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Zwei Uhr nachts ist eine gute Zeit, um in ein Haus einzubrechen.
Dieser Gedanke ging Pine durch den Kopf, als sie im Garten hinter Ben Priests Haus hockte und sich daranmachte, die Leitung zum Sicherheitssystem und zum Telefon zu kappen.
Diese Tricks hatte sie nicht während der FBI-Ausbildung gelernt; vielmehr hatte sie ihre Grundkenntnisse in Eigeninitiative erweitert. Diese spezielle Methode hatte Pine sich vom Inhaber einer Firma für Heimsicherheitssysteme beibringen lassen.
Als die Leitung gekappt war, erhob sich Pine, schaute sich um und eilte zur Hintertür, wobei sie darauf achtete, sich in Deckung zu halten; schließlich wusste sie, dass Melanie Renfro an Schlaflosigkeit litt und von einem Fenster ihrer Wohnung aus in Priests Garten schauen konnte.
Sie schob den Schlüssel, den Blum ihr gegeben hatte, ins Schloss, drehte ihn um und war Augenblicke später im Haus – gerade rechtzeitig, bevor ein Windstoß die ersten Regentropfen gegen die Tür wehte.
Pine verharrte und lauschte einen Moment, doch die Alarmanlage schwieg. Sie hatte das Sicherheitssystem erfolgreich stillgelegt. Behutsam zog sie ihre Maglite-Stablampe aus der Tasche, knipste sie an und schaute sich um. Im Haus herrschte ein leicht modriger Geruch, was in Anbetracht seines Alters kein Wunder war, auch wenn die Besitzer es noch so gut in Schuss gehalten haben mochten.
Die Hintertür führte zu einer Kammer mit eingebauten Regalen und Gummistiefeln in der Ecke. Von dort aus ging es weiter in die angrenzende Küche. Sie war klein und nicht besonders gut eingerichtet. Soweit Pine es im Licht ihrer Lampe erkennen konnte, waren die Haushaltsgeräte alt, die Schränke klapprig, und der Fußboden bestand aus billigem Linoleum.
Pine öffnete den Kühlschrank. Er war leer und nicht besonders sauber. Sie sah in den Schubladen und Schränken nach. Auch sie waren größtenteils leer. Ein paar Teller, ein wenig Besteck, einige Küchengeräte. Pine hatte das Gefühl, dass die Gegenstände nur dazu dienten, den Schein zu wahren, oder dass Priest sie mitsamt dem Haus übernommen hatte.
Der Regen trommelte immer lauter auf das Dach und an die Fenster. Ein greller Blitz riss die Küche aus der Dunkelheit, unmittelbar gefolgt von lautem Donnerkrachen.
Pine ging weiter in das kleine Esszimmer, das seinen Zweck allerdings nicht erfüllen konnte, da es völlig leer stand. Die fein gearbeiteten Wandleisten waren verstaubt und hätten einen frischen Anstrich vertragen. Von einer kunstvollen Deckenrosette hing ein altmodischer Kronleuchter.
Pines Hoffnung, auf Priests Arbeitszimmer zu stoßen, wurde erfüllt, als sie die Tür auf der anderen Seite des Flurs öffnete. Drinnen ließ sie den Lichtstrahl über den großen Schreibtisch wandern, auf dem ein Desktop-Computer stand. An einer Wand befand sich ein hölzerner Aktenschrank. Das Arbeitszimmer wurde allem Anschein nach benutzt.
Pine machte sich auf die Suche.
Der Aktenschrank war leer.
Ebenso die Schreibtischschubladen.
Sie klappte ein Buch nach dem anderen auf und schüttelte es, um zu sehen, ob etwas herausflatterte.
Nichts.
Sie setzte sich an den Computer, schaltete ihn ein in der Erwartung, dass er durch ein Passwort gesichert war.
Der Bildschirm blieb schwarz. Es kam nicht einmal die Aufforderung zur Eingabe eines Passworts.
Pine fluchte in sich hinein. Der Computer war leer gefegt worden. Jemand hatte die Festplatte herausgenommen oder vernichtet.
Priest? Oder jemand anders?
Sie verließ das Büro und stieg die schmale Treppe in den ersten Stock hinauf.
Hier oben gab es drei Schlafzimmer mit angrenzenden Bädern.
Pine checkte ein Zimmer nach dem anderen. Bis auf eines – offenbar Priests Schlafzimmer – waren alle Zimmer leer. Der Mann teilte offenbar Margaret Mitchells Neigung, keine Gäste bei sich aufzunehmen.
Das Bett war mit einem kunstvoll verzierten Kopfteil ausgestattet. Ansonsten gab es nur einen alten Kleiderschrank, in dem sich kein einziges Kleidungsstück befand. Das Badezimmer war klein, und der Medizinschrank war ebenso leer wie der Kühlschrank in der Küche.
Ben Priest war offenbar Minimalist.
Wohnt er überhaupt hier?, fragte sich Pine. Vielleicht hat er das Haus leer geräumt, bevor er in den Westen gegangen ist.
Oder jemand anders hatte es getan.
Melanie Renfro hatte nicht erwähnt, einen Umzugswagen vor dem Haus gesehen zu haben. Außerdem waren ja noch Möbel im Haus, so wenige es auch sein mochten.
Noch einmal ließ Pine suchend den Blick schweifen, über die Fensterbänke, den Kleiderschrank, das Bett.
Dann sah sie unter dem Bett nach.
Der Lichtstrahl ihrer Lampe blieb an irgendetwas hängen.
Pine streckte den Arm aus, zog den Gegenstand zu sich heran.
Ein alter Pappkarton.
Sie hockte sich auf den Boden und untersuchte den Inhalt.
Ein verblichenes Basketballtrikot, ein Pokal. Sie warf einen Blick auf das eingravierte Datum. Die Trophäe war zwanzig Jahre alt und stammte von der Highschool, die Priest besucht hatte. Die Inschrift lautete:
Dem wertvollsten Spieler der Footballmannschaft – Ben Priest.
Darunter lagen Socken mit blauen Streifen am oberen Rand.
Und ein alter Basketball, dem die Luft ausgegangen war.
Warum hat er den Plunder aufbewahrt? Oder hat er vergessen, dass der Karton noch da ist?
Pine setzte sich auf die Bettkante und besah sich die Gegenstände noch einmal.
Trikot, Socken, Pokal, Basketball.
Basketball?
Was hatte Ed Priest gesagt?
Mein Bruder mochte diesen Sport gar nicht. Aber er wusste, dass er ein guter Basketballer war.
Warum bewahrte er den Basketball hier auf? Dem noch dazu die Luft ausgegangen war.
Pine inspizierte den Ball mit der Taschenlampe, Zentimeter für Zentimeter, und tastete ihn anschließend mit den Fingern ab.
Dank ihrer Größe war auch Pine ins Basketballteam ihrer Highschool berufen worden. Sie hatte Tausende solcher Bälle in den Händen gehalten und wusste instinktiv, wie sich die Oberfläche anfühlte, obwohl jeder Ball ein klein wenig anders war.
Dann fand sie es.
Ein haarfeiner Spalt, der sich von der ansonsten glatten Oberflächentextur abhob.
Sie beleuchtete die Stelle mit der Lampe. Es war eine kaum wahrnehmbare Linie entlang eines schwarzen Streifens. Sie hätte den Spalt nicht bemerkt, hätte sie ihn nicht mit dem Finger ertastet. Er war höchstens fünf Zentimeter lang. Als sie mit dem Finger darüberstrich, spürte sie eine winzige Erhebung.
Gehärteter Klebstoff. Das war nicht bei der Herstellung passiert, sondern später.
Pine zog das Schweizer Messer hervor, das sie immer bei sich trug, und setzte es an dem Spalt an. Das Leder öffnete sich augenblicklich unter dem Druck der Klinge, worauf auch die restliche Luft entwich, als sie den Ball öffnete und die zwei Hälften auseinandernahm.
Die aufblasbare Gummiblase war aus dem Ball entfernt worden, was Pine jedoch nur beiläufig registrierte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Speicherstick, der an der Innenseite des Leders klebte. Der Stick war wohlweislich nicht bloß in den Ball geschoben, sondern mit Klebstoff befestigt worden, damit er an Ort und Stelle blieb, falls jemand den Ball aufhob. Somit blieb das Geheimnis gewahrt.
Mit ihrem Messer trennte Pine den Speicherstick vom Leder und steckte ihn ein. Den zerschnittenen Basketball legte sie zurück in den Pappkarton und schob ihn unters Bett.
Als sie aufstand, hörte sie ein Geräusch.
Unten öffnete jemand eine Tür.