57

Pine spähte durch das Tarnnetz hinaus in die Morgendämmerung über dem Canyon. »Die suchen jeden Zentimeter ab. Wahrscheinlich, weil sie den Kontakt zu ihrer Suchmannschaft verloren haben.«

Sie warteten, bis der Helikopter über die Schlucht hinweggeflogen war, die an dieser Stelle mehr als eine halbe Meile breit war.

»Wir müssen hier weg«, entschied Kettler.

Er eilte zu den toten Soldaten und nahm zwei M4-Sturmgewehre und Ersatzmunition an sich. »Behalten Sie den Canyon im Auge, okay?«, wandte er sich an Pine. »Die werden das Gelände hier sicher noch ein-, zweimal überfliegen. Wenn sie dann immer noch nichts finden, werden sie sich ein anderes Gebiet vornehmen.«

»Wissen Sie das aus eigener Erfahrung?«, wollte Pine wissen.

»Die Army hat eine ganz bestimmte Vorgehensweise. Von der weicht sie nicht ab.«

Pine kam seiner Aufforderung nach und ging auf Beobachtungsposten, während Kettler sich wieder zu Roth gesellte.

»Es hat keinen Sinn«, sagte Roth und schüttelte den Kopf. »Wir können unmöglich mit der Bombe im Gepäck nach oben klettern. Dazu ist sie zu schwer. Ich habe es nur mit Ach und Krach geschafft, sie von der einen Höhle in die andere zu tragen, und das im flachen Gelände.«

»Wir können es schaffen, wenn wir uns abwechseln«, widersprach Kettler. »Außerdem haben wir Ihr Tragegestell.«

»Was ist mit Pine? Soll sie uns etwa helfen, die Bombe zu schleppen?«, fragte Roth skeptisch.

»Sie ist wahrscheinlich stärker als wir beide zusammen«, entgegnete Kettler. »Also, packen wir es an.«

Er half Roth, die Bombe in einem Tarnsack zu verstauen. »Ich trage sie als Erster«, sagte er dann. »Zeigen Sie mir, wie man sie am Gestell befestigt.«

Roth half Kettler in die Gurte und wies ihn an, mit dem Rücken zur Bombe in die Hocke zu gehen. Dann befestigte er die Bombe an der Tragevorrichtung. »Das Gewichtsverteilungssystem und die Tragekonstruktion verringern die Last um etwa fünfzig Prozent«, erklärte er. »Damit bleiben für Sie noch dreißig Kilo.«

»Mein Army-Rucksack hatte fünfunddreißig, also dürfte das kein Problem sein.« Die Last auf dem Rücken, richtete Kettler sich auf.

Sie traten in die äußere Kammer hinaus und hielten inne.

»Wie ist die Lage?«, rief Kettler Pine zu, die beim Höhleneingang stand.

»Der Hubschrauber kommt gerade zurück«, meldete sie. »Wir müssen noch abwarten.« Eine halbe Minute lang wurde das Knattern immer lauter, dann entfernte es sich wieder.

»Okay, ich glaube, sie ziehen weiter.«

Kettler erläuterte ihr seinen Plan.

Pine warf einen Blick auf die Uhr. »Das schaffen wir nicht, bevor es richtig hell wird«, meinte sie. »Schon gar nicht mit der verdammten Bombe. Außerdem könnten die ihre Leute oben an den Wegen postiert haben.«

»An den Hauptwegen vielleicht, aber sicher nicht an den Threshold- und Primitive-Trails«, erwiderte Kettler und benutzte die Bezeichnungen, die der Park Service zur Unterscheidung der Wanderwege verwendete.

»Was meinen Sie damit?«, wollte Roth wissen.

Pine beantwortete seine Frage. »Es gibt im Canyon Pfade, die nicht instand gehalten werden und um einiges schwerer begehbar sind.«

»Schwerer als der Trail, auf dem ich mit dem Muli geritten bin?«, fragte Roth.

»Sehr viel schwerer«, sagte Kettler. »Hier in der Nähe gibt es eine Route, die uns sicher zum North Rim führt. Sie ist einigermaßen begehbar, aber eine ziemliche Herausforderung. Fast so schwierig wie der Nankoweap Trail. Da wandert man fast ständig am Abgrund entlang. Ein einziger falscher Schritt, und du stürzt ein paar Hundert Meter tief. Nichts für schwache Nerven.«

»Haben wir denn die nötige Ausrüstung für solche Trails?«, fragte Pine skeptisch.

Kettler hielt seinen Rucksack hoch. »Ich habe Kletterseile und Karabiner dabei. Ich schlage vor, wir seilen uns an.«

Pine wandte sich an Roth. »Ist das okay für Sie?«

»Kein Problem«, versicherte er. »Wie ich Ihnen bereits sagte, war ich schon oft hier im Canyon.«

»Mag ja sein«, meinte Kettler. »Aber nicht auf einer Route, wie wir sie vor uns haben. Es bleibt uns aber keine Wahl.«

Nachdem sie sich angeseilt hatten, marschierten sie in der beginnenden Dämmerung ostwärts zum Trail und nahmen den Aufstieg in Angriff. Roth ging in der Seilmitte; Kettler, der den Weg kannte, ging voran, und Pine bildete den Schluss.

»Kommen Sie mit dem Gewicht klar, Sam?«, fragte Pine von hinten.

»Kein Problem«, gab Kettler zurück.

»Wir wechseln uns trotzdem alle zwei Stunden ab.«

Sie folgten dem Lauf des Colorado bis zur Einmündung eines Baches, der aus einem der vielen Seitentäler hervorströmte. Nach kurzer Suche fand Kettler den mit Drähten gesicherten Steinhaufen, der den Anfang des steilen Trails markierte, den sie nehmen wollten.

Sie hatten erst ein kurzes Stück zurückgelegt, als sie an einen besonders schwierigen Abschnitt gelangten. Pine sah, dass Roth auf dem steilen Gelände große Mühe hatte, das Tempo zu halten. Sie kletterte etwas schneller und schloss zu ihm auf.

»Okay, die Stelle ist ein bisschen haarig, also gehen wir besser auf Nummer sicher.«

Sie rief Kettler zurück – der eilte sofort zu ihnen. Wenngleich Roth protestierte, halfen sie ihm beim weiteren Aufstieg durch das felsige Gelände, das stellenweise jäh zum Colorado hin abfiel. Kurz vor Schluss, an der schwierigsten Stelle, fasste Pine ihn am Gürtel und zog ihn die letzten Meter auf ein kleines Felsplateau, wo Roth durchnässt und schwer atmend liegen blieb.

»Danke«, keuchte er. »Ich fürchte, ich habe meine Kletterkünste und meine Kondition überschätzt. Ich bin nun mal keine zwanzig mehr. Wenn ich ehrlich sein soll, schon die Gewaltmärsche mit Ben Priest haben mich geschafft.«

»Sie halten sich sehr gut, Mr. Roth«, munterte Pine ihn auf. »Keine Sorge, wir bringen Sie heil hier raus.«

Eine halbe Stunde später setzten sie den Aufstieg fort, nachdem sie gerastet und einen Bissen zu sich genommen hatten. Pine übernahm nun das Tragegestell mit der Bombe. Der unmarkierte Weg durch den Fels wurde immer schwieriger und war streckenweise kaum noch zu erkennen. Pine sah Roths sorgenvolles Gesicht, als das Gelände steiler und tückischer wurde. Nachdem sie einen besonders kniffligen Abschnitt bewältigt hatten, klopfte Pine ihm anerkennend auf die Schulter. »Sie schlagen sich wacker, Mr. Roth.«

»Sagen Sie David, okay? In unserer Situation sollten wir die Förmlichkeiten außen vor lassen.«

»Ich bin Atlee, und er heißt Sam.«

Roth brachte ein mattes Lächeln zustande, ohne dass die Besorgnis aus seinen Augen wich.

Sie kamen trotz allem gut voran. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Roth nach einer Weile beunruhigt.

»Der Wasserfall«, erklärte Kettler. »Von dem Fluss dort oben, der in den Colorado mündet. Sie müssen aufpassen, es wird ein bisschen rutschig hier oben.«

Sie durchquerten ein breites Tal. Danach hatten sie einige scharfe Kehren zu bewältigen.

»Sam«, rief Pine ihm zu, »ich glaube, wir müssen wieder mal rasten.«

Kettler drehte sich zu Roth um, der schon ziemlich wacklig auf den Beinen war. »Alles klar.«

Sie schlugen ein Lager auf, so gut es zwischen den Felsen möglich war. Die Bombe legten sie am Berghang ab, möglichst weit vom Abgrund entfernt.

Nachdem sie etwas getrunken hatten, legte Roth sich auf den dünnen Schlafsack, den Kettler ihm gegeben hatte, und schlief fast augenblicklich ein. Sie befanden sich nun auf der Nordwestseite des Canyons, wo es etwas später hell wurde als an der Ostseite.

Pine und Kettler saßen an einen Felsblock gelehnt, die Sturmgewehre in den Händen.

»Glauben Sie, Roth schafft es?«, fragte Kettler.

»Ich weiß es nicht. Er ist wahrscheinlich fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als wir und solche Strapazen nicht gewohnt. Außerdem ist er schon mehrere Tage hier im Canyon. Sie wissen ja selbst, wie einem das zusetzen kann. Immerhin hat er die Bombe von einer Höhle in die andere getragen. Das heißt, er muss ziemlich fit sein.«

»Stimmt.«

»Möchten Sie ein bisschen schlafen?«, bot Pine ihm an. »Ich passe so lange auf.«

Kettler schüttelte den Kopf. »Schon okay.«

Sie schwiegen eine Zeit lang.

»Liegt es wirklich an uns, einen Krieg zu verhindern?«, fragte Kettler schließlich in die Stille hinein.

»Hat ganz den Anschein.«

Kettler lächelte. »So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, als ich zum Park Service ging.«

»Tja, bei mir gehört es zum Job, die Welt zu retten«, sagte Pine.

Kettler lachte auf und wandte sich ihr zu. »Ich bin froh, dass Sie da sind, Atlee. Wenn ich mit Roth allein wäre, würde ich vielleicht ausflippen.«

»Nein, Sie würden alles genauso machen wie jetzt. Sie würden tun, was nötig ist, um das Ding zu Ende zu bringen.« Sie hielt einen Moment inne. »Aber wenn Sie nicht da wären, würde ich wahrscheinlich ausflippen.«

Kettler blickte zu den Felswänden auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, an denen Morgennebel vorüberzogen. »Haben Sie gewusst, dass es im Grand Canyon fünf Vegetationszonen gibt? Genauso viele wie von Mexiko bis Kanada.«

»Sie wissen alles über den Canyon, stimmt’s?«

Er schüttelte den Kopf. »Niemand weiß alles über den Canyon. Aber wenn ich irgendwo bin, möchte ich möglichst viel über den Ort wissen.«

»Was meinen Sie?«, fragte Pine. »Können wir nachher noch ein Stück weiter, bevor es zu heiß wird?«

»Ich glaube nicht. Auf dieser Route haben wir kaum Schatten. Und wie es aussieht, dürfte es heute sehr heiß werden. Sie und ich, wir kämen damit klar, aber Roth wahrscheinlich nicht, denn weiter oben gibt es keinen Schutz vor der Sonne. Außerdem wird es nachher wieder ziemlich steil, mit ein paar engen Spitzkehren. Das schafft Roth nur, wenn er ausgeruht ist.«

»Wenn der Helikopter zurückkäme, hätten wir nicht die geringste Deckung.«

»Also gehen wir am Abend weiter? Mit Roth im Schlepptau können wir es in sechs oder sieben Stunden bis zum Canyonrand schaffen.«

Sie schauten eine Weile in die Dunkelheit.

»Es ist fast so wie an dem Abend, als wir in meinem Jeep saßen«, meinte Kettler.

»Nur diesmal leider ohne Bier.«

Kettler griff in seinen Rucksack und zog eine Dose hervor.

»Ich glaub’s nicht«, sagte Pine staunend.

Er zog die Lasche ab und reichte ihr die Bierdose.

Pine nahm einen großen Schluck »Hmm, schön kalt. Wie haben Sie das gemacht?«

»Ich habe meinen Rucksack in der Ranger-Station immer gepackt und griffbereit, falls ich an einem freien Tag eine Wanderung machen möchte. Ein Bier in einer Kühlmanschette ist immer eingepackt. Der einzige Luxus, den ich mir gönne. Damals im Irak haben wir uns auch immer auf den Abend gefreut, wenn es Bier gab …« Er stockte, und sein Lächeln erlosch. »Das war aber auch so ziemlich der einzige Grund zur Freude.«

»Kann ich mir vorstellen.« Pine nahm einen kräftigen Schluck und gab ihm die Dose zurück. »O Mann, und jetzt eine Zigarette.«

Kettler nickte, nahm ebenfalls einen Schluck und betrachtete die Dose lange und nachdenklich.

Pine musterte ihn. »Woran denken Sie?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ach, verdammt, warum soll ich es Ihnen nicht erzählen.« Er reichte ihr das Bier zurück. »Ich habe mal eine Infanteriepatrouille in ein Dorf geführt, sechzig Meilen vor Falludscha. Ein Junge, zehn oder elf, kam aus einem Haus … eher eine Lehmhütte. Wir gaben dem Jungen Süßigkeiten, und unser Dolmetscher fragte ihn, ob sich Al-Qaida-Leute in der Gegend aufhielten. Er sagte, er wisse nichts davon. In diesem Moment kam eine alte Frau aus dem Haus. Die Großmutter des Jungen. Sie nahm den Jungen an der Hand und schrie uns an, wir sollen verschwinden. Ein paar junge Burschen tauchten auf, also zogen wir weiter. Ich ging am Schluss unserer Gruppe und habe nach hinten gesichert.«

Er stockte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Pine war sicher, dass es nicht an der Hitze lag. Sie gab ihm die Bierdose zurück. »Hier, trinken Sie noch mal.«

Er nickte und nahm einen Schluck, ehe er fortfuhr. »Als ich mich umdrehte, hatte der Kleine eine AK-47 in den Händen. Ich glaube, die alte Frau hatte das Gewehr unter ihrem Gewand versteckt gehalten. Und sie selbst hielt plötzlich eine Granate in der Hand.« Wieder hielt er inne, einen ungläubigen Ausdruck im Gesicht. »Das verdammte Gewehr war größer als der Junge. Aber er konnte damit umgehen, das sah ich sofort.« Er leckte sich über die Lippen. »Meine Leute … Sie hatten das alles gar nicht bemerkt und zogen einfach weiter. Ich war ganz auf mich allein gestellt.«

Pine konnte sich denken, worauf die Geschichte hinauslief, und legte ihm die Hand auf den Arm. Sie spürte sein Zittern.

»Ich schaute den Jungen an, dann die alte Frau. Noch nie hatte ich so viel …« Wieder verstummte er, leckte sich über die Lippen und schluckte. »Noch nie in meinem Leben habe ich einen solchen Hass gesehen. Sie haben mich nicht gekannt und trotzdem bis aufs Blut gehasst.«

»Die beiden haben nicht Sie gehasst, Sam, sondern das, wofür Sie in ihren Augen standen.«

»Ich hab dem Jungen ins Bein geschossen. Ich wollte ihn nicht töten, wollte nur verhindern, dass er mich und meine Leute abknallt. Aber die Kugel wurde offenbar vom Knochen abgelenkt und hat die Oberschenkelarterie zerfetzt. Das Blut … es spritzte wie eine Fontäne. Er hatte keine Chance. Er lag im Dreck und …«

Pine drückte seinen Arm. »Sie müssen nicht weitererzählen.«

Kettler schüttelte den Kopf, entschlossen, auch den Rest seiner Geschichte loszuwerden. »Die alte Frau schaute auf ihn runter, und dann fing sie an zu schreien. Ich hatte noch nie solche Schreie gehört. Und plötzlich starrt sie mich an, und die Tränen strömen ihr nur so übers Gesicht. Ich sah, dass sie den Stift ziehen und die Granate werfen wollte, und da …« Wieder stockte er. »Da habe ich auf ihren Kopf gezielt und abgedrückt.« Er hielt inne, schaute Pine an. »Nicht, weil ich Angst um mein Leben gehabt hätte. Soll ich Ihnen sagen, was der wirkliche Grund war?«

Pine schwieg, was er als Ja auffasste.

Kettler fuhr fort: »Da war plötzlich der Gedanke … nein, die Gewissheit, dass die Frau nicht mehr leben wollte. Und da habe ich abgedrückt. Es war verrückt, aber in diesem Moment … Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Was hätten Sie an meiner Stelle getan, Atlee?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Pine. »Sie sind unverschuldet in diese Situation geraten und haben so gehandelt, wie man es Ihnen in der Ausbildung beigebracht hat. Sie wollten Ihre Leute beschützen. Das kann Ihnen niemand zum Vorwurf machen.«

»Ja, eine tolle Art, seine Kameraden zu beschützen, indem man Kinder und Frauen umbringt«, sagte Kettler voller Bitterkeit. »Für so was bin ich nicht zur Army gegangen, Atlee, ganz bestimmt nicht. Es ist mehr als zehn Jahre her, aber ich habe immer noch Albträume. Im Traum drücke ich immer wieder ab, immer wieder und wieder … und dann liegen der Junge und die Frau in ihrem Blut.«

»Ihnen blieb nichts anderes übrig. Es war eine aussichtslose Situation.«

Kettler schaute sie an. »An dem Abend, als ich mit dem Bier zu Ihnen gekommen bin …« Er stockte.

»Ja?«

»Da hatte ich vorher auch wieder diesen Albtraum. Ich bin schweißgebadet aufgewacht. Aber diesmal habe ich mir gesagt, steh das nicht wieder alleine durch. Ruf sie an, einfach nur, um sie zu sehen, es wird dir sicher helfen.« Er lächelte. »Und es hat geholfen.«

»Das freut mich sehr, Sam.«

Eine Minute lang saßen sie schweigend da. Es war still bis auf das Säuseln des Windes und das Rauschen des Colorado River tief unter ihnen.

»Hier, schauen Sie mal.« Pine zog ihre Jacke aus und zeigte ihm die Tätowierungen auf dem Arm.

»Mercy«, las Kettler. »Was hat das zu bedeuten?«

»Mercy war meine Zwillingsschwester.«

»War? Was ist passiert?«

»Eines Nachts kam jemand in unser Zimmer und nahm sie mit. Wir waren gerade mal sechs Jahre alt. Ich habe nie erfahren, was mit Mercy geschehen ist.«

»Gott, Atlee. Das tut mir so leid.«

»Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich zum FBI gegangen bin.« Sie schaute zu ihm hoch. »Um zu tun, was ich kann, damit anderen zumindest ein wenig Gerechtigkeit zuteilwird. Das ist mehr, als Mercy vergönnt war.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich glaube, man kann nichts Besseres aus seinem Leben machen.«

»Ich spreche eigentlich nie über diese Sache. Genau wie Sie.« Sie schaute sich um. »Aber jetzt habe ich mir gedacht … okay, was soll’s. Wer weiß, was morgen ist.«

Kettler nickte nachdenklich. »Ich dachte auch immer, ich werde allein damit fertig.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich mache eine Therapie. Das Veteranenministerium hat eine Einrichtung nicht weit von hier. Ich muss dieses Trauma irgendwie in den Griff kriegen, sonst macht es mich fertig. Als ich hierherkam, dachte ich, der Job würde mir helfen, das alles zu vergessen, aber es klappt nicht.«

»Das mit der Therapie ist eine gute Idee, Sam.«

»Wird sich zeigen.« Er seufzte und blickte zur Seite. »Haben Sie auch mal an eine Therapie gedacht? Ich meine, wegen Ihrer Schwester?«

Pine gab keine Antwort.