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John Puller richtete seine M11-Pistole auf den Kopf des Mannes.

Eine allseits beliebte Beretta 92 – beim Militär als M9A1 bekannt – war seinerseits auf John Puller gerichtet.

Es war ein Duell des 21. Jahrhunderts, das keinen Sieger haben konnte, nur zwei tote Verlierer.

»Ich lasse mir das nicht in die Schuhe schieben!«, tobte Private Tony Rogers. Er war ein Schwarzer Mitte zwanzig, dessen Unterarme Tätowierungen der drei Asteroiden auf dem »Terrible Towel« zierten, dem »Schrecklichen Handtuch«, Symbol des Footballteams der Pittsburgh Steelers. Rogers war eins fünfundsiebzig groß, sein Schädel rasiert, seine Schultern breit und massig, seine Arme und Beine die eines Schwerathleten mit klar definierten Muskeln. Ein Körper, der so gar nicht zur hohen Stimme seines Besitzers passte.

Puller trug eine Khakihose und einen marineblauen Anorak, auf dessen Rücken die goldenen Buchstaben »CID« prangten – die gebräuchliche Abkürzung für »Criminal Investigation Division«, die Militärstrafverfolgungsbehörde der Army, für die Puller als Spezialagent arbeitete. Rogers war mit seinem Army-Kampfanzug, schweren Stiefeln und einem Armee-T-Shirt bekleidet, dazu trug er eine Dienstmütze. Er schwitzte, obwohl die Luft kühl war. Puller schwitzte nicht. Sein Blick war ruhig und wich keine Sekunde von Rogers’ Gesicht. Er wollte Ruhe ausstrahlen in der Hoffnung, dass sie auf den Private übergriff.

Die beiden Männer standen sich in einer Gasse hinter einer Bar am Stadtrand von Lawton, Oklahoma, gegenüber. John Puller war in seiner Eigenschaft als Agent der CID hier und versuchte, Rogers, den vermeintlichen Mörder, zu verhaften, der dieselbe Uniform trug wie er selbst und nun seine von der Army ausgegebene Faustfeuerwaffe auf ihn richtete.

»Dann erzählen Sie mir Ihre Version der Geschichte«, verlangte Puller.

»Ich hab niemand erschossen! Kapieren Sie das nicht? Wenn Sie behaupten, ich hätte jemand umgelegt, haben Sie sie nicht mehr alle, Mann!«

»Ich behaupte gar nichts. Ich bin nur hier, weil das mein Job ist. Schön für Sie, wenn die Anklage nicht zutrifft. Verteidigen Sie sich.«

»Was? Wovon reden Sie?«

»Davon, dass Sie sich einen cleveren Anwalt nehmen, der Ihre Verteidigung übernimmt, und vielleicht vom Haken kommen. Ich kenne ein paar gute Juristen und könnte Ihnen einen empfehlen. Aber was Sie jetzt tun, hilft Ihnen nicht weiter. Also lassen Sie die Waffe fallen, und wir vergessen, dass Sie weggelaufen sind und die Pistole auf mich gerichtet haben.«

»Blödsinn!«

»Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie, Rogers. Ich tue nur meinen Job. Lassen Sie mich die Sache friedlich zu Ende bringen. Sie wollen doch nicht in einer schäbigen Gasse in Lawton, Oklahoma, sterben. Und ich will es auch nicht.«

»Die werden mich lebenslang wegsperren! Ich muss meine Mommy unterstützen …«

»Ihre Mommy würde auch nicht wollen, dass es so endet. Sie kriegen Ihre Chance vor Gericht. Man wird sich Ihre Version der Geschichte anhören. Sie können Ihre Mutter als Leumundszeugin aufrufen. Lassen Sie das Rechtssystem seine Arbeit tun.« Puller sprach mit gleichmäßiger, beruhigender Stimme.

Rogers musterte ihn argwöhnisch. »Warum gehen Sie mir nicht einfach aus dem Weg, damit ich aus dieser Gasse rauskann? Und aus der dämlichen Army gleich mit.«

»Wir beide tragen dieselbe Uniform. Ich kann versuchen, Ihnen zu helfen, Private. Aber ich kann nicht einfach davongehen.«

»Ich leg Sie um, Mann. Ich schwör’s, ich leg Sie um!«

»Trotzdem gehe ich nicht einfach.«

»Ich schieße nicht daneben! Ich hab die besten Bewertungen auf dem beschissenen Schießstand!«

»Wenn Sie schießen, schieße ich auch. Dann sterben wir beide. Aber es wäre dumm, es so enden zu lassen. Ich weiß, Sie sehen das ein.«

»Dann rufen wir einfach einen Waffenstillstand aus, und Sie hauen ab, okay?«

Puller schüttelte den Kopf, während sein Blick und die Pistole auf Rogers gerichtet blieben. »Das kann ich nicht tun.«

»Warum nicht, verdammt?«

»Sie sind bei der Artillerie, Rogers. Sie müssen eine Aufgabe erfüllen. Es hat die Army eine Menge Zeit und Geld gekostet, Sie dafür auszubilden, oder?«

»Ja, und?«

»Und das ist mein Job. In meinem Job gehe ich nicht einfach weg. Ich will Sie nicht erschießen, und ich glaube nicht, dass Sie mich erschießen wollen. Also lassen Sie die Waffe fallen. Das ist die einzig richtige Entscheidung, und das wissen Sie.«

Puller hatte den Mann in der Bar aufgespürt, nachdem er mehr als genug Beweise gefunden hatte, um ihn für lange Zeit ins Gefängnis zu bringen. Doch Rogers hatte Puller entdeckt und war geflohen. Die Flucht hatte in dieser Gasse ihr Ende gefunden. Es gab keinen anderen Weg hinaus als den, durch den die beiden Männer hineingekommen waren.

Rogers schüttelte den Kopf. »Dann werden wir sterben, Sie und ich.«

»So muss es nicht enden, Soldat«, gab Puller zurück. »Benutzen Sie Ihren Verstand. Entweder der sichere Tod oder eine Gerichtsverhandlung, bei der Sie zu einer Haftstrafe im Militärgefängnis verurteilt werden. Vielleicht spazieren Sie sogar als freier Mann davon. Was hört sich für Sie besser an? Was würde sich für Ihre Mommy besser anhören?«

Das schien bei Rogers eine Saite zum Schwingen zu bringen. Er blinzelte. »Haben Sie Familie?«

»Ja. Und ich würde sie gerne wiedersehen. Erzählen Sie mir von Ihrer Familie, Rogers.«

Rogers fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Mommy, zwei Brüder und drei Schwestern. Alle in Pittsburgh. Wir sind Steelers-Fans«, fügte er stolz hinzu. »Mein Dad war im Stadion, als Franco 1972 diesen wahnsinnigen Spielzug gemacht hat.«

»Lassen Sie die Waffe fallen, und Sie können sich noch viele Spiele anschauen.«

»Sie hören mir nicht zu, verdammt! Ich lasse mir das nicht in die Schuhe schieben! Der Typ hat die Waffe gezogen und auf mich gerichtet. Es war Selbstverteidigung!«

»Dann sagen Sie das vor dem Kriegsgericht. Möglicherweise verlassen Sie die Verhandlung als freier Mann.«

»So wird es nicht kommen, das wissen Sie genau.« Rogers hielt inne und musterte Puller. »Sie haben Beweise gegen mich, oder Sie wären nicht hier. Sie wissen von den verdammten Drogen, oder?«

»Meine Aufgabe besteht nicht darin, ein Urteil zu sprechen, sondern Sie festzunehmen.«

»Wir sind hier am Arsch der Welt, Mann! Ich brauche ein bisschen Stoff, um klarzukommen. Ich bin Stadtmensch. Ich mag keine Kühe. Da bin ich nicht der Einzige.«

»Sie haben eine gute Dienstakte, Rogers. Das wird Ihnen helfen. Und wenn es Selbstverteidigung war und die Geschworenen glauben Ihnen, spazieren Sie als freier Mann davon.«

Rogers schüttelte starrsinnig den Kopf. »Ich bin am Arsch, Mann. Sie wissen das, und ich weiß es.«

Puller fiel eine Möglichkeit ein, wie er die Situation entschärfen konnte. »Verraten Sie mir was, Rogers. Wie viele Drinks hatten Sie in der Bar?«

»Was?«

»Wie viele Drinks?«

Rogers Hand krampfte sich um die Pistole, während ein Schweißtropfen seine linke Wange hinunterrann. »Zwei große Bier und ein paar Whisky zum Runterspülen. Verdammt noch mal«, brüllte er plötzlich los, »was spielt das für ’ne Rolle? Willst du mich verscheißern, Blödmann?«

»Ich will Sie nicht verscheißern. Ich versuche nur, Ihnen etwas zu erklären. Hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Es ist wichtig für Sie

Puller wartete darauf, dass der Mann antwortete. Er wollte Rogers beschäftigen, ihn zum Nachdenken bewegen. Menschen, die nachdachten, drückten selten ab. Es waren die Heißsporne, die den Abzug betätigten.

»Na gut. Also?«

»Sie haben eine ganze Menge Fusel intus.«

»Scheiße, ich kann doppelt so viel saufen und noch immer einen Paladin fahren.«

»Ich spreche nicht davon, einen Paladin zu fahren.«

»Wovon dann?«

»Ich würde sagen, Sie wiegen um die fünfundsiebzig Kilo«, fuhr Puller ruhig fort. »Selbst bei Ihrer Adrenalinspitze haben Sie schätzungsweise ein Promille im Blut, mit den paar Whisky noch mehr. Deshalb sind Sie aus rechtlicher Sicht zu betrunken, um noch Moped zu fahren, ganz zu schweigen von einer siebenundzwanzig Tonnen schweren Panzerhaubitze.«

»Verdammt, worauf wollen Sie hinaus?«

»Alkohol beeinträchtigt die Feinmotorik, die nötig ist, um mit einer Waffe zu zielen und sie richtig abzufeuern. Bei vermutlich mehr als ein Promille wie bei Ihnen sprechen wir von einer ernsten Verschlechterung der feinmotorischen Fähigkeiten.«

»Ich werde Sie aus drei Meter Entfernung bestimmt nicht verfehlen.«

»Sie werden überrascht sein, Rogers. Meiner Berechnung zufolge haben Sie fünfundzwanzig Prozent Ihrer normalen feinmotorischen Fähigkeit eingebüßt. Ich nicht. Also bitte ich Sie noch einmal, Ihre Waffe fallen zu lassen, weil eine Minderung von fünfundzwanzig Prozent ziemlich sicher gewährleistet, dass diese Sache hier nicht gut für Sie endet.«

Rogers feuerte und rief gleichzeitig: »Leck mi…«

Er konnte das Wort nicht mehr ganz aussprechen.