49

Sie gingen zurück zu ihrem Waggon, ohne anderen Fahrgästen zu begegnen, doch im Vorbeigehen hörten sie Stimmen aus den Abteilen.

Pine trat als Erste ein, gefolgt von Blum und Chung. Er schloss die Abteiltür.

»Setzen Sie sich«, befahl er.

Pine und Blum kamen der Aufforderung nach.

»Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden«, befahl Chung, die Pistole auf Pines Kopf gerichtet.

Sie tat, was er verlangte.

»Treten Sie sie mit dem Fuß zu mir herüber«, sagte er.

Wieder gehorchte sie, ohne zu zögern.

Der Koreaner bückte sich, hob die Waffe auf und legte sie auf einen kleinen Metalltisch hinter sich. Daneben lag Blums Pistole, wie Pine nun sah.

»Auch Ihre andere Waffe bitte«, fuhr Chung fort. »Ich weiß, dass Sie eine Zweitwaffe tragen.«

Pine nahm ihr Fußholster ab und schob es ihm über den Boden hin.

Chung trat die Waffe mit dem Fuß hinter sich.

»Woher wussten Sie, dass wir in diesem Zug sind?«, fragte Pine.

»Das ist der einzige Zug nach Arizona. Und Sie beide waren die einzigen Fahrgäste, die ihre Tickets bar bezahlt haben. Außerdem haben Sie der Frau am Schalter keine Namen genannt, also nannte sie Sie einfach Jane und Judy Doe. Ziemlich auffällig.«

Pine verzog das Gesicht. »Sie haben den Zug zum Anhalten gezwungen. Wie haben Sie das angestellt? Haben Sie ein Auto auf die Gleise gefahren?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Also, was wollen Sie?«

Chung zog ein Foto aus der Tasche und warf es Pine zu. »Diesen Mann.«

Sie fing es auf, betrachtete es im Licht ihrer Taschenlampe.

Das Foto zeigte David Roth.

Pine blickte zu Chung, schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

Der Koreaner war so schnell, dass Pine seinen Schlag nicht abblocken konnte. Die Wucht des Treffers riss ihren Kopf herum und holte sie von den Beinen. Sie krachte gegen die Abteilwand.

Als Blum aufsprang und sich auf Chung stürzte, packte er sie am Handgelenk und verdrehte es, bis sie vor Schmerz aufschrie und zu Boden sank. Nach Luft ringend rieb sie sich den Arm.

Pine setzte sich langsam auf und wischte sich das Blut vom Mund.

»Ich bin nicht so weit gefahren, um mir von Ihnen erzählen zu lassen, dass Sie keine Ahnung haben. Ich weiß, dass Sie bestens informiert sind«, betonte Chung.

»Es stimmt, ich bin auf der Suche nach Roth.« Pine spuckte Blut aus. »Aber ich habe ihn nicht gefunden. Noch nicht.«

»Sie haben aber eine konkrete Vermutung, wo er ist?«, hakte Chung nach.

»Ich denke schon.«

»Wo?«

Pine sah auf Blum hinunter. »Wenn ich es Ihnen sage, lassen Sie sie dann gehen?«

Chung schüttelte den Kopf. »Sie ist kein kleines Mädchen.«

Blum kämpfte sich mühsam hoch und setzte sich neben Pine.

»Schon in Ordnung«, sagte sie, »ich würde sowieso nicht weggehen.« Sie wischte sich den Staub von der Kleidung, legte die Hände in den Schoß und sagte seelenruhig: »Jetzt sagen Sie dem netten Herrn schon, wo Mr. Roth sich Ihrer Meinung nach aufhält, Agentin Pine.«

Pine schwieg.

»Nun, dann habe ich selbst wohl die Ehre, es zu tun.« Sie schaute zu Chung hoch. »Wir haben den starken Verdacht, dass Roth sich in Flagstaff aufhält. Genau dort fahren wir jetzt hin. Aber das wissen Sie ja sicher, wenn Sie unsere Tickets gecheckt haben.«

»Warum Flagstaff?«

»Dort befindet sich ein FBI-Büro, das größte in der Gegend des Grand Canyon. Wir glauben, dass er sich an die Behörden wenden wird.«

»Warum sollte er?«, fragte Chung irritiert.

»Wahrscheinlich, weil er Angst hat«, führte Blum aus. »Er will nicht sterben. Er glaubt, das FBI kann ihn schützen.«

»Und – können die ihn schützen?«, fragte Pine, an Chung gewandt.

»Warum fragen Sie das mich? Sie sind beim FBI, nicht ich.«

»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte Pine. »Ich will wissen, wie Sie es einschätzen.«

Chung überlegte einen Moment. »Ich glaube nicht, dass jemand ihn schützen kann. Am allerwenigsten Ihre Leute.«

»Gut, dann sind wir uns zumindest in diesem Punkt einig. Warum wollen Sie ihn?«

»Ich glaube, das liegt auf der Hand.«

»Nicht für mich. Oder wollen Sie etwa Ihre Atombombe zurückholen?«

Chung musterte sie abschätzend. »Die Welt ist kompliziert, Agentin Pine. Viel komplizierter, als Sie denken.«

»Ich denke, eine Atomwaffe auf amerikanischem Boden zu verstecken und Tausende meiner Landsleute zu töten, ist eine ziemlich simple Tatsache. Was kann man daran falsch verstehen? Es ist totaler Wahnsinn. Deshalb haben Sie allen Grund, mit mir zusammenzuarbeiten.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wenn diese Bombe hochgeht, wird Nordkorea ausgelöscht. Wir würden Ihr Land in die Steinzeit zurückbomben.«

»Da stimme ich Ihnen zu.«

Pine wollte etwas sagen, konnte ihn jedoch nur verblüfft anstarren.

Blum fand als Erste die Sprache wieder. »Sie sehen das auch so?«

»Natürlich«, bekräftigte Chung. »Was glauben Sie, warum ich hier bin?«

Pine sagte: »Können Sie nicht ein bisschen deutlicher werden? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, irgendetwas zu erklären. Und wenn Sie mir nicht helfen können …« Er zuckte mit den Achseln.

»Was dann? Wollen Sie uns töten? Was hätten Sie davon?«

»Wenn ich Sie am Leben ließe, würden Sie mir weiter in die Quere kommen.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Pine.

»Ihre Ehrlichkeit spricht für Sie«, räumte Chung ein.

»Sie sehen mir viel zu nett aus, um so etwas zu tun«, warf Blum ein.

»Sie irren sich, Madam«, erwiderte Chung. »Ich bin nicht nett. Ganz und gar nicht. Leider werden Sie das am eigenen Leib erfahren.«

In diesem Augenblick ruckte der Zug und setzte sich in Bewegung.

Alle drei waren für einen Moment überrascht.

Chung stolperte einen Schritt nach hinten.

Pine krümmte sich, als müsse sie sich übergeben. Ihre Finger schlossen sich um die dünne Stange, mit der die Schaffner die obere Liege nach unten zogen, wie sie beobachtet hatte.

Sie schnellte hoch, schwang die Stange und traf Chungs Hand. Die Waffe flog ihm aus den Fingern. Ehe er sich fangen konnte, traf die Stange ihn am Kinn und riss seinen Kopf herum.

Er wankte, taumelte nach hinten und stolperte über den kleinen Metalltisch, auf den er Pines Waffe gelegt hatte. Die Pistole fiel zu Boden, schlitterte zum Abteilfenster.

Chung hielt sich das Gesicht und richtete sich auf, doch Pine setzte bereits mit einem wuchtigen Tritt nach, der den Koreaner von den Füßen riss und gegen das Fenster schleuderte.

Pine warf sich zu Boden, griff sich ihre Pistole, warf sich herum und drückte aus der Drehung ab. Der Schuss dröhnte durch das kleine Abteil.

Die Kugel verfehlte Chung, der bereits reagiert hatte und nach vorn schnellte. Das Projektil schlug neben ihm ins Abteilfenster ein.

Der Koreaner trat Pine die Pistole aus der Hand und setzte mit einem Handkantenschlag auf die Rippen nach, der ihr die Luft aus der Lunge trieb. Sekundenlang wie gelähmt, musste Pine hilflos mit ansehen, wie der Gegner zu einem vernichtenden Tritt gegen ihren Kopf ansetzte.

Das war’s, durchfuhr es sie.

Ein heiserer Schrei. Pine sah, wie der Koreaner zurücktaumelte und sich an den Kopf fasste. Blut spritzte durchs Abteil.

Blum hatte ihm die Eisenstange über den Schädel gezogen.

Aus einer klaffenden Wunde blutend, wirbelte Chung herum, um Blum einen tödlichen Hieb zu versetzen, doch Pine, die sich wieder gefangen hatte, war schneller und rammte ihm das Knie in den Rücken. Er wurde nach vorn geschleudert und krachte in die zertrümmerte Fensterscheibe.

Mit einem schnellen Schritt war Pine bei ihm, stemmte die Füße auf den Boden des Abteils, schlang die Beine um Chungs Unterschenkel und hielt ihn wie in einem Schraubstock, während sie die Arme um seinen Oberkörper schlang und zudrückte, sodass der Gegner sich kaum noch bewegen konnte. Nach vorn gebeugt, presste sie sein Gesicht gegen das Glas, schob die Schulter unter das rechte Schulterblatt des Koreaners und drückte mit aller Kraft nach oben.

Langsam und unerbittlich wurde der kleinere, leichtere Mann hochgehoben, bis nur noch die Spitzen seiner Schuhe den Boden berührten. Pine spürte Chungs heftige Gegenwehr. Er zog, riss und zerrte, doch im Moment war sie die Stärkere.

Mehr aber konnte sie nicht tun, da sie die Beine nicht spreizen durfte; in diesem Fall hätte Chung sich aus ihrem Klammergriff befreit und sie und Blum getötet.

Doch sie konnte den Mann nicht mehr lange festhalten; ihre Kräfte schwanden bereits.

»Carol«, keuchte sie. »Das Fenster … der Nothebel …«

Blum war einen Moment lang verwirrt; dann sprang sie vor, packte den roten Hebel unten am Fenster und riss ihn aus der Verankerung.

Chung erkannte, was die Frauen vorhatten, und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Er warf den Kopf nach hinten und traf Pine hart am Kinn. Der Schmerz fuhr ihr ins Gesicht, doch sie biss die Zähne zusammen und drückte den Gegner weiter gegen die geborstene Scheibe, während Blum die Gummiversiegelung vom Fensterrahmen zog.

Als sie fertig war, packte sie das Glas an den Rändern und riss mit aller Kraft daran. Die Scheibe löste sich aus der Bordwand und kippte aus dem Rahmen. Ein Schwall kalter Luft toste ins Abteil und ließ die Vorhänge flattern.

Pine wusste, dass der Augenblick der Wahrheit gekommen war, denn ohne die Scheibe hatte Chung neuen Bewegungsspielraum. Wieder zog und riss und zerrte er, aber da er keinen festen Boden unter den Füßen hatte, konnte er nicht die nötige Kraft aufbringen.

Die Innenbeleuchtung flackerte, flammte auf und erlosch sofort wieder.

Pine stemmte den kleineren Mann Zentimeter für Zentimeter hoch, während sie ihn eisern umklammert hielt wie eine Boa constrictor, die ihr Opfer erdrückt, um es zu verschlingen – mit dem Unterschied, dass sie Chung nicht verschlingen, sondern aus dem Fenster werfen wollte.

Langsam beugte Pine sich nach vorn und schob den Gegner Zentimeter um Zentimeter über den Fensterrahmen. Bald war der Körper des Koreaners zur Hälfte draußen.

Aber Pine ebenso.

Der Zug war nun mit etwa sechzig Stundenkilometern unterwegs und beschleunigte weiter. Der Fahrtwind zerrte an ihrer Kleidung, in ihrem Haar. Das Rattern der Räder vermischte sich mit dem Tosen des Windes. Über dem Rücken des Koreaners sah Pine die Landschaft vorübergleiten. Das Gelände war völlig flach. Lawrence, Kansas, lag bereits weit hinter ihnen.

Pine näherte sich jetzt unweigerlich dem Punkt, an dem sie sich nicht mehr im Abteil würde halten können. Ihre Muskeln waren schon jetzt zum Zerreißen gespannt. Nur noch ein kleines Stück weiter, und sie würden beide durch das Fenster nach draußen kippen, wo sie von den Rädern zermalmt zu werden drohten.

Pines Muskeln brannten, und sie bekam vor Anstrengung kaum noch Luft. Sie wusste, sie würde nur noch Sekunden durchhalten.

Plötzlich spürte sie jemanden hinter sich.

Blum.

Die ältere Frau packte Pines Gürtel und beugte sich nach hinten, um ihr zusätzlichen Halt zu geben.

Pine atmete noch einmal tief durch und mobilisierte die letzten Kräfte, denn Chung war drauf und dran, den rechten Arm aus der Umklammerung zu befreien. Lange würde sie ihn nicht mehr halten können.

Zieh es durch, Atlee! Halt das Gewicht oben! Ein paar Sekunden noch, und dir gehört die Goldmedaille …

Sie stieß einen Schrei aus, als der Southwest Chief noch einmal beschleunigte. Der Ruck, mit dem der Zug sein Tempo erhöhte, hätte sie beinahe alle drei aus dem Fenster gerissen, doch Blum warf sich geistesgegenwärtig nach hinten und verhinderte das Schlimmste.

Alles hing jetzt vom exakten Timing ab. Pine musste verhindern, dass Chung sich im entscheidenden Moment an ihren Armen oder Beinen festhielt. Denn eines war ihr klar: Wenn es dem Koreaner gelang, im Abteil zu bleiben, waren sie und Blum so gut wie tot. Erschöpft wie sie war, würde sie nicht verhindern können, dass der Mann ihr und Blum ebenso das Genick brach wie Simon Russell.

Pine lehnte sich so weit hinaus, dass sie kaum noch atmen konnte, als der kalte Wind ihr ins Gesicht schlug und das Rattern der Räder ihr laut in den Ohren dröhnte.

Alles in ihr war zum Zerreißen gespannt, jeder Muskel, jede Sehne. Sie spürte Chungs Herzschlag an ihrer Brust, hörte sein Keuchen, roch seine Angst.

Aber auch ihre eigene.

Jetzt!

Mit einem letzten, explosiven Kraftausbruch drückte Pine gegen Chungs Rücken und löste im selben Moment den Griff um seinen Oberkörper.

Sie spürte, wie seine Arme durch die Luft ruderten. Irgendwie gelang es ihm, sich auf die Seite zu drehen und mit den Händen nach dem leeren Fensterrahmen zu greifen.

Sie waren einander nun halb zugewandt, starrten sich in die Augen.

Die Lichter im Zug flammten wieder auf. Pine sah das verzerrte Gesicht des Koreaners.

In seinen Augen spiegelte sich Todesangst.

In dem Moment, als Pine seine Beine losließ, schoss sein rechter Arm zu ihr hoch. Seine Finger krampften sich in ihr vom Wind gepeitschtes Haar und rissen ihr ein dickes Büschel aus, während seine Füße bereits im Nichts baumelten.

Pine sprang zurück, als der Koreaner ihr ins Gesicht zu treten versuchte.

Dann erfasste ihn der Fahrtwind.

Er glitt aus dem Fenster, ohne die geringste Chance, irgendwo Halt zu finden.

Seine Kleidung flatterte im tosenden Sturm. Einen Moment lang schien er in der Luft zu hängen; dann wurde er mit einem brutalen Ruck zur Seite gerissen, wie von einem gigantischen Hammer getroffen. Binnen eines Sekundenbruchteils verschwand er aus Pines Blick.

Pine sank nach hinten in Blums ausgestreckte Arme.

Zitternd und keuchend lagen die beiden Frauen auf dem Boden des Abteils. Erst Minuten später rappelten sie sich auf, während die Lichter erneut erloschen, um gleich darauf wieder aufzuflammen.

In diesem Augenblick wurde die Abteiltür aufgerissen.

Ein Schaffner kam herein. »Mein Gott!«, rief er entsetzt, als er sah, dass die Fensterscheibe nicht mehr an ihrem Platz war und der Wind die Vorhänge hin und her peitschte.

Pine ließ sich auf die Liege sinken und sagte: »Wir brauchen ein neues Abteil.« Sie stockte, um Luft zu holen. »Hier zieht’s.«