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Kurt Ferris hatte Pine außer der Wohnung auch seinen zwei Jahre alten Kia Soul überlassen. Ehe er vom Militärstützpunkt Fort Bragg nach Washington gekommen war, hatte er einen riesigen Dodge Ram Pick-up mit Zwillingsreifen gefahren, wie Pine wusste, hatte aber rasch einsehen müssen, dass der Ram zu groß und unhandlich für den Stadtverkehr war. Also hatte er den Pick-up gegen den Kia eingetauscht, auch wenn er damit nicht wirklich glücklich war, nachdem er sein zweieinhalb Tonnen schweres PS-Monster aufgegeben hatte.

Pine parkte fünf Häuser vor Ben Priests Reihenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert in der Lee Street in Alexandria, Virginia. Es war ein nobles, geschichtsträchtiges Viertel am Potomac River.

Pine hatte nach Immobilien in dieser Gegend gegoogelt und war zu dem Schluss gekommen, dass Priests Haus mindestens zwei Millionen wert sein musste.

Sie fragte sich, welchen einträglichen Tätigkeiten der Mann nachging, dass er sich eine so noble Bleibe leisten konnte.

Gehörte es zu seinem Job, zum Beispiel einen Muliritt in den Grand Canyon zu buchen und seinen Platz dann einem anderen zu überlassen, der als Benjamin Priest in Erscheinung trat und kurz darauf von der Bildfläche verschwand? Priest hatte erwähnt, dass es unter anderem darum gehe, Personen »weißzuwaschen«, so wie es auch mit Geld gemacht wurde. Pine hatte ihm nicht geglaubt, sah aber ein, dass sie noch einmal darüber nachdenken musste, wie er es gemeint haben konnte.

Priest hatte außerdem behauptet, im amerikanischen Geheimdienstwesen gearbeitet zu haben, bevor er sich selbstständig gemacht hatte. Hätte Pine ihre FBI-Ressourcen nutzen können, hätte sich vielleicht herausfinden lassen, welchen Job Priest in welcher Behörde gehabt hatte. Da sie jedoch offiziell im Urlaub war und in Wahrheit auf eigene Faust ermittelte, konnte sie nicht auf die Hilfsmittel zurückgreifen, die das FBI ihr geboten hätte. Was aber nicht hieß, dass es keine Mittel und Wege gab, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Pine hatte das Viertel lange genug erkundet, um sicher zu sein, dass Priests Haus nicht überwacht wurde, als sich ihr eine unerwartete Chance bot.

Ihr war die Frau bereits aufgefallen. Sie wohnte im angrenzenden Reihenhaus. Die Gärten hinter den Häusern waren nur durch einen niedrigen Zaun getrennt, wie Pine zuvor schon erkundet hatte. Vielleicht gab es von daher Kontakt zwischen den Bewohnern.

Die Frau war Mitte sechzig und hatte dünnes weißes Haar, das auf eine Weise gestylt war, die erkennen ließ, dass sie Geld hatte und nicht abgeneigt war, es auszugeben. Dies zeigten auch ihre Designerklamotten, ihre Schuhe und die Sonnenbrille. Sie war braun gebrannt und schlank und bewegte sich wie jemand, der es gewohnt war, das Sagen zu haben.

Pines Annahme, eine wohlhabende Frau vor sich zu haben, hatte sich bestätigt, als ein Dienstmädchen mehrere Pakete aus einem brandneuen Jaguar-Cabrio entgegengenommen hatte, das für ein paar Minuten vor dem Eingang hielt. Die Frau hatte die Pakete ins Haus getragen.

Von ihrem Beobachtungsposten aus hatte Pine mithilfe ihres Fernglases die Label auf den Paketen lesen können: Gucci, Dior, Louis Vuitton, Hermès. Einige der nobelsten Marken der Modewelt.

Pine hatte noch nie auch nur ein Kleidungsstück eines dieser Labels besessen. Ihr Stil war eher von der sportlich-legeren Art. Doch selbst wenn sie es gewollt hätte – sie bezweifelte, sich diese Art von Mode leisten zu können. Wahrscheinlich wären ihr schon die Tragetüten zu teuer gewesen, in denen man die Sachen nach Hause trug. Außerdem war ihr Körper nicht für Haute Couture gebaut. Jene Körperpartien, die eher klein hätten sein müssen, waren bei ihr ein wenig zu groß ausgefallen.

Als die Frau in ihren Stilettos vorsichtig über das tückische Pflaster stöckelte und dabei ihr Handy checkte, stieg Pine aus dem Kia und ging parallel zu ihr die Straße entlang. Sie timte ihr Manöver so, dass sie und die Unbekannte an der nächsten Querstraße zusammentrafen.

»Verzeihung, Ma’am …«

Die Frau schreckte aus ihrer digitalen Blase hoch und beäugte Pine, die mit Jeans, Windjacke und Stiefeln bekleidet war, mit einigem Argwohn.

»Egal, was Sie verkaufen, ich brauche es nicht«, stellte sie dann mit ihrer tiefen, kultivierten Stimme klar.

»Darum geht es nicht.«

»Ich habe auch kein Bargeld bei mir, falls Sie es darauf abgesehen haben. Wiedersehen.«

Die Frau ging weiter.

Pine folgte ihr.

Die Frau hob ihr Handy hoch, das in einer goldenen Hülle steckte. »Ich rufe die Polizei, wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen.«

»Ich bin die Polizei.« Pine zeigte ihre FBI-Dienstmarke.

Die Frau ließ langsam das Handy sinken. »Sie sind vom FBI? Nie im Leben.«

»Doch«, sagte Pine. »Glauben Sie mir.«

Die Frau musterte sie eingehend. »Sie sehen aber gar nicht so aus.«

»Das ist ja Sinn der Sache, wenn man jemanden observiert.«

»Sie überwachen jemanden?« Die Frau erschrak. »Was hat Jeffrey angestellt?«

»Jeffrey?«

»Mein Mann. Er ist Investmentmanager. Die tun doch immer irgendwas Illegales. Er ist mein zweiter Mann«, fügte sie rasch hinzu, als würde es sie von einer möglichen Mitschuld freisprechen. Theatralisch griff sie sich mit der Hand an die Brust. »Gott sei Dank kümmere ich mich selbst um mein Vermögen. Dieser kleine Schwindler.«

»Ich bin nicht wegen Jeffrey hier. Es geht um Ihren Nachbarn.«

»Meinen Nachbarn? Welchen?«

»Ben Priest.«

Die Frau betrachtete Pine in einem neuen Licht und sagte mit wissendem Blick: »Ein interessanter Typ.«

»Wie heißen Sie?«

»Melanie Renfro.«

»Wohnen Sie schon lange in Ihrem Haus?«

»Zwanzig Jahre. Jeffrey ist zu mir gezogen, nachdem wir geheiratet hatten. Vorher hat er in D.C. gewohnt. Capitol Hill. Also wirklich, da möchte ich für kein Geld in der Welt zu Hause sein. Die Steuern sind dort doppelt so hoch wie in Virginia. Ich habe Jeffrey klipp und klar gesagt: Entweder du ziehst hierher, oder aus der Hochzeit wird nichts.«

Pine fragte kurz entschlossen: »Wie wär’s mit einem Kaffee?«

»Das hatte ich sowieso vor.«

Pine begleitete Renfro in ein Café in der King Street, der Einkaufs- und Flanierstraße, die durch die Altstadt von Alexandria führte und am Potomac endete. Sie bestellten ihren Kaffee und setzten sich draußen an einen Tisch in einem abgetrennten Bereich. Derzeit waren sie die einzigen Gäste, obwohl nicht wenige Fußgänger unterwegs waren. Hauptsächlich Frauen mit Kinderwagen, aber auch Männer und Frauen im Business-Outfit und mit Aktentaschen.

Renfro nahm einen Schluck Kaffee, tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab und schaute sich um wie in einem Film, wenn jemand sich vergewissert, dass niemand lauscht. Als sie bemerkte, dass Pine sie beobachtete, lächelte sie und sagte: »Wissen Sie, das Spannendste am heutigen Tag wäre ein Waxing gewesen. Aber das hier ist viel besser. Und tut nicht so weh wie das Haarentfernen.«

»Freut mich, dass ich Ihnen einen Gefallen tun konnte.« Pine trank einen Schluck Kaffee. »Also, was ist mit Priest? Sie sagten, er ist ein interessanter Typ.«

»Ja. Er ist vor sechs oder sieben Jahren hierhergezogen. Da war ich noch mit Parker verheiratet, meinem ersten Mann, der vor vier Jahren an einem Herzinfarkt starb. Zwei Jahre später habe ich Jeffrey geheiratet. Einige meiner Freunde haben gemeint, es wäre zu früh. Aber in meinem Alter … tja, wer weiß schon, wie viel Zeit einem noch bleibt? Besser, man wartet nicht zu lange. Habe ich recht?«

»Sicher. Sie kennen Priest also ganz gut?«

»O ja. Ich habe ihn hin und wieder zum Essen eingeladen, auch mal zu einer Cocktailparty oder zum Barbecue. Ich habe einen erstklassigen Caterer, falls Sie mal einen brauchen.«

»Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«

»Er scheint mir ein Mann zu sein, der viel gesehen und viel erlebt hat. Er hat zu jedem Thema etwas Interessantes zu sagen. Spricht mehrere Sprachen. Außerdem ist er groß und stattlich und sieht gut aus. Ich hatte ihn meist zu mir eingeladen, weil ich wusste, dass die anderen Gäste ihn interessant finden würden, vor allem meine Freundinnen. Er hat mit ihnen geflirtet – natürlich nichts Ernstes, aber sie haben es genossen. Er ist ein Mann, der es genießt, im Mittelpunkt zu stehen, und der dabei sympathisch rüberkommt.«

»Hat er mal erwähnt, was er beruflich macht?«

»Er hat gesagt, dass er in England unterrichtet hat, in Cambridge oder Oxford, eins von beiden. Dann hat er mit Investments ein Vermögen gemacht und ist um die Welt gereist. Er scheint wohlhabend und unabhängig zu sein. Jedenfalls hatte er nie geregelte Arbeitszeiten oder so. Manchmal ist er um zwei Uhr nachts mit dem Taxi nach Hause gekommen.«

»Hat er nie erwähnt, dass er für eine Regierungsbehörde arbeitet?«

»Hören Sie, wenn Sie vom FBI sind, will ich Ihnen gerne helfen. Aber ich kenne Sie ja gar nicht. Und heutzutage ist es leicht, mit falschen Dienstmarken aufzukreuzen, die täuschend echt aussehen.«

»Sie haben recht. Also, ich suche Ben Priest, weil er bei einem Aufenthalt in Arizona plötzlich verschwunden ist. Ich komme von dort.«

»O mein Gott! Haben Sie eine Vermutung, was mit ihm geschehen ist?«

Pine strich ihre Haare zurück, um Renfro die Wunde zu zeigen, die sie sich zugezogen hatte, als sie mit dem Wagen gegen den Baum geprallt war.

»Ich war dabei, als er entführt wurde, und wäre selbst beinahe getötet worden. Ich mag es nicht, wenn Leute entführt werden. Und noch weniger mag ich es, wenn mich jemand umbringen will.«

Das Blut wich aus Renfros Gesicht. »O Gott, Sie Arme.«

»Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir irgendwie weiterhelfen könnten.«

»Ja, natürlich. Also, bei Ben habe ich mich selbst manchmal gefragt, ob er ein Spion ist. Er spricht mehrere Sprachen, ist gebildet und weiß sich auf gesellschaftlichem Parkett zu bewegen. Und er sieht ja auch aus wie James Bond, nicht wahr? Ich habe ihn im Smoking gesehen. Also, wenn ich zwanzig Jahre … ach, was sage ich, zehn Jahre jünger wäre, könnte er mich schon reizen. Mein Mann Jeffrey ist zwar auch ein kluger Kopf und verdient einen Haufen Geld, aber er sieht aus wie Don Rickles, der Komiker.«

»Hat Priest Sie auch mal zu sich eingeladen?«

Renfro schaute sie erstaunt an. »Jetzt, wo Sie’s erwähnen … nein. Moment, das stimmt nicht ganz. Ich war mal bei ihm im Garten auf ein paar Drinks.«

»Aber nie im Haus?«

»Nein. Das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Außerdem gebe ich lieber Partys bei mir zu Hause. Vielleicht sieht’s bei ihm ja auch nicht so einladend aus. Immerhin ist er Junggeselle.« Sie hielt einen Moment inne. »Ist er doch, oder? Ich habe jedenfalls nie eine Frau bei ihm gesehen.« Sie beugte sich zu Pine vor. »Könnte ja sein, dass er schwul ist, oder? Das wäre eine ziemliche Enttäuschung für meine Freundinnen. Und für mich auch, ehrlich gesagt.«

»Davon ist uns nichts bekannt. Hat er mal etwas gesagt, das Ihnen merkwürdig vorkam?«

»Merkwürdig?« Renfro trank ihren Kaffee und überlegte einen Augenblick. »Ja, eine Sache gab es mal. Wir hatten eine Dinnerparty im Garten. Es ist noch gar nicht so lange her, höchstens ein paar Wochen.«

»Und was war?«

»Nun, Ben war charmant wie immer und unterhielt die Gäste mit einer Geschichte über eine seiner Reisen.«

»Was für eine Reise?«

»Lassen Sie mich nachdenken … Es ging darum, dass er unbeabsichtigt eine Grenze überquert hatte und nur mit Glück heil wieder rauskam.«

»Und wo war das?«

»Er sagte, es war ein Stan-Staat. Kann das sein?«

»Ja, die Stan-Staaten. Usbekistan, Kasachstan. Sie gehörten zur ehemaligen Sowjetunion. Und was weiter?«

»Er sagte, die Welt sei heute völlig unberechenbar. Niemand könne wissen, was passiert. Ich habe ihn gefragt, ob er damit etwas Bestimmtes meint.«

»Und?«

»Er hat nur gesagt, man wird sehen.«

»Er ist nicht ins Detail gegangen?«

»Nein. Er hat nur gelacht und seinen Wein ausgetrunken, dann hat er mich freundschaftlich in den Arm gekniffen und gesagt, ich solle nicht auf ihn hören. Er mache nur Spaß und habe zu viel getrunken. Aber das Komische war, dass die Party gerade erst angefangen hatte. Es war erst sein zweites Glas.«

»Hatten Sie vorher schon einmal so etwas von ihm gehört?«

Renfro schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht so. Er wirkte irgendwie … aufgewühlt, vielleicht sogar beunruhigt. Eine Zeit lang hat er einfach nur in die Ferne gestarrt. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Wie ich schon sagte, stand er gern im Mittelpunkt und hat die Leute unterhalten. Es war wirklich seltsam.«

Pine zog ihr Handy hervor und zeigte der Frau das digitale Phantombild, das Jennifer Yazzie angefertigt hatte.

»Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen? Vielleicht zusammen mit Priest?«

Renfro betrachtete das Bild. »Kommt mir bekannt vor.«

»Woher?«

Renfro lehnte sich im Stuhl zurück und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

»Ich schlafe nicht besonders gut. Das war schon immer so. Meine Mutter hat ebenfalls an Schlaflosigkeit gelitten – bestimmt habe ich es von ihr.« Sie beugte sich vor, umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen. »Es war so gegen ein Uhr früh. Ich hatte mir gerade eine Tasse Tee aus der Küche geholt, da schaute ich aus dem Fenster auf die Straße. Es war Vollmond, fast so hell wie am Tag. In diesem Moment hielt ein Auto vor Bens Haus.«

»Ein Taxi?«

»Nein, kein Taxi – obwohl es natürlich ein Uber-Wagen gewesen sein kann. Jedenfalls steigt ein Mann aus, geht zum Kofferraum und holt seine Tasche heraus. In dem Moment hat er nach oben geschaut, sodass ich sein Gesicht sehen konnte.« Sie tippte auf Pines Handy. »Er sah so aus wie dieser Mann.«

»Hat er Priests Haus betreten?«

»Ja. Jemand hat ihm die Tür aufgemacht. Der Mann ging rein, und die Tür wurde geschlossen.«

»Hat Priest ihn hereingelassen?«

»Das konnte ich nicht erkennen. Aber wer sonst hätte ihm aufmachen sollen?«

»Haben Sie den Mann noch einmal gesehen?«

»Nein.«

»Wann war das ungefähr?«

»Das kann ich Ihnen genau sagen, weil Jeffrey auf Geschäftsreise war. Es muss vor zehn Tagen gewesen sein.«

Renfro schaute fragend zu Pine, deren Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet war.

»Hilft Ihnen das weiter?«

»Ich glaube schon.«

»Falls er ein Spion ist … vielleicht haben unsere Feinde ihn entführt«, sagte Renfro atemlos.

Oder unsere eigenen Leute, dachte Pine.