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In der weiten Landschaft des nördlichen Arizona war der Nachthimmel klar und rein, ohne vom Licht großer Städte verschmutzt zu werden, sodass man Myriaden von Sternen sah.
Doch hier, in den Tiefen des Grand Canyons, schienen die Sterne an Glanz und Leuchtkraft zu verlieren. Erst in den Nächten wurde einem bewusst, wie steil die Wände wirklich waren. Sie schienen alles Licht zu schlucken, bevor es auf den Grund der Schlucht gelangen konnte.
Wieder hörte Pine das seltsame Geräusch.
Was ist das?
Geduckt kauerte sie auf dem Felsboden, ließ den Blick in die Runde schweifen.
Niemand zu sehen. Da war kein Raucher, der sich nach draußen geschlichen hatte, um sich eine Zigarette zu genehmigen, was hier im Canyon wegen der Brandgefahr verboten war. Nirgends schimmerte das Licht eines Handys, denn hier unten gab es entweder lückenhaften Empfang oder gar keinen. WLAN gab es ohnehin nicht. Die Ranch verfügte über einen Fernsprecher, der mit Kreditkarte benutzt werden konnte. Das war es auch schon in Sachen Technologie. Alle, für die Facebook, Instagram und Twitter zum Alltag gehörten, mussten während ihres Aufenthalts im Canyon auf ihre Gewohnheiten verzichten.
Erneut ließ Pine den Blick schweifen, während ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten.
Da war es wieder.
Das war nicht jemand, der zufällig oder aus einem harmlosen Grund hier draußen unterwegs war. Das war jemand, der nicht gesehen werden wollte.
Geduckt schlich Pine weiter, die Glock in der rechten Hand. In der anderen hielt sie eine Maglite. Der Lichtstrahl der Stabtaschenlampe fiel auf einen Skorpion, der sich in gespenstischem Weiß vom dunklen Boden abhob.
In diesem Moment hörte sie ein Maultier wiehern. Es gab zwei Maultiergehege hier unten – eines, das zur Phantom Ranch gehörte, ein anderes für den Park Service, das sich auf der anderen Seite des Bright Angel Creek befand, nahe dem Ufer des Colorado. Das Wiehern musste von dem näher gelegenen Gehege kommen, das zur Ranch gehörte.
Was möglicherweise bedeutete, dass jemand gekommen war, um ein weiteres Maultier zu töten und ihm Buchstaben ins Fleisch zu schneiden. Der vermisste Benjamin Priest? Litt der Mann unter irgendeiner Störung, die ihn dazu trieb, Tiere abzuschlachten?
Pine eilte zum Pferch, so leise sie konnte.
Im Gehen ließ sie den Lichtstrahl der Maglite über den Boden gleiten. Hier im Canyon gab es sechs Klapperschlangen-Arten, die alle des Nachts aus ihren Schlupfwinkeln krochen. Doch Pines Sorge, versehentlich auf eine Schlange zu treten, war nicht übermäßig groß; diese Tiere spürten die Erschütterung des Bodens durch die Schritte eines Menschen und suchten meist rechtzeitig das Weite.
Der Pferch war noch etwa dreißig Meter entfernt. Die Schritte, die Pine gehört hatte, waren verstummt.
Im nächsten Augenblick zerriss ein Wiehern die Stille, gefolgt von einem Schnauben.
Und dann, zur Linken, eine jähe Bewegung. Ein Mann trat aus der Dunkelheit hervor.
Sam Kettler, der Ranger. Er hob einen Finger an die Lippen und deutete in die Richtung des Maultierpferchs.
Pine nickte.
Kettler eilte zu ihr.
»Da ist jemand«, raunte Pine.
»Ich weiß. Ich bin Ihnen beiden gefolgt.«
»Haben Sie gesehen, wer es ist?«
»Nein.«
»Finden wir’s raus. Sind Sie bewaffnet?«
Kettler tippte mit der Hand auf sein Holster. »Ich hoffe allerdings, ich brauche sie nicht. Ich bin nicht Park Ranger geworden, um auf Leute zu ballern. Das musste ich in der Army oft genug.«
Sie schlichen weiter, Seite an Seite, so leise sie konnten.
Pine registrierte anerkennend, wie kraftvoll und geschmeidig der Ranger sich bewegte. Er schien fast lautlos über den unebenen Boden zu gleiten.
Dann kam der Pferch in Sichtweite.
Pine schob ihre Maglite in die dafür vorgesehene Stahlschiene auf ihrer Pistole. Auch Kettler zog seine Waffe und entsicherte sie mit dem Daumen.
Die Geräusche kamen vom anderen Ende des Geheges.
Kettler deutete auf sich selbst, dann nach links. Pine nickte und wandte sich nach rechts.
Augenblicke später sprintete sie los, bog um die Ecke des Geheges und richtete ihre Pistole mit der Taschenlampe auf die Person beim Pferch.
Kettler kam von der anderen Seite, die Waffe auf dasselbe Ziel gerichtet.
Der Unbekannte schrie auf und sprang erschrocken zurück.
»Hände hoch!«, befahl Pine. »FBI!«
Eine Sekunde später entspannte sie sich, denn die Person, die sie mit der Waffe bedrohte, war ein junges Mädchen in Shorts, T-Shirt, Sportsocken und Flipflops.
»O Scheiße!«, rief das Mädchen verzweifelt und brach in Tränen aus. »Bitte tun Sie mir nichts. Nicht schießen, bitte.«
Pine senkte die Waffe ein wenig, den Blick auf den länglichen Gegenstand gerichtet, den das Mädchen in der rechten Hand hielt. Sie trat einen Schritt näher und ließ die Waffe ganz sinken.
Es war kein Messer. Es war eine Karotte.
Auch Kettler senkte die Pistole und trat vor.
»Was zum Teufel machst du hier draußen?«, fragte Pine.
Das Mädchen hielt die Karotte hoch. »Ich wollte Jasmine füttern. Das Muli, auf dem ich geritten bin.«
»Hast du gewusst, dass gestern früh ein Muli tot aufgefunden wurde?«
Das Mädchen nickte. »Das ist mit ein Grund, weshalb ich hier bin. Ich wollte nach den Tieren sehen.«
Pine steckte die Waffe ins Holster. »Wie heißt du?«
»Shelby Foster.«
»Bist du mit deiner Familie hier?«
»Mit meinem Dad und meinem Bruder.«
»Woher kommst du?«
»Wisconsin. Aber einen solchen Canyon haben wir dort nicht. Es ist wunderschön hier.«
»Okay, Shelby, gib Jasmine die Karotte, dann bringen wir dich zurück zu deinem Schlafplatz.«
Kettler steckte seine Pistole ebenfalls weg. Er blickte auf die Flipflops des Mädchens. »Hier draußen gibt es Klapperschlangen und Skorpione, Ma’am. Die Treter sind da nicht ganz das Richtige.«
»Ich habe feste Schuhe in der Hütte. Ich wollte sie nicht anziehen, weil meine Füße noch geschwollen sind vom Ritt hier runter.«
Kettler lächelte verständnisvoll. »Ja, das kommt vor. Aber nächstes Mal denkst du dran, okay?«
Als sie zu den Unterkünften zurückgingen, fragte Shelby: »Sie sind FBI-Agentin?«
»Ja.«
»Ich dachte, das sind fast nur Männer.«
»So ist es auch, aber eben nicht nur.«
»Cool.«
»Finde ich auch«, meinte Kettler, worauf Pine ihm einen raschen Blick zuwarf.
»Wissen Sie schon, wer das Muli getötet hat?«, wollte Shelby wissen.
»Noch nicht, aber wir werden es herausfinden.«
»Wer tut denn so etwas Abscheuliches?«
»Es gibt nun mal Leute, die wirklich schlimme Sachen machen, Shelby. Also sei vorsichtig, egal, wo du bist. Schau nicht immer nur auf dein Handy. Und lauf nicht ständig mit Ohrhörern durch die Gegend, sonst merkst du nicht, wenn eine Gefahr droht. Pass gut auf dich auf, okay?« Das junge Mädchen wirkte zerknirscht, deshalb lächelte Pine aufmunternd. »Wir Mädels müssen schließlich aufeinander aufpassen. Stimmt’s?«
Shelby erwiderte das Lächeln und nickte. Pine sah ihr nach, als sie zu ihrer Hütte eilte.
»Okay«, sagte Kettler, »ich geh dann mal wieder.«
»Danke für die Hilfe, Mr. Kettler.«
»Mr. Kettler ist mein alter Herr. Ich bin Sam.«
»Ich bin Atlee.«
Kettler blickte sich um. »Wissen Sie, ich bin in diese Gegend gekommen, weil ich mich nach Ruhe und Frieden gesehnt habe. Dass so etwas passieren könnte, hätte ich nie gedacht. Man spürt die Unruhe, die in der Luft liegt.«
»Aber dass jemand vermisst wird, ist hier unten doch schon vorgekommen, oder?«
»Ja, aber noch nie wurde ein Maultier getötet. Aus irgendeinem Grund macht mir das mehr Sorgen als eine vermisste Person.« Er nickte ihr zu. »Lassen Sie’s mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann.«
Pine zog eine Karte hervor und reichte sie ihm. »Meine Handynummer steht auf der Rückseite. Falls Ihnen irgendwas einfällt, oder wenn Sie einfach nur reden wollen, rufen Sie mich an.«
Kettler tippte sich an den Hut. »Vielleicht können wir mal ein Bier zusammen trinken. Colson hat gesagt, Sie wohnen in Shattered Rock.«
»Seit einem Jahr.«
»Ich wohne in Tusayan. Ist nicht weit weg.«
»Stimmt.«
Er schob ihre Karte in seine Hemdtasche. »Tja dann … bis bald.«
Er lächelte und ging davon.
Während Pine ihm hinterherschaute, schweiften ihre Gedanken zurück zu den Geschehnissen dieser Nacht – und mit einem Mal wurde ihr klar, was sie bisher übersehen hatte.
Wenn dieses junge Mädchen fast unbemerkt die Hütte verlassen und zum Gehege gelangen konnte, hatte Benjamin Priest es mit Sicherheit ebenfalls gekonnt. Das Maultier war tot. Und Priest womöglich auch.
Der Canyon war riesig, doch eine Leiche würde nicht ewig unbemerkt bleiben. Falls sie nicht schon vorher entdeckt wurde, zeigte das Kreisen aasfressender Vögel, wo sie sich befand. Doch Pine wollte Priest lebend, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Sie hasste Menschen, die sich an wehrlosen Tieren vergriffen. Nicht selten gingen solche Typen irgendwann dazu über, Menschen umzubringen.
Pine warf einen Blick auf die Uhr. In etwa sechs Stunden würden sie und die anderen die weiträumige Suche nach Ben Priest aufnehmen. Und egal, ob sie ihn tot oder lebend fanden – Pine hatte so eine Ahnung, dass sich dann noch mehr Fragen ergeben würden. Vielleicht war es erst der Anfang – die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs.