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Auf der Heimfahrt kam Pine an der Stelle vorbei, der Shattered Rock seinen Namen verdankte.

Sie lag nur eine Meile außerhalb des Städtchens und war der einzige Grund, dass hier eine Siedlung gegründet worden war.

Man erzählte sich, dass an dieser Stelle vor zigtausend Jahren ein Meteorit von der Größe eines VW-Käfers eingeschlagen sei. Dass die Legende nicht ganz aus der Luft gegriffen war, wurde später durch Fakten vonseiten der NASA und verschiedener Wissenschaftler bestätigt. Demnach habe es hier einen Felsen gegeben, der von dem Meteoriten pulverisiert worden sei. Zurück blieben ein Krater und große Felsbrocken, die überall in der flachen Landschaft verstreut lagen.

So war der Name Shattered Rock geprägt worden. Die Siedlung war erst vor etwa hundert Jahren entstanden, nachdem ein unternehmungslustiger junger Mann namens Elmer Lancaster seine kleine Stadt in Pennsylvania verlassen hatte, um im Westen sein Glück zu machen. Irgendwann war er über die verstreuten Felsbrocken gestolpert, hatte lokale Legenden aufgegriffen und ausgeschmückt und beschlossen, sich hier niederzulassen. Er verkaufte Meteoritentrümmer an einem Stand an der einzigen Straße, die durch diese Gegend führte, und heuerte sogar indianische Ureinwohner für seine Zwecke an. In ihrer Stammestracht tanzten sie an der Straße auf und ab und präsentierten die »Steine vom Himmel«, die für die stolze Summe von fünf Dollar das Stück erworben werden konnten.

Das Geschäft lief gut, zumal Millionen Felsbrocken in der Landschaft herumlagen. Und selbst wenn sie eines Tages zur Neige gingen, würde es kein Problem sein, für Nachschub zu sorgen. Lancaster investierte einen Teil des Geldes in den Bau von Straßen und Häusern. Er ließ überall verbreiten, dass Shattered Rock der geologisch interessanteste Ort auf dem Planeten und offen für die Ansiedlung von Familien und Firmen sei. Tatsächlich ließen sich Interessierte und Leichtgläubige anlocken, und Shattered Rock nahm Gestalt an.

Doch die kleine Stadt war in den folgenden hundert Jahren kaum gewachsen. Die etwa tausend Einwohner verdienten ihren Lebensunterhalt heute mit unterschiedlichen Tätigkeiten, wie in jeder anderen Kleinstadt. Eine Bewohnerin beispielsweise verdiente ihr Geld, indem sie eine Waffe und eine FBI-Dienstmarke trug.

Auch heute noch wurden in einem großen Holzhaus Meteoriten an Touristen verkauft. Aufgrund der Inflation kosteten sie inzwischen allerdings nicht mehr fünf, sondern fünfzig Dollar das Stück. Außerdem lag der Meteoritenhandel nun in den Händen der indianischen Ureinwohner. Ein unternehmungslustiger Hopi und sein Navajo-Partner hatten das Geschäft übernommen und betrieben es mit ziemlichem Erfolg. Sie verkauften außerdem Kaffee, kühles Bier und köstliche Scones. Auch Pine hatte einen Felsbrocken erworben, wenn auch nur, um die heimische Wirtschaft zu unterstützen.

Nun bog sie in den Parkplatz ihrer Wohnanlage ein. Mit seiner Stuckfassade und dem roten Ziegeldach war das Haus ganz im Stil des Südwestens gehalten. Es war von einheimischen Bäumen und Sträuchern umgeben, die mit wenig Wasser auskamen. Der Südwesten hatte viele Vorzüge. Regelmäßiger Regen gehörte nicht dazu.

Als Pine aus dem Wagen stieg, konnte sie die Hitze des Asphalts durch die Schuhsohlen spüren. Die Sonne brannte gnadenlos in dieser Höhenlage, die in etwa der von Denver entsprach.

Pine war unterwegs in einen unfallbedingten Stau geraten, sodass es nun zu spät war, noch im Büro vorbeizuschauen. Doch Blum hatte ihr weitere Informationen zugesandt, die Pine nun in ihrer Wohnung bei einem kühlen Bier durchgehen wollte. Es war fast wie ein gemütlicher Kneipenbesuch, nur dass sie die eigenen vier Wände nicht verlassen musste.

Auf dem Weg zur Treppe vor dem Haus kam Pine an zwei Männern Anfang zwanzig vorbei. Sie standen an einen kirschroten, hochgebockten Ford F150 gelehnt, der mit extrabreiten Hinterreifen versehen war. Der Wagen schien für einen Monster-Truck-Wettbewerb aufgerüstet zu sein. Die jungen Männer rauchten Gras und tranken Bier. Einer war indianischer Herkunft, mit langen schwarzen Haaren, die im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden waren. Er trug schmutzige Jeans, ein buntes, kurzärmeliges T-Shirt und einen staubigen Hut. Am Gürtel steckte ein Messer in einer Scheide.

Der andere war ein junger Weißer; seine sonnenverbrannte Haut schälte sich an den Armen, die aus seinem Tanktop ragten. Er trug eine SIG Sauer in einem Hüftholster.

In Arizona durfte jeder eine Waffe tragen – offen oder verdeckt, ohne dass eine Genehmigung, ein entsprechendes Training oder auch nur ein Mindestmaß an Verstand erforderlich war.

Im Fahrerhaus des Pick-ups sah Pine einen Gewehrständer mit einer doppelläufigen Schrotflinte und einem AR-15-Sturmgewehr, mit dem man in kürzester Zeit eine Menge Leute umbringen konnte.

Pine kannte einen der beiden, den anderen hatte sie noch nie gesehen. Sie nickte ihnen im Vorbeigehen zu.

»Sie sind bei den Feds, oder?«

Es war der mit dem Sonnenbrand, der sie ansprach.

»Wer will das wissen?«

Der junge Kerl warf die leere Bierdose auf die Ladefläche des Pick-ups. »Ich war auch mal bei den Feds. Bei der Army. Die haben mich beschissen«, fügte er leise hinzu und fixierte sie drohend.

Pine hätte nicht sagen können, ob er bekifft war oder immer diesen leicht irren Blick hatte. Vielleicht traf beides zu.

»Tut mir leid für Sie.«

»Was ist nun? Sind Sie bei den Feds oder nicht?« Er rückte einen Schritt näher an Pine heran.

»Ja, ich bin Federal Agent.«

»Die werden Sie genauso bescheißen.«

»Kann ich bis jetzt nicht behaupten.«

Er nahm einen Zug von seinem Joint.

Pine musterte ihn einen Moment lang. »Vielleicht sollten Sie das Zeug weglassen, damit Sie einen klaren Kopf kriegen. Vor allem, wenn Sie Auto fahren. Sie wollen doch keinen Ärger mit den Behörden, oder?«

»Das ist immer noch ein freies Land. Dafür hab ich gekämpft

»Dann nehme ich an, dass Sie Marihuana medizinisch anwenden dürfen. Haben Sie Ihre Karte dabei? Sonst ist es in Arizona nämlich illegal, das Zeug auch nur bei sich zu haben. Außerdem dürften Sie nach dem Bundesgesetz keine Waffe tragen, wenn Sie Marihuana konsumieren, auch wenn der Staat Arizona das vielleicht ein bisschen anders sieht.«

»Ich hab eine posttraumatische Belastungsstörung. Meine Karte hab ich zu Hause. Sie können mich ja festnehmen, wenn Sie wollen.«

»Wenn Sie keine Karte dabeihaben, kann ich Sie wirklich festnehmen.«

»Aber ich hab eine Karte! Hab sie bloß vergessen. Ich war im Irak, Lady. Wenn Sie im Irak gewesen wären, würden Sie jetzt auch Gras rauchen.«

Pine warf einen Blick auf den anderen Typen, den der Wortwechsel nicht sonderlich zu interessieren schien.

»Und was ist mit Ihnen?«

»Ich hab meine Karte auch zu Hause vergessen.«

Pine schüttelte den Kopf. Sie würde die Burschen deswegen nicht festnehmen, obwohl ihnen ein Denkzettel wahrscheinlich nicht geschadet hätte.

Sie warf einen Blick auf die AR-15 im Innern des Pick-ups und sagte zu dem jungen Kriegsveteranen: »Ich nehme an, Sie haben einen Eignungstest gemacht. Sonst dürfen Sie diese Waffe nicht anrühren, das wissen Sie hoffentlich?«

»Die Kanone gehört nicht mir«, behauptete er.

Pine hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, behielt sie aber für sich. Sie hatte genug von den beiden. »Wenn Sie keinen Ärger wollen«, sagte sie, »setzen Sie sich nicht unter Drogen- oder Alkoholeinfluss ans Steuer, okay? Und Vorsicht mit den Waffen.«

Sie setzte sich in Bewegung, wollte an den beiden vorbei, doch der sonnenverbrannte Irak-Heimkehrer trat ihr in den Weg.

»Ich hab Ihnen noch ein paar Dinge zu verklickern, Lady.«

»Mag sein, aber ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

Als sie weiterging, hielt der Mann sie grob am Arm zurück.

Pine packte sein Handgelenk, riss seinen Arm hinter dem Rücken hoch und rammte ihn mit dem Kopf voran gegen seinen Wagen. Benommen sank er zu Boden.

Mit ihrer freien Hand zog sie die Glock und richtete sie auf den anderen Burschen, dessen Hand zu seinem Messer gehuscht war.

»Lassen Sie das, wenn Sie nicht sterben wollen«, fuhr Pine ihn an. »Legen Sie das Messer auf den Boden, schön langsam, und kicken Sie es weg. Na los!«

Der Mann befolgte eilig ihre Anweisung, ließ die Waffe in den Staub fallen und beförderte sie mit seinem Stiefel einen Meter zur Seite.

Sein Kumpan stöhnte auf, drehte sich auf den Rücken.

Pine trat zu ihm, beugte sich herab und zog ihm die SIG Sauer aus dem Holster.

»He, Sie können mir nicht meine Waffe wegnehmen!«, protestierte er.

Pine richtete ihre Pistole auf den Kopf des Mannes. »Wenn Sie mich noch einmal anrühren, wachen Sie nie wieder auf. Haben Sie das kapiert?«

Der Mann starrte sie nur an.

Pine stieß ihn mit der Stiefelspitze an. »Ob Sie das kapiert haben, will ich wissen!«

»Ja, ja, alles klar! Scheiße!«

»Ihr könnt froh sein, dass ich meine Zeit nicht länger mit euch Idioten verschwenden will. Und jetzt seht zu, dass ihr Land gewinnt.«

Der Army-Veteran rappelte sich auf und setzte sich, von seinem Kumpel gestützt, auf den Beifahrersitz des Pick-ups.

Als der andere sich nach seinem Messer bückte, stellte Pine einen Fuß auf die Klinge.

»Keine gute Idee.« Sie musterte ihn einen Moment lang. »Ich kenne Sie. Ihr alter Herr ist Joe Yazzie, stimmt’s? Sie sind sein ältester Sohn, Joe junior. Weiß er, dass Sie mit solchen Idioten abhängen?«

»Ich bin vierundzwanzig. Ich kann abhängen, mit wem ich will«, konterte Yazzie.

Aus dem Augenwinkel behielt Pine seinen Kumpan im Visier, für den Fall, dass der auf die Idee kam, nach der Schrotflinte oder dem Sturmgewehr zu greifen.

Zu Yazzie gewandt sagte sie: »Dann sollten Sie sich Ihre Freunde ein bisschen besser aussuchen. Was wollen Sie überhaupt hier?«

»Ein Kumpel von uns wohnt hier. Kyle Chavez.«

Pine nickte. Sie kannte die Familie Chavez. Die Eltern waren illegal eingewandert, arbeiteten aber fleißig und hatten sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Jeden Sonntag gingen sie in die katholische Kirche hier in Shattered Rock. Ihr Sohn Kyle jedoch war ein schwieriger Fall; der Junge machte immer wieder Ärger. Ein paarmal hätte nicht viel gefehlt, und Pine hätte ihn festnehmen müssen.

»Okay, aber machen Sie keine Dummheiten.«

»Sie halten sich wohl für ’ne verdammte harte Nummer, was?«, rief der junge Hitzkopf aus dem Pick-up.

»Schaffen Sie den Blödmann weg, bevor ich es mir anders überlege und euch beide aufs Revier bringe«, drohte Pine.

Yazzie stieg in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr los.

Pine sah ihnen nach, bis der Pick-up in der Ferne verschwand. Dann hob sie das Messer auf, steckte die SIG Sauer des Army-Veteranen ein und stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hoch.

Jetzt konnte sie wirklich ein kühles Bier vertragen.