »No, Sir!«, wie auf dem Apellplatz.
Das DB verfügte über einen Trakt mit Todeszellen, in dem zurzeit ein halbes Dutzend verurteilte Mörder saßen, darunter der Fort-Hood-Killer. Außerdem gab es eine Hinrichtungskammer. Nur die Anwälte und Richter konnten entscheiden, ob einer der Bewohner der Todeszellen jemals in Kontakt mit der tödlichen Injektionsnadel kam – und das wahrscheinlich erst nach Jahren und Millionen von Dollar an Anwaltshonoraren.
Der Tag war schon lange in die Nacht übergegangen. Die Lichter einer zivilen Piper Cherokee, die vom nahen Sherman Airfield abhob, waren die einzigen Anzeichen von Aktivität. Es war jetzt still, doch eine düstere Unwetterfront, die sich bereits seit geraumer Zeit zusammenbraute, rückte aus dem Norden heran. Ein weiteres Tiefdrucksystem, das sich in Texas gebildet hatte, donnerte wie ein Güterzug mit defekten Bremsen auf den Mittelwesten zu und würde bald auf seinen nördlichen Gegenpart stoßen, was eine meteorologische Schlacht epischen Ausmaßes zur Folge haben würde.
Die gesamte Region duckte sich bereits in angespannter Erwartung.
Als die beiden zornigen Wetterfronten drei Stunden später aufeinanderstießen, war das Ergebnis ein Sturm von verheerender Wucht, mit schartigen Blitzen, die kreuz und quer den Himmel durchzuckten, Regen wie aus Kübeln und Sturmböen, deren Kraft keine Grenzen zu haben schien.
Die Stromleitungen verabschiedeten sich zuerst; sie wurden von umstürzenden Bäumen wie Bindfäden zerrissen. Dann gaben die Telefonleitungen den Geist auf, ehe weitere Bäume entwurzelt wurden und Straßen blockierten. Der benachbarte Kansas City International Airport war frühzeitig geschlossen worden. Keine Maschine startete oder landete, und der Terminal quoll vor Reisenden über, die das Unwetter aussaßen und Gott im Stillen dankten, dass sie auf festem Boden und nicht hoch oben in diesem Mahlstrom waren.
Im DB machten die Wärter ihre Runden, nippten im Pausenraum an ihrem Kaffee oder unterhielten sich leise und machten belanglosen Small Talk, damit ihre Schicht schneller vorüberging. Niemand dachte an den heftigen Sturm, der draußen tobte; sie wähnten sich in dieser Festung aus Stein und Stahl sicher. Das DB war wie ein gigantischer Flugzeugträger, dem eine steife Brise und schwere See zusetzte, ohne ihm etwas anhaben zu können. Nicht gerade angenehm, aber sie würden es problemlos überstehen.
Selbst als die reguläre Stromversorgung ausfiel, nachdem beide Transformatoren des benachbarten Umspannwerks in die Luft geflogen waren und das Gefängnis in vorübergehende Dunkelheit getaucht hatten, war niemand übermäßig besorgt. Der riesige Notfallgenerator sprang automatisch an; er war in einer bombensicheren Anlage mit eigener unterirdischer Energiequelle aus Naturgas untergebracht, die sich wohl niemals erschöpfen würde. Dieses sekundäre System setzte so schnell ein, dass der kurze Stromausfall nur ein paar flackernde Lampen und blinde Flecken bei den Überwachungskameras und Computermonitoren zur Folge hatte.
Einige Wärter tranken ihren Kaffee aus und tratschten weiter, während andere durch die Gänge stapften und in den Zellentrakten verschwanden, um sich zu vergewissern, dass die Welt des DB in Ordnung war.
Und das war sie – jedenfalls so lange, bis auf einmal Totenstille einsetzte, nachdem der angeblich narrensichere Generator mit dem angeblich endlosen Energievorrat in der angeblich bombensicheren Einrichtung ein Geräusch machte wie ein Riese mit Keuchhusten und den Geist aufgab.
Sämtliche Lampen, Kameras und Computerterminals erloschen gleichzeitig. Lediglich ein paar Überwachungskameras waren mit Sicherungsbatterien ausgestattet und arbeiteten deshalb weiter.
Dann wurde die Stille von rauen Schreien und den Geräuschen schneller Schritte vertrieben. Funkgeräte knisterten und knackten. Taschenlampen wurden von ihren Halterungen an Ledergürteln gerissen und eingeschaltet, boten aber nur spärliches Licht.
Und dann geschah das Undenkbare: Sämtliche automatischen Zellentüren öffneten sich.
Das sollte nun gar nicht passieren. Das System war so ausgelegt, dass die Türen sich automatisch von selbst verriegelten, wenn die Stromversorgung ausfiel, was zwar wenig erfreulich war für die Häftlinge, wenn ein Feuer ausbrach, aber so war es nun mal. Genauer gesagt, so sollte es sein. Doch nun hörten die Wärter im gesamten Gefängnisbau das Klicken von Zellentüren, die sich öffneten. Und dann strömten auch schon Hunderte von Häftlingen auf die Gänge.
Im DB waren keine Schusswaffen erlaubt. Den Wärtern standen lediglich ihre Autorität und Ausbildung zur Verfügung, dazu ihr Verstand und die Fähigkeit, die Stimmung der Insassen zu deuten. Ihre einzige Bewaffnung waren Schlagstöcke, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nun packten sie diese Schlagstöcke mit Händen, die nass waren vor Schweiß.
Da es beim Militär Regeln für jeden erdenklichen Notfall gab, galt auch für solch einen Fall eine sogenannte SOPS, eine Standardvorgehensweise. Die Army hatte normalerweise zwei Absicherungen für alle kritischen Belange. Im DB galt die Absicherung durch den Generator mit dem natürlichen Gasvorkommen als narrensicher.
Aber die hatte jetzt versagt. Nun fiel es den Wärtern zu, die Ordnung wiederherzustellen. Sie waren die letzte Verteidigungslinie. Das primäre Ziel bestand darin, alle Häftlinge wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das sekundäre Ziel war, die Knackis wieder sicher zu verschließen. Alles andere würde nach jedem militärischen Standard als inakzeptables Scheitern gelten. Karrieren – und mit ihnen Sterne und Streifen auf Uniformen – würden wie vertrocknete Nadeln von einem Weihnachtsbaum fallen, der Ende Januar noch nicht entsorgt war.
Da es weit mehr Gefangene als Wärter gab, waren einige taktische Überlegungen nötig, wollte man die Knackis wieder sicher wegsperren. Die wichtigste dieser Überlegungen sah vor, dass man sie im großen offenen Zentralbereich zusammentrieb, wo sie sich dann bäuchlings auf den Boden legen mussten. Das schien etwa fünf Minuten lang ganz gut zu klappen. Dann geschah etwas, das die Wachen noch tiefer in die Army-Handbücher blicken ließ und dafür sorgte, dass sich mehr als ein Afterschließmuskel – ob nun der eines Wärters oder eines Häftlings – fest zusammenzog.
»Schüsse!«, brüllte ein Wärter in sein Funkgerät. »Hier wird geschossen!«
Die Nachricht wurde weitergegeben, bis sie in den Ohren eines jeden Wärters klingelte. Schüsse fielen, und niemand wusste, woher sie kamen oder wer sie abgab. Und da kein Wärter über Schusswaffen verfügte, musste einer der Häftlinge sie haben. Vielleicht mehr als nur einer.
Die ohnehin verworrene Lage wuchs sich zum Chaos aus.
Und dann wurde es noch schlimmer.
Das Krachen einer Explosion erklang im Innern von Zellenblock Drei, in dem sich die Isolationshaftzelle befand. Nun geriet die Situation, die sowieso schon an Tumult grenzte, völlig außer Kontrolle. Nur ein überwältigender Aufmarsch bewaffneter Streitkräfte konnte die Ordnung wiederherstellen. Und es gab nur wenige Organisationen auf Erden, die solch einen Aufmarsch besser hinbekamen als die Armee der Vereinigten Staaten. Besonders, wenn diese Streitmacht sich gleich nebenan in Fort Leavenworth befand.
Wenige Minuten später preschten sechs grüne Lastwagen der Army durch die Tore der nun stromlosen Zäune des DB, deren Hightech-Systeme zum Aufspüren von Eindringlingen nicht mehr funktionierten. Militärpolizisten in SWAT-Ausrüstung, mit Schilden, schussbereiten Maschinenpistolen und Schrotflinten, strömten aus den Trucks und rückten in das Gefängnis vor. Dank ihrer Nachtsichtbrillen der neuesten Generation hatten die Männer klare Sicht; die Dunkelheit im Gefängnis wirkte für sie so hell und klar wie ein Xbox-Spiel.
Die Häftlinge gaben sofort auf. Wer noch stand, warf sich auf den Bauch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Gefangenen wussten, dass sie gegen hervorragend ausgebildete Soldaten, die auf einen Kriegsfall eingerichtet waren, keine Chance hatten.
Die Ordnung wurde wiederhergestellt.
Ingenieuren der Army gelang es schließlich, die Stromversorgung wiederherzustellen. Die Lampen flammten wieder auf, die Türen konnten wieder verriegelt werden. Mittlerweile hatten die Militärpolizisten von Fort Leavenworth die Einrichtung wieder den Wärtern übergeben und auf demselben Weg verlassen, auf dem sie gekommen waren. Der Gefängniskommandant, ein Colonel, atmete dankbar auf, als die Last der Welt – zumindest die einer Wand, die plötzlich zwischen ihm und seiner nächsten Beförderung errichtet worden war – von seinen Schultern genommen wurde.
Gefangene schlurften zurück in ihre Zellen, dann wurden sie durchgezählt.
Die Liste der Häftlinge, deren Anwesenheit festgestellt wurde, wurde mit der offiziellen Liste der Insassen verglichen.
Anfangs stimmten die Zahlen überein.
Anfangs.
Doch bei einer weiteren Überprüfung stellte sich heraus, dass dem nicht so war.
Ein Häftling fehlte. Nur einer, aber ein wichtiger. Er verbüßte hier eine lebenslange Haftstrafe. Nicht weil er einen ungeliebten Vorgesetzten getötet oder andere Mitmenschen ermordet hatte. Oder weil er jemanden vergewaltigt oder aufgeschlitzt oder etwas in Brand gesetzt oder in die Luft gesprengt hatte. Der Mann saß nicht einmal im Todestrakt. Er war hier, weil er ein Verräter war. Er hatte sein Land in Belangen der nationalen Sicherheit hintergangen – ein Begriff, bei dem jeder aufhorchte und über die Schulter blickte.
Noch unerklärlicher war, dass auf der Pritsche in der Zelle des vermissten Gefangenen ein anderer lag – ein noch nicht identifizierter Toter, der mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt unter dem Laken ruhte. Das war der Grund, weshalb die ursprüngliche Zählung die richtige Anzahl an Insassen ergeben hatte.
Das Gefängnispersonal durchsuchte jeden noch so kleinen Winkel des DB, einschließlich der Luftschächte und aller anderen noch so kleinen Spalten, die ihnen auf die Schnelle einfielen. Anschließend suchten sie außerhalb des Gefängnisbaues im allmählich abflauenden Sturm, rückten methodisch in Kolonnen vor und drehten jeden Stein um.
Aber dieses winzige Fleckchen der schweren, guten Böden von Kansas brachte nicht hervor, was sie suchten.
Der Häftling war verschwunden. Niemand konnte erklären, wie das geschehen konnte. Niemand vermochte zu sagen, wie der Tote auf die Pritsche gekommen war. Niemand konnte sich auch nur den kleinsten Reim auf die Sache machen.
Es gab nur eine offensichtliche Tatsache: Robert Puller, ehemals Major der United States Air Force und Experte für Atomwaffen und Cybersicherheit – darüber hinaus Sohn eines der berühmtesten Angehörigen der Streitkräfte überhaupt, des nun im Ruhestand befindlichen Generals John Puller senior –, war aus der ausbruchsicheren Haftanstalt entkommen.
Und er hatte einen unbekannten Toten an seiner Stelle zurückgelassen, was noch unerklärlicher war als die Frage, wie Puller den Ausbruch bewerkstelligt hatte.
Nachdem man den Gefängniskommandanten über diese scheinbare Unmöglichkeit informiert hatte, die trotzdem nackte Realität geworden war, griff er nach dem sicheren Telefon in seinem Büro und verabschiedete sich dabei gleichzeitig von seiner vielversprechenden Karriere.