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Aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund konnte Pine sich nicht entscheiden, was sie zum Abendessen mit Kettler anziehen sollte.
»Nun hab dich nicht so«, machte sie sich Mut, während sie ein Outfit nach dem anderen vor den Spiegel hielt, der an der Innenseite der Schranktür befestigt war. »Es ist ja nicht so, dass du noch nie ein Date gehabt hättest, auch wenn es eine Weile her ist …«
Schließlich entschied sie sich für ein Sommerkleid, einen leichten Pulli und Sandalen. Ihre Glock würde sie in der Handtasche tragen und die Beretta zu Hause lassen. Sie ging davon aus, dass das Date nicht dermaßen eskalierte, dass sie eine zweite Waffe benötigte.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Als sie ihr Ziel erreichte, sah sie, dass Kettlers Jeep bereits am Bordstein stand. Sie schaute auf die Uhr. Eine Minute vor sieben. Mr. Kettler war offenbar gerne ein bisschen früher dran.
Sie parkte ihren Wagen vor dem Restaurant, trat ein, ließ den Blick schweifen und entdeckte Sam Kettler fast auf den ersten Blick, da das Lokal ziemlich klein war. Er stand auf und winkte.
Das weiße Hemd, das er über der Jeans trug, ließ seine sonnengebräunte Haut noch dunkler erscheinen. Seine kurzen Haare waren ein wenig zerzaust, als hätte er sie unterwegs vom Fahrtwind trocknen lassen. Pine musste zugeben, dass es ihn noch attraktiver machte.
Statt mit einem Händedruck begrüßten sie sich mit einer flüchtigen Umarmung.
»Sie sehen anders aus als in Uniform«, sagte Kettler, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Auf sehr attraktive Weise anders, wenn ich so sagen darf.« Er verstummte, als wäre ihm seine Bemerkung mit einem Mal peinlich.
Pine wartete einen Augenblick, bevor sie ihn aus seiner Verlegenheit befreite. »Danke.« Sie lächelte. »Was mich angeht, bin ich mir nicht so sicher, wie Sie mir besser gefallen. So wie jetzt oder in Shorts und Tanktop.«
Beide mussten lachen, und das Eis war gebrochen.
Sie bestellten Bier, Salat und Pizza.
Als die Getränke kamen, stießen sie mit den Bierflaschen an und nahmen beide einen kräftigen Schluck.
»Sagen Sie mal, Atlee«, Kettler nickte zum Fenster, »leben Sie eigentlich gern hier?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe keinen langen Arbeitsweg. Mein Büro ist gleich die Straße runter.«
»Im selben Gebäude wie das ICE.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Pine.
»Die haben seit einiger Zeit auch den Nationalpark im Visier, weil sie da ganze Heerscharen illegaler Einwanderer vermuten. Ich musste schon ein paarmal zu denen ins Büro, um ihnen Informationen zu geben. Manchmal müssen wir Ranger sogar an Besprechungen teilnehmen, die sie dort abhalten. Sie erinnern uns dann gern an unsere Pflicht als Angehörige einer Bundesbehörde, dass wir sie verständigen müssen, wenn wir auf Illegale stoßen, damit sie die Leute abholen können.«
»Nur gibt es keine Illegalen im Park Service, oder? Die hätten doch keine Chance, den Hintergrundcheck zu bestehen.«
»Stimmt, aber wir haben Vertragsfirmen, die beschäftigen diese Leute als Landschaftsgärtner, als Mitarbeiter in Souvenirläden und Restaurants, als Lieferwagenfahrer … so was alles.«
»Haben Sie schon viele gemeldet?«
»Keinen Einzigen. Klar, wenn einer was anstellt, bin ich der Erste, der ihn meldet. Aber wenn die Leute hart arbeiten und sauber bleiben, lasse ich sie in Ruhe.«
»Klingt nach einer guten Einstellung. Aber mal was anderes.« Pine lächelte schelmisch. »Wie lange haben Sie nach Ihrem Lauf durch den Canyon geschlafen?«
»Ungefähr so lange, wie ich gelaufen bin. Früher bin ich mit weniger Schlaf ausgekommen.«
»Bei den Special Forces, meinen Sie?«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Colson Lambert. Und dem wiederum hat es jemand erzählt, mit dem Sie zusammen beim Militär waren. Auch dass Sie jede Menge Orden bekommen hätten, sogar das Purple Heart. Ganz schön beeindruckend.«
»Hört sich großartiger an, als es ist.«
»Sie haben immerhin Ihrem Land gedient, indem Sie in einem Krieg gekämpft haben.«
Kettler trank sein Bier aus und bedeutete der Kellnerin, ihm noch eins zu bringen. Er wartete, bis das Bier kam, nahm einen kräftigen Schluck und sagte: »Es war kein Krieg, Atlee.«
»Was dann?«
»Ein Gemetzel. Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet, um dann auf …« Er verstummte.
»Was ist, Sam?«
»Ach, nichts. Wechseln wir lieber das Thema. Ich wollte nicht mit Ihnen essen gehen, um über den dämlichen Krieg zu reden.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang. »Sie haben nur Ihren Job gemacht, Sam. Es war Ihre Aufgabe, und die haben Sie erfüllt, nicht mehr und nicht weniger.«
Er blickte auf, schaute ihr in die Augen. »Das ist auch der Grund, weshalb ich zum Park Service gegangen bin. Weil es in diesem Job darum geht, etwas zu schützen und zu bewahren, das wert ist, bewahrt zu werden. Die Waffe lasse ich stecken. Ich sorge dafür, dass die Leute im Canyon ein paar unvergessliche Tage verbringen können. Wenn ich am Morgen aufwache, liegt eine Aufgabe vor mir, die Spaß macht. Und es ist eine atemberaubende Landschaft. Ich erfreue mich jeden Tag daran.«
»Und in Ihrer Freizeit spielen Sie Superman und laufen kreuz und quer durch den Canyon«, sagte sie lächelnd.
Er erwiderte ihr Lächeln. »Das haben Sie doch bestimmt auch schon getan.«
»Gewandert, ja, aber nicht gelaufen – jedenfalls nicht so wie Sie.«
»Vielleicht haben Sie ja mal Lust, mit mir zu laufen. Es ist ein tolles Gefühl. Man ist einfach nur dankbar, dass man es erleben darf. Ich würde das gerne mit Ihnen teilen.«
»Mal sehen. Manchmal gehen solche Wünsche schneller in Erfüllung, als man denkt.« Sie lächelte verschmitzt.
Pizza und Salat wurden serviert, und sie aßen eine Weile und unterhielten sich dabei über verschiedene Themen, von Lokalpolitik über die Beziehungen zu den indigenen Stämmen bis hin zu der Tatsache, dass ein gewaltiger Riss in der Erdkruste namens Grand Canyon einer der bemerkenswertesten Orte auf dem Planeten war.
Nach dem Essen tranken sie ihr Bier aus und machten einen kleinen Abendspaziergang.
Ein Eiswagen rollte mit bimmelnder Glocke vorbei, und einem spontanen Impuls folgend, kaufte Pine zwei Waffeln mit Vanilleeis.
Trotz der abendlichen Stunde war es noch so warm, dass Pine ihren Pulli auszog und ihn sich um die Taille band.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf Tätowierungen stehen«, bemerkte Kettler, als er ihre Arme betrachtete.
»Ja, manchmal bin ich für Überraschungen gut.«
»Zwillinge und Merkur«, sagte er.
»Sie kennen sich mit Astrologie aus?«
»Nicht besonders. Ich lese manchmal das Horoskop. Was bedeutet ›No Mercy‹?«
»Das ist was Persönliches.«
»Oh, okay«, sagte er rasch, als er ihren unbehaglichen Blick bemerkte.
»Sorry, aber bei manchen Dingen bin ich ein bisschen eigen.«
»Kein Problem. Geht mir bei manchen Dingen genauso.«
»Sie sind nicht tätowiert, soweit ich das vorhin gesehen habe.«
»Doch. Allerdings an einer Stelle, die man in der Regel nicht sieht.«
»Wo könnte das sein?«, fragte sie schelmisch.
Statt einer Antwort schob er den Bund seiner Jeans ein Stück nach unten, sodass seine Hüfte entblößt war. Pine beugte sich hinunter, um die kleine Tätowierung näher zu betrachten.
»Ist das nicht Hobbes?«
»Ja, aus der Comicserie Calvin und Hobbes.«
»Hm, ein Ex-Special-Forces-Mann mit dem Tiger aus einer Comicserie auf der Hüfte. Jetzt bin ich baff.«
»Was soll ich sagen – als kleiner Junge habe ich diese Geschichten geliebt.«
Er zog die Hose wieder hoch und deutete auf ihre kräftigen Arme. »Sie waren eine hervorragende Gewichtheberin, stimmt’s?«
»Nur um das klarzustellen, mit dieser Wikipedia-Seite habe ich nichts zu tun.« Pine warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Sie haben mich also noch schnell unter die Lupe genommen, bevor wir uns getroffen haben?«
Ihre Frage klang nicht vorwurfsvoll, eher amüsiert.
»Nicht erst heute. Ich fand Sie schon interessant, als wir uns das erste Mal begegnet sind.«
Sie lachte.
»Ich nehme an, Ihre Arbeit lässt Ihnen nicht allzu viel Freizeit«, sagte er.
»Normalerweise nicht.«
»Dann freut es mich umso mehr, dass Sie heute Zeit hatten.«
Sie legte die Hand flüchtig auf seine Schulter. »Mich auch. Hat Spaß gemacht.«
Er schaute auf ihre Wade. »Wie sind Sie an die Schusswunde gekommen?«
Sie blickte kurz auf die Stelle hinunter. »Die meisten halten es für ein Muttermal.«
Kettler zuckte mit den Schultern. »Ich bin halt nicht wie die meisten. Ich habe so viele Schusswunden gesehen, dass es für den Rest meines Lebens reicht.«
»Zum Glück war es nur Kaliber zweiundzwanzig. Die Kugel blieb stecken, sonst wär’s eine hässliche Austrittswunde geworden.«
»Wie ist es passiert?«
»Eine missglückte Festnahme. Mein Fehler. Ich habe jedenfalls meine Lektion gelernt. Das passiert mir nicht noch mal.« Sie hielt einen Moment inne. »Wo wir gerade dabei sind … wo wurden Sie verwundet, bevor Sie den Orden bekommen haben?«
Er schüttelte den Kopf, lächelte und aß den letzten Bissen seiner Eiswaffel. »Das kann ich Ihnen beim ersten Date wirklich nicht zeigen. Auch nicht beim zweiten, vielleicht nicht einmal beim zehnten. Ich bin da ein bisschen altmodisch.«
Sie hakte sich bei ihm unter. »Gut. Ein bisschen altmodisch bin ich nämlich auch.«