22

»Special Agent Pine?«

Pine nahm einen tiefen Atemzug. Der strenge Geruch von Desinfektionsmitteln stieg ihr in die Nase.

Sie fragte sich, ob man im Himmel so großen Wert auf klinische Sauberkeit legte.

In der Hölle wohl eher nicht.

»Special Agent Pine?«

Ihre Lider flatterten, und sie öffnete die Augen.

Ein Schemen beugte sich über sie, der rasch Konturen annahm.

Carol Blum schaute besorgt auf sie herunter.

Sie seufzte erleichtert, als Pines Blick sie erfasste.

Pine drehte den Kopf hin und her und sah nun, dass sie auf einer Krankenliege lag.

»Wo bin ich?«

»In der Notaufnahme.«

Pine griff sich an die Stirn. Ein Kopfverband. »Wie bin ich hergekommen?«

»Mit dem Rettungswagen.«

»Und die anderen?«

»Welche anderen?«

Pine versuchte sich aufzusetzen, doch Blum legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft nach unten.

»Die zwei Männer«, sagte Pine.

»Davon weiß ich nichts. Als der Anruf kam, hieß es nur, Sie hätten einen Unfall gehabt.«

»Wer hat Sie angerufen?«

»Das Krankenhaus.«

»Warum haben die Sie angerufen?«

»Nicht mich direkt, sondern das Büro. Wahrscheinlich haben die Ihre Dienstmarke gesehen. So habe ich erfahren, was passiert ist. Ich habe zurückgerufen und bin sofort hergekommen.«

»Aber … ich habe die Cops verständigt. Jemand hat uns gerammt …«

Blum schüttelte den Kopf. »Davon hat niemand was gesagt.«

In diesem Augenblick kam ein Arzt im weißen Mantel herein, ein iPad in der Hand. Er war Ende vierzig, hatte schütteres Haar und einen gelassenen, beinahe gelangweilten Gesichtsausdruck.

»Wie fühlen wir uns, Ma’am?«, fragte er aufgeräumt.

»Ganz gut«, sagte Pine. »Was ist mit den beiden Männern, die mit mir im Auto waren? Die waren ebenfalls verletzt. Einer ziemlich schwer.«

Der Arzt wurde augenblicklich ernst. »Zwei Männer? Da war niemand außer Ihnen. Sie haben eine Gehirnerschütterung. Wahrscheinlich sind Sie noch ein bisschen durcheinander.«

»Ich weiß genau, wovon ich rede«, erwiderte Pine. »Ich war nicht allein. Zwei Männer haben mit mir im Wagen gesessen.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich bin im Moment der einzige Arzt in der Notaufnahme. Gestern Nacht ist genau ein Krankenwagen gekommen, und der hat Sie hergebracht. Autounfall. Sie sind von der Straße abgekommen und wurden verletzt.«

»Und wer hat Ihnen das erzählt?«

»Die Sanitäter.«

»Und die Cops?«

»Cops? Ich habe keine gesehen.«

»Scheiße.« Pine setzte sich auf, obwohl der Arzt sie daran hindern wollte.

»Wo sind meine Sachen? Meine Waffen?«

»Alles sicher verwahrt«, sagte der Arzt.

»Gut. Bringen Sie alles her, ich muss los.«

»Wir behalten Sie noch eine Weile zur Beobachtung hier.«

»Garantiert nicht.«

»Ich bin hier der Arzt, und ich sage Ihnen …«

Pine schwang die Beine von der Liege, landete mit den nackten Füßen auf dem Boden und zog Nadel und Schlauch aus ihrem Arm, mit denen sie an irgendeine Apparatur angeschlossen war.

»Ich bin FBI-Agentin. Sie sorgen jetzt dafür, dass ich meine Sachen wiederbekomme, sonst nehme ich Sie wegen Behinderung einer Bundesagentin fest.«

Der Arzt schaute Blum an, während Pine in dem dünnen Krankenhauskittel vor ihm stand. Selbst barfuß überragte sie den Mediziner um ein gutes Stück. Mit ihrem blutigen Kopfverband und ihrem entschlossenen Blick sah sie wie eine Frau aus, mit der man sich besser nicht anlegte.

Der Arzt wandte sich an Blum. »Meint sie das ernst?«

»So wie ich sie kenne, meint sie immer, was sie sagt. Ich wette, dass Sie im Knast landen, wenn Sie sich ihr widersetzen. Tun Sie lieber, was sie sagt.«

Zwanzig Minuten später verließ Pine angezogen und bewaffnet das Krankenhaus, Blum an ihrer Seite.

Die Sonne war aufgegangen.

»Wie haben Sie die Nachricht aus dem Büro bekommen?«, wollte Pine wissen.

»Ich habe heute früh gecheckt, ob jemand im Büro angerufen hat.«

»Wann war das ungefähr?«

»Ich tue das immer so gegen vier Uhr. Für alle Fälle. Hätte ich es bloß früher gecheckt!«

»Da waren zwei Männer bei mir, glauben Sie mir«, sagte Pine, während sie den Kopfverband abnahm und in einen Mülleimer warf. »Jemand hat uns von der Straße gerammt. Kurz darauf ist ein Hubschrauber gelandet, und zwei schwer bewaffnete Typen in Gefechtsmontur stiegen aus. Einer der beiden hat mir mit einer Blendgranate den Rest gegeben.« Sie schaute zum Himmel, um festzustellen, wie hoch die Sonne stand. Ihre Uhr war beim Unfall zertrümmert worden, und der Akku ihres Handys war leer.

»Ich muss ungefähr acht Stunden lang weg gewesen sein«, murmelte sie und schaute Blum an. »Glauben Sie mir die Geschichte?«

»Müssen Sie mich das wirklich fragen, Special Agent Pine? Natürlich glaube ich Ihnen. Dann müssen die Leute im Hubschrauber die beiden Männer mitgenommen haben.«

»Oder das Auto, das uns gerammt hat, ist zurückgekommen und hat sie geholt, als es vorbei war.«

»Hat das mit dem Fall des toten Maultiers zu tun? Und mit diesem Vermissten, Ben Priest?«

Pine nickte, als sie zu Blums hellgrünem Prius auf dem Parkplatz gelangten.

»Nur dass der Ben Priest, der im Canyon verschwunden ist, nicht der echte Ben Priest ist.«

Sie stiegen ein.

Blum ließ den Motor an. »Wo ist dann der richtige Ben Priest?«, fragte sie.

»Er war gestern Nacht mit mir im Auto, er und sein Bruder Ed. Ed ist von der Ostküste hergeflogen und hat mich angerufen. Ich habe mich in Flagstaff mit ihm getroffen und ihn zu mir nach Hause mitgenommen. Er hat versucht, mich umzubringen, als er dachte, dass ich schlafe.«

Blum ließ die unglaublichen Neuigkeiten einen Moment lang sacken. »Ich nehme an, Sie haben ihn tüchtig vermöbelt?«, fragte sie dann.

»Das war nicht nötig. Er hat es nicht fertiggebracht, auf mich zu schießen. Er ist kein schlechter Kerl. Jemand hat seine Familie bedroht und von ihm verlangt, mich umzubringen. Also ist er hergekommen, um mich zu beseitigen, bekam dann aber kalte Füße.«

»Na, Gott sei Dank«, warf Blum ein.

»Immerhin bin ich durch ihn an den richtigen Ben Priest herangekommen. Wir haben uns gestern Abend im El Tovar getroffen. Als wir mit Priests Wagen ein Stück Richtung Süden gefahren sind, um zu reden, wurden wir angegriffen.«

»Das nenne ich eine ereignisreiche Nacht.«

»Wir müssen noch mal zur Unfallstelle«, sagte Pine entschlossen. »Ich muss ein paar Dinge checken.«

Sie beschrieb Blum den Weg. Ungefähr eine Stunde später erreichten sie den Ort des Geschehens.

Es war nichts mehr zu sehen. Das ausgebrannte Autowrack war verschwunden. Die Reifenspuren waren beseitigt, die Trümmer entfernt worden.

Sie stiegen aus und suchten gemeinsam die Unfallstelle ab.

»Die haben gründliche Arbeit geleistet«, meinte Pine. »Aber nicht gründlich genug.« Sie deutete auf einen gefällten Baum. »Den muss gestern Nacht jemand mit einer Kettensäge gefällt haben. Man sieht noch die Sägespuren im Holz. Dann haben sie den Stamm an der Stelle zerschnitten, an der das Auto dagegengekracht ist. Aber ich bin sicher, man würde im Holz noch grüne Lackspuren finden.« Sie deutete auf einen Fleck Erde im Grasstreifen an der Straße. »Und hier haben sie verbranntes Gras beseitigt. Ich wette, wenn man das Gelände mit einem Metalldetektor absucht, findet man kleine Trümmerstücke vom Auto. Die Explosion war so stark, dass einige Teile bis in den Wald hineingeschleudert wurden, da bin ich sicher.«

»Trotzdem hat sich da jemand extrem viel Mühe gegeben, die Spuren zu verwischen«, stellte Blum fest.

»Ich habe beide Männer aus dem brennenden Auto gezogen. Als es explodiert ist, wurde Ed von einem Metallteil am Arm getroffen. Ich hab ihm meine Jacke um die Wunde gewickelt.« Sie deutete auf die Blutspuren an ihrem Hemdsärmel. »Das hier ist ihnen auch entgangen. Das ist sein Blut.«

»Sie haben die Polizei gerufen, sagen Sie?«

Pine nickte. »Die Cops müssen dort gewesen sein, bevor die Spuren beseitigt waren.«

»Das kann ich überprüfen«, schlug Blum vor. »Mal sehen, was herauskommt.« Sie hielt einen Moment inne und betrachtete nachdenklich die Stelle des nächtlichen Angriffs. »Sie haben niemandem erzählt, dass der Vermisste nicht der echte Ben Priest ist, oder?«

Pine schaute sie an. »Nein.«

»Weil Sie gespürt haben, dass irgendwas nicht stimmt?«

»Ja.«

»Und dann landet plötzlich ein Hubschrauber mit schwer bewaffneten Soldaten an einer Unfallstelle. Ich glaube, Ihr Gefühl hat Sie nicht getäuscht.«

»Die Sache wird immer dubioser.«

»Mir kam sie von Anfang an nicht koscher vor. Immerhin sieht man nicht jeden Tag ein totes Muli, dem Buchstaben ins Fell geschnitten wurden.«

»Stimmt. Kommen Sie, fahren wir zurück.«

Kurz nachdem sie im Büro eingetroffen waren, klingelte Pines Handy. Sie verzog das Gesicht, als sie den Namen auf dem Display sah.

Blum blickte sie fragend an. »Lassen Sie mich raten. Jemand weiter oben in der Nahrungskette.«

Pine seufzte. »Bingo.«

»Bleibt die Frage, wie hoch oben«, fügte Blum hinzu.

»Ziemlich hoch«, sagte Pine düster.