54
Zum ersten Mal nahm Pines Nachtoptik etwas Interessantes ins Visier.
Es war noch hell gewesen, als sie aufgewacht war. Dennoch hatte sie beschlossen, sich ein Stück in die Schlucht vorzuwagen. Noch immer stand die Sonne am Himmel, erhellte die dunklen Tiefen des Canyons und warf lange Schatten auf den Fels.
Plötzlich fiel das Sonnenlicht auf irgendetwas Glänzendes, Metallisches, das sich weiter vorn in der Seitenschlucht befand. Pine stand auf einem Felsplateau, das ihr einen weiten Blick in die Runde bot. Anhand der umgebenden Felsformationen prägte sie sich die Stelle ein, um sie später in der Dämmerung wiederfinden zu können. Am liebsten hätte sie sich sofort auf den Weg gemacht, doch die Hitze war brutal, es wehte kaum ein Lüftchen, und es sah nach einem anstrengenden Marsch bis zu der Stelle aus, an der sie das Funkeln sah.
Noch einmal spähte Pine in die enge Schlucht und merkte sich jedes Detail der Route, die sie später einschlagen musste. Dann kehrte sie zu ihrem Lager zurück, aß und trank und ruhte ein paar Stunden.
Sie wusste, es war ihre vermutlich letzte Chance, Roth zu finden.
Und die Bombe, falls es sie gab.
Vielleicht ist das alles Lüge oder ein riesiger Irrtum, und ich finde gar nichts. Ich sollte lieber darüber nachdenken, was ich tue, wenn das FBI mich auf die Straße setzt.
Tatsache war, dass Pine für eine Sache von solcher Tragweite nicht qualifiziert war. Als FBI-Agentin wusste sie, was sie zu tun hatte, wenn es galt, einen Bankraub, eine Entführung oder einen Mord aufzuklären. Aber das hier war etwas völlig anderes.
Gut ausgeruht machte sie sich auf den Weg, kletterte über mehrere große Felsen hinweg und erreichte schließlich das Felsplateau, von dem aus sie den glänzenden Gegenstand entdeckt hatte. Sie schätzte, dass sie bis zu dieser Stelle an die einhundert Höhenmeter bewältigt hatte. Durch ihr Nachtsichtgerät erspähte sie die auffällige Felsformation, die ihr zuvor bei Tageslicht aufgefallen war.
Gehen wir’s an.
Es war eine mühselige Kletterei, aber Pine hielt unbeirrt auf die Stelle zu.
Sie hatte sich nicht geirrt. Das Sonnenlicht war tatsächlich von etwas Metallischem reflektiert worden – einer ausziehbaren Stange, die an einem mannshohen, etwa drei Meter breiten Felsblock lehnte.
Wie kommt das hierher?
Als sie sich der Stange näherte, bemerkte sie etwas Eigenartiges. Über den Felsen war ein Tarnnetz gebreitet, das erst aus der Nähe zu erkennen war, denn es fügte sich perfekt in die Umgebung ein. Offenbar diente die Stange dazu, das Tarnnetz über den Fels zu spannen.
Pine trat langsam näher, streckte den Arm aus und hob die Tarnabdeckung an.
Neugierig warf sie einen Blick darunter.
Ihr stockte der Atem.
Vor ihr, im Dämmerlicht, gähnte der Eingang einer Höhle.
Sie warf einen Blick auf ihren Kompass und stellte fest, dass sie sich innerhalb jenes Gebiets befand, dessen Koordinaten sie auf Priests USB-Stick entdeckt hatte.
Hatte Roth die Bombe gefunden? Gab es sie tatsächlich?
Sie ließ die Abdeckung los, tat einen Schritt zurück und schaute sich um. Nichts deutete darauf hin, dass jemand hier war. Doch irgendjemand musste das Tarnnetz angebracht haben.
Aufmerksam ließ Pine den Blick in die Runde schweifen. Nichts. Sie lauschte, doch bis auf die fernen Geräusche unten im Canyon war es vollkommen still. Keine Schritte auf dem Fels, kein Rauschen eines Funkgeräts, keine Stimmen, kein …
Pine schloss geblendet die Augen, als das grelle Licht aufflammte. Dann sagte eine Männerstimme: »Umdrehen. Schön langsam. Und lassen Sie die Hände von der Waffe.«
Pine, vor Schreck wie benommen, zögerte.
»Umdrehen!«, peitschte die Stimme.
Sie gehorchte und schlug die Augen auf.
Vor ihr standen dieselben drei Männer, die sie letzte Nacht gesehen hatte.
Der Sprecher, ein narbengesichtiger Söldnertyp, trat einen Schritt näher. »Was machen Sie hier?«
»Ich …«, krächzte Pine und räusperte sich die Kehle frei. »Das Gleiche wie Sie, nehme ich an. Ich suche jemanden.«
»Und wer soll das sein?«
»Haben wir diese dummen Spielchen wirklich nötig?«
»Ich will wissen, wen Sie suchen«, beharrte der Mann.
»Verraten Sie mir zuerst, wie Sie mich gefunden haben.«
»Wir wissen, wie man Leute beschattet, mehr braucht es dazu nicht.«
»Warum sind Sie mir gefolgt?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Sie sollten uns zu Roth führen. Wir hatten Anweisung, Ihnen unbemerkt zu folgen und dann einzugreifen. Tja, da wären wir.«
»Und wie lauten jetzt Ihre weiteren Anweisungen?«
Der Narbengesichtige zuckte mit den Schultern und verzog den Mund zu einem harten Lächeln, das sofort wieder erlosch.
Pine warf einen Blick auf die beiden anderen Männer. Sie schienen Ende zwanzig, Anfang dreißig zu sein. Alt genug, um in Kriegen gekämpft und feindliche Soldaten getötet zu haben. Harte, kampferprobte Männer, die man in einem Gefecht gern auf seiner Seite hatte.
Nur sind sie nicht auf meiner Seite.
»Hat man Ihnen gesagt, was hier vor sich geht?«, fragte Pine den Wortführer. »Ich meine, was wirklich vor sich geht? Um was sich dieser ganze Blödsinn dreht?«
»Wir wissen genug, um unseren Job zu erledigen. Mehr brauchen wir nicht.«
»Mit anderen Worten, Sie stecken den Kopf in den Sand.«
Pine schaute bewusst nicht zu dem Tarnnetz, in der schwachen Hoffnung, dass die Männer die Abdeckung noch nicht bemerkt hatten.
»Sie kommen mit uns«, sagte Narbengesicht. »Also, gehen wir.«
»Haben Sie keinen Hubschrauber? Kommen Sie nicht auf diese Weise hier rein und raus? So geht es doch bedeutend schneller und ist nicht so schweißtreibend wie ein Fußmarsch.«
»Halten Sie den Mund, und kommen Sie mit.«
»Ich gehe nirgendwohin. Nicht mit Ihnen. Ich bin FBI-Agentin. Sie können mir keine Befehle erteilen. Also bleiben Sie mir vom Leib, sonst rufe ich Verstärkung.«
Der Mann schaute sich um und schüttelte den Kopf, ein belustigtes Funkeln in den Augen. »Welche Verstärkung? Ich sehe hier niemanden. Und Ihr Handy funktioniert hier unten auch nicht. Also los, gehen wir.«
Pine rührte sich nicht.
»Wir haben Anweisungen für den Fall, dass Sie sich weigern, mit uns zu kommen.«
»Und welche? Mich zu erschießen? Eine FBI-Agentin?«
»Agentin? Im Moment sind Sie eine Feindin der Vereinigten Staaten.«
Pine glaubte sich verhört zu haben. »Wie bitte? Wie kommen Sie darauf? Wir dienen demselben Land.«
»Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, mit uns zu kommen.«
Der Narbengesichtige gab seinen Begleitern ein Zeichen. Die beiden Männer hoben ihre Sturmgewehre. Einer zielte auf Pines Kopf, der andere auf ihren Oberkörper.
»Das ist doch Wahnsinn!«, rief Pine. »Ich bin Agentin einer Bundesbehörde. Nehmen Sie die Waffen weg!«
»Das werden wir nicht tun, Ma’am. Letzte Aufforderung. Drei Sekunden … zwei …«
Pine stand da wie erstarrt.
Die knallen mich tatsächlich ab, schoss es ihr durch den Kopf. Hier, am Arsch der Welt.
Sie spannte jeden Muskel an und machte sich bereit, ihre Pistole zu ziehen. Einen Schuss konnte sie vielleicht noch abgeben, bevor die Kerle sie erwischten.
Ach, zum Teufel damit. Ich komme, Mercy.
In der Sekunde, als Pine ihre Glock aus dem Holster riss, wetterte eine Schussdetonation durch das Felslabyrinth. Dann noch eine.
Es ging so schnell, dass Pine einen Moment lang glaubte, sie selbst wäre getroffen.
Der Narbengesichtige fuhr herum. Die beiden Männer hinter ihm zuckten getroffen zusammen und sackten zu Boden.
Der Anführer richtete die M4 auf den Angreifer.
»Nein!«, schrie Pine. »Die Waffe runter!«
Der Narbengesichtige drückte ab. Seine M4 krachte im selben Moment, als Pine den Abzug der Glock drückte, das Laservisier auf den Nacken des Mannes gerichtet.
Die Kugel riss ihn von den Beinen.
Mit zitternden Händen ließ Pine die Waffe sinken.
Zwanzig Meter entfernt stand Sam Kettler auf einem Felsvorsprung, eine rauchende Pistole in der Hand, und starrte sie an, die Augen weit aufgerissen.
Wie benommen schaute Pine auf die drei toten Männer. Zwei hatte Kettler erschossen; den dritten, den Anführer, hatte sie selbst außer Gefecht gesetzt.
»Mein Gott«, sagte sie leise. »Das waren unsere Jungs. Glaube ich wenigstens.«
Kettler trat zögernd zu ihr. »Davon habe ich aber nichts bemerkt. Die wollten Sie umbringen.«
Pine schaute zu ihm hoch. »Warum sind Sie hier?«
Er deutete auf die toten Männer. »Ich habe in den letzten drei Nächten immer wieder einen Helikopter in den Canyon fliegen sehen. Irgendwann dachte ich mir, ich muss etwas unternehmen. Ich bin der Spur dieser Männer bis hierher gefolgt. Dann habe ich gesehen, was die mit Ihnen machen wollten.« Er schaute auf seine Pistole und schüttelte den Kopf. »Was haben amerikanische Soldaten hier unten zu suchen?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Pine legte die Hand auf seinen Arm. »Sie haben mir das Leben gerettet, Sam.«
»Und Sie mir meins. Der Kerl hätte mich garantiert nicht verfehlt, wenn Sie nicht geschossen hätten.«
Pine nahm die Hand von seinem Arm und stützte sich an einem Felsen ab, als ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde.
»Was ist?«, fragte Kettler.
»Es geht schon wieder.« Sie atmete ein paarmal tief durch.
Kettler schaute sie fragend an. »Was tun Sie hier unten, Atlee? Sie wollten keine erholsame Wanderung machen, so viel steht fest.«
»Ich suche den Vermissten. Das haben diese drei Männer übrigens auch getan.«
»Sie glauben, Roth ist hier irgendwo? Wie kommen Sie darauf?«
»Ist eine lange Geschichte.« Pine schaute zu den Toten. »Wir müssen etwas tun, Sam. Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen.« Sie sah sich um. »Andererseits ist das hier jetzt ein Tatort, und wir dürfen nichts verändern. Ich muss ein Team kommen lassen, das alles sichert. Ich …«
Kettler trat zu ihr und legte seine Hand auf ihren Arm. »Sie müssen erst mal gar nichts. Lassen Sie sich ein bisschen Zeit, um runterzukommen. Die hätten Sie beinahe umgebracht, Atlee.«
»Ich habe einen Army-Soldaten erschossen, Sam!«
»Okay, ich hab zwei erschossen.«
Während Pine sich allmählich beruhigte, bemerkte Kettler das Tarnnetz. Er zog es zur Seite und entdeckte den Höhleneingang. »He, was ist das hier?«
»Das, was ich gesucht habe, nehme ich an«, sagte Pine.
»Und was haben Sie gesucht?«, fragte Kettler verwirrt.
»Das werden Sie gleich sehen.«