14
»Kaffee, Agentin Pine?«
Carol Blum saß an ihrem Schreibtisch, als Pine das Büro betrat. Blum war wie stets makellos gekleidet: Rock, Jacke, Pumps, Strumpfhose, dezenter Schmuck und sehr wenig Make-up.
Pine nickte ihr gedankenverloren zu, betrat ihr kleines Büro und schloss die Tür.
Wie benommen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und starrte auf den Computer.
Gehackt?
Von wem? Und warum?
Ihr Bekannter hatte ihr noch etwas verraten. Es sei gut möglich, hatte er gewarnt, dass jemand schon vor längerer Zeit die Kontrolle über ihren Computer übernommen habe und nun irgendwelche Dinge damit anstelle.
»Falls er deinen Computer infiltriert hat, kannst du keine Taste drücken, ohne dass er es mitbekommt«, hatte Pine von ihrem Bekannten erfahren.
In dem Moment, als Blum die Tür öffnete, um ihr den Kaffee zu bringen, zog sie das Stromkabel aus dem Computer.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte Blum.
»Jemand hat uns gehackt.«
Blum hob eine Augenbraue und stellte die Kaffeetasse auf Pines Schreibtisch.
»Soll ich auch den Stecker ziehen?«
»Ist wahrscheinlich besser.«
»Ich rufe gleich den IT-Service in Flagstaff an. Die sollen jemanden rüberschicken.«
»Danke.«
»Hat das irgendwie mit der Website zu tun, die ich Ihnen gezeigt habe?«
»Ich weiß es nicht. Könnte sein.«
Blum ging hinaus und schloss die Tür.
Pine zog ihr Handy aus der Tasche und betrachtete es nachdenklich. War es ebenfalls gehackt worden? Sie blickte zum Festnetztelefon auf dem Schreibtisch. Um es zu verwanzen, hätte jemand in ihr Büro einbrechen müssen, zumindest in den Telekommunikationsraum in der Tiefgarage, der aber durch Videoüberwachung gesichert war, dank der Kollegen von ICE. Pine schüttelte den Kopf. Kaum vorstellbar, dass hier jemand unbemerkt eindringen konnte.
Wenn die IT-Spezialisten aus Flagstaff kamen, mussten sie einen Rundumcheck durchführen. Bis dahin würde Pine keine Anrufe aus ihrem Büro oder mit ihrem Handy tätigen und auch keine E-Mails oder SMS verschicken.
Kurz entschlossen ließ sie ihren Kaffee auf dem Schreibtisch stehen und eilte an der verwirrten Blum vorbei. In der Tiefgarage stieg sie in ihren SUV und fuhr hinaus ins grelle Sonnenlicht. Ihr Ziel war der Gemischtwarenladen drei Querstraßen entfernt. Dort gab es etwas, das sie jetzt dringend benötigte und das man heute kaum noch fand.
Pine hielt auf dem Parkplatz vor dem Laden und ging schnurstracks zum Münztelefon, das an der Gebäudewand installiert war. In Shattered Rock war das Handynetz mehr als lückenhaft, sodass nicht jeder in der Stadt ein Mobiltelefon besaß – mit der Folge, dass Shattered Rock sich mehrerer öffentlicher Fernsprecher rühmen konnte.
Pine warf ein paar Münzen ein und wählte die Nummer.
Lambert, der Park Ranger, meldete sich bereits beim zweiten Klingeln.
»Hallo?«
»Colson, ich bin’s, Atlee.«
»Was ist das für eine Nummer, von der Sie anrufen?«
»Unwichtig. Sagen Sie, ist bei Ihnen irgendwas Merkwürdiges oder Auffälliges vorgefallen, im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Priest?«
Pine hatte bisher weder Lambert noch sonst jemandem erzählt, dass der Mann, der sich Benjamin Priest nannte, gar nicht Benjamin Priest war.
»Was meinen Sie mit merkwürdig?«
»Beispielsweise Anfragen von höherer Stelle.«
»Nein. Gab es hier nicht.«
»Kommen Sie mit dem Fall voran?«
»Wie ich Ihnen bereits sagte, haben die Suchhunde nichts gefunden. Wir haben ein ziemlich großes Gebiet abgesucht.«
»Dann wird vermutlich Ihr Investigative Service eingeschaltet, oder?«, fragte Pine.
Der ISB war eine Spezialeinheit, die in sämtlichen Nationalparks der USA arbeitete, auch im Nationalpark Grand Canyon. Die Agenten der ISB kamen insbesondere bei schweren Straftaten zum Zuge.
»Davon weiß ich nichts«, antwortete Lambert. »Das übersteigt meine Gehaltsstufe.«
Pine runzelte die Stirn. Das klang gar nicht wie der Colson Lambert, den sie kannte.
»Hat Edward Priest Ihnen ein Foto von seinem Bruder geschickt?«
»Hören Sie, Atlee, ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss jetzt wirklich los. Ich habe im Büro Dringendes zu erledigen. Wir hören voneinander.«
Er trennte die Verbindung.
Nachdenklich hängte Pine den Hörer ein. Durch sein Verhalten hatte Lambert ihre Frage indirekt beantwortet: Offenbar gingen auch bei ihm seltsame Dinge vor sich.
Wieder warf sie ein paar Münzen ein und wählte eine andere Nummer.
Das Telefon klingelte, bis sich Edward Priests Mailbox einschaltete. Doch der Speicher war voll, sodass Pine keine Nachricht hinterlassen konnte.
Enttäuscht stieg sie in ihren Wagen und fuhr los. Dabei ließ sie die Innen- und Außenspiegel nicht aus den Augen, um sicherzugehen, dass niemand ein allzu auffälliges Interesse an ihrem SUV an den Tag legte.
Auf dem Weg ins Büro überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte.
Lambert blockte sie offensichtlich ab. Edward Priests Mailbox war voll. Jemand hatte ihren Computer und möglicherweise auch ihr Telefon gehackt. Die Abteilung für nationale Sicherheit des FBI war eingeschaltet worden. Der Vorgesetzte ihres Chefs hatte sie angerufen und sich nur nach diesem einen Fall erkundigt. Und sie ziemlich deutlich zu größter Vorsicht ermahnt.
Und zu allem Überfluss hatte sie es mit einem Vermissten zu tun, der nicht der war, als der er sich ausgab.
Wo steckte der Mann jetzt? Und wo war Benjamin Priest?
Wer hatte das Muli getötet und verstümmelt, und vor allem: warum?
Und was hatte eine hundert Jahre alte, wahrscheinlich erfundene Geschichte über Ägypter im Grand Canyon mit alldem zu tun?
Pine fuhr sich mit der Hand durch die noch immer feuchten Haare und überlegte fieberhaft.
Und fasste einen Entschluss.
Sie wendete und fuhr nach Westen, zurück zum Tatort.
Fünfunddreißig Minuten später war sie am South Rim des Grand Canyon. Ihre Dienstmarke verschaffte ihr freien Zutritt zum Nationalpark. Sie fand einen Parkplatz beim Ranger-Hauptquartier, in einem Bereich, der der Park-Polizei vorbehalten war, doch ihre Nummernschilder wiesen sie als Angehörige einer Bundesbehörde aus.
Sie stieg aus, schaute sich um. Überall tummelten sich Touristen. Die meisten wanderten den Trail am Südrand des Canyons entlang, bewunderten die atemberaubende Aussicht und schossen Fotos. Viele blieben über Nacht in einer der Unterkünfte. Einige ritten mit dem Maultier in den Canyon oder erwanderten ihn zu Fuß.
Der Grand Canyon war ein beliebtes Touristenziel, doch er war trotz allem ein extremes Gelände, in dem immer wieder Menschen umkamen. Die Ursachen waren unterschiedlich – Herzinfarkt, ein tödlicher Sturz, ein giftiges Tier, Dehydration oder Hyponatriämie, eine Elektrolytstörung, bei der es durch Trinken von zu viel Wasser und Salzverlust durch Schwitzen zu einer zu niedrigen Natriumkonzentration im Blut kam, was zu einer gefährlichen Hirnschwellung führen konnte. Ebenso kam es immer wieder vor, dass Leute bei einer Raftingtour in den Stromschnellen des Colorado River ertranken.
Als Pine sich umschaute, fiel ihr ein Mann in Sportshorts, Tanktop und Laufschuhen auf, der zum Parkplatz joggte. Er blieb stehen, machte ein paar Dehnungsübungen und lief zu einem vor Schmutz starrenden Jeep mit offenem Verdeck. An der vorderen Stoßstange war eine Winde angebracht; am hinteren Kotflügel prangte ein Aufkleber mit dem Slogan Army Strong.
»Hey, Sam.«
Sam Kettler drehte sich nach ihr um.
Pine ging zu ihm. »Machen Sie nicht die Nachtschicht?«
»Normalerweise schon, aber gestern hatte ich frei.«
Sie musterte ihn einen Moment lang. Jetzt, in Tanktop und Shorts, sah man, was seine Uniform verbarg: Der Mann war von Kopf bis Fuß durchtrainiert. Im Gegensatz zu vielen Typen mit breiter Brust und dicken Armen, die über eine unterentwickelte Beinmuskulatur verfügten, waren seine Oberschenkel und Waden besonders kräftig.
»Sie sind auch in Ihrer Freizeit manchmal hier?«
»Wie Sie sehen. Heute bin ich eine Runde gelaufen.«
Pine blickte über seine Schulter hinweg in die Ferne. »Welchen Weg? Es ist ziemlich heiß heute.«
»Von Süden nach Norden und wieder zurück.«
»Die ganze Strecke, von einem Ende zum anderen? Und das zweimal ohne Pause?«
Kettler nickte und griff sich ein Handtuch aus seinem Jeep, um sich den Schweiß abzuwischen.
»Wie lange haben Sie gebraucht?«, hakte sie nach.
Er schaute auf die Uhr. »Sechs Stunden achtundfünfzig.«
Pine riss die Augen auf. »Für zweiundvierzig Meilen mit fast siebentausend Metern Höhenunterschied und einem tausendfünfhundert Meter langen Schlussanstieg zurück zum South Rim?«
Er warf das Handtuch in den Wagen und zog eine Wasserflasche aus seiner Gürteltasche.
»Kommt ungefähr hin. Vom Rekord bin ich damit aber weit entfernt. Den packe ich nie.«
»Trotzdem gibt es nur ganz wenige, die es in diesem Tempo schaffen würden.«
Er trank die Wasserflasche leer. »Weswegen sind Sie hier?«, fragte er.
»Ich wollte mich erkundigen, ob es etwas Neues gibt.«
»Haben Sie schon rausgekriegt, was mit dem Muli passiert ist?«
Pine schüttelte den Kopf. »Noch nicht, ich arbeite daran.«
»Sie schaffen das schon.« Er blickte zur Seite und wirkte plötzlich angespannt.
Pine wartete einen Moment, weil sie das Gefühl hatte, dass er noch etwas sagen wollte. Doch er schwieg.
»Tja, dann … wir sehen uns.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Atlee?«
»Ja?« Sie drehte sich noch einmal um.
»Hätten Sie heute Abend Zeit für ein Bier? Wir könnten irgendwo was essen.«
»Sie haben heute Abend frei?«
»Ja. Deshalb bin ich heute gelaufen.« Er lächelte schelmisch. »Ich bin keine zwanzig mehr. Ich brauche schon ein bisschen Zeit, um mich zu erholen.«
Sie dachte einen Moment über seinen Vorschlag nach. »Klingt nicht schlecht.«
»Es gibt da ein Restaurant in Shattered Rock, da ist es ganz nett.«
Sie lächelte. »Lassen Sie mich raten: Tony’s Pizza.«
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist so ziemlich die einzige Möglichkeit, in Shattered Rock ein Bier zu trinken.«
»Sieben Uhr?«
»Okay. Bis dann.«
Beschwingt ging Pine zurück zum Ranger-Hauptquartier, fragte dort aber nicht nach Colson Lambert, sondern nach seinem Kollegen Harry Rice.
Sie erfuhr, dass Rice beim Mauleselgehege war, wo sie ihn kurz darauf zusammen mit Mark Brennan, dem Muliführer, bei den Tieren antraf.
»Sie führen heute keine Gruppe in den Canyon?«, wollte sie von Brennan wissen, während Rice sie argwöhnisch beäugte, ehe er rasch den Blick abwandte.
Brennan rieb einem Muli die Vorderläufe mit einer Salbe ein. »Wir haben Nachschub angefordert«, sagte er. »Heute kommt eine Lieferung, um die ich mich kümmern muss. Zwei Kollegen haben die Gruppe übernommen.«
Pine nickte und wandte sich Rice zu. »Ich habe mit Ihrem Kollegen Lambert gesprochen. Sieht nicht so aus, als würden die Ermittlungen zügig vorankommen.«
»Wir haben überall nach dem Mann gesucht«, rechtfertigte sich Rice, ohne ihr in die Augen zu schauen. »Nirgends eine Spur von ihm.«
Eine Zeit lang schwiegen alle drei.
»Lambert scheint mir kein großes Interesse mehr an dem Fall zu haben«, hakte Pine schließlich nach. »Wie ist es bei Ihnen, Harry?«
Rice vermied es immer noch, ihr in die Augen zu sehen. »Ich bin Park Ranger, kein Cop.«
»Aber Sie wissen sicher, ob der Investigative Services Branch des Nationalparks eingeschaltet wird. Übernimmt der jetzt den Fall? Ich habe das auch Lambert gefragt, aber er wollte nichts dazu sagen.«
Rice zuckte mit den Schultern, ehe er mit den gleichen Worten antwortete wie Lambert: »Davon weiß ich nichts. Das übersteigt meine Gehaltsstufe.«
»Seltsam, das bekomme ich in diesen Tagen immer wieder zu hören«, gab Pine zurück. Sie fragte sich, ob man Rice und Lambert angewiesen hatte, lästige Fragen auf diese Weise abzublocken.
Brennan schaute zwischen den beiden hin und her. »Gibt es irgendwas, von dem ich nichts weiß?«
»Gut möglich«, erwiderte Pine und wandte sich ihm zu. »Mark, Sie haben diesen Priest doch ebenfalls gesehen. Ich kenne eine Polizeizeichnerin. Könnten Sie sich mit ihr zusammensetzen und ihr den Mann beschreiben? Dann könnte sie ein Phantombild erstellen.«
»Wozu?« Rice runzelte die Stirn. »Ein Phantombild braucht man doch nur, wenn man nicht weiß, wer der Gesuchte ist. Wir wissen ja, dass es sich um diesen Priest handelt.«
»Wissen wir das wirklich?«, entgegnete Pine.
Rice sah sie verständnislos an. »Sein Bruder hat es bestätigt. Der Gesuchte ist Benjamin Priest.«
»Ich habe Lambert gefragt, ob der Bruder ihm ein Foto von Priest geschickt hat. Er hat nicht geantwortet.«
»Moment mal«, warf Brennan ein. »Wollen Sie damit sagen, dass der Typ gar nicht Ben Priest war?«
»Ich brauche eine Bestätigung, keine Vermutungen«, betonte Pine und wandte sich an Rice. »Haben Sie auch wirklich überprüft, dass er es ist, oder haben Sie sich mit Vermutungen begnügt?«
»Mir gefällt Ihr Tonfall nicht, Atlee«, erwiderte Rice.
»Und mir gefällt es nicht, wenn man mich mit Halbwahrheiten abspeist, Harry.«
Brennan schaute sichtlich verwirrt zwischen den beiden hin und her.
»Wie gesagt, Mark, ich würde es begrüßen, wenn Sie mit mir zu der Polizeizeichnerin gehen.«
»Aber ich habe hier eine Menge zu tun.«
»Sie finden sicher jemanden, der Sie für zwei Stunden vertritt.«
Als sie zum Wagen gingen, sagte Brennan leise: »Was geht hier vor, Agentin Pine? Ich meine, Sie und Rice, Sie arbeiten doch beide für Regierungsbehörden, oder?«
»Stimmt. Aber die Regierungsbehörden sind ein riesiger, aufgeblähter Apparat. Die eine Hand weiß oft nicht, was die andere tut. Außerdem höre ich nicht gern darauf, was andere sagen. Ich folge lieber meiner eigenen Linie.« Sie zog ihr Handy hervor und holte das Foto aufs Display, das Edward Priest ihr von seinem Bruder geschickt hatte. »Sehen Sie den großen Mann auf dem Foto? Erkennen Sie ihn wieder? Könnte es sein, dass er in der Gruppe mit Priest war?«
Brennan besah sich das Foto. »Nein, sicher nicht. Keiner in der Gruppe war so groß. Und keiner hat auch nur annähernd so ausgesehen.«
»Haben Sie ein Foto von der Gruppe? Haben die Leute sich vielleicht gegenseitig fotografiert?«
»Möglich. Aber ich weiß nichts von einem Gruppenfoto.«
Pine steckte ihr Handy weg. »Okay, gehen wir erst mal zur Zeichnerin.«