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Die Wohnung des »guten Freundes« befand sich in Arlington, Virginia, in einem Viertel namens Ballston. Kurt Ferris war als Ermittler beim CID, der Strafverfolgungsbehörde der US Army, und hatte erst kürzlich einen sechsmonatigen Auslandseinsatz angetreten, um gegen Angehörige der Army zu ermitteln, die in Verbrechen verwickelt waren. Pine hatte ihn kennengelernt, als sie gemeinsam gegen einen Schmugglerring vorgegangen waren, der von Fort Belvoir aus operiert hatte – ein Fall von internationaler Tragweite.

Sie hatten den Fall gelöst und waren als Freunde auseinandergegangen, was Pine bewogen hatte, Kurt Ferris zu fragen, ob er ihr eine Bleibe in Virginia empfehlen könne. Stattdessen hatte er ihr seine eigene Wohnung angeboten, da er ohnehin noch eine ganze Weile unterwegs sein würde. Er versprach ihr, Schweigen zu wahren, nachdem Pine ihm erzählt hatte, dass sie in einem brisanten Fall undercover für das Bureau arbeite.

Das Apartment lag nahe der Ballston Mall. Die Gegend hatte sich zu einem der beliebtesten Wohnviertel für wohlhabende Millennials entwickelt – junge, gut ausgebildete Leute, die hierherzogen, um zu arbeiten und das Leben zu genießen. Pine war anfangs überrascht gewesen, dass sich Ferris von seinem Army-Sold eine so noble Bleibe leisten konnte, doch dann erinnerte sie sich, dass seine Eltern ihrem einzigen Sohn ein stolzes Vermögen hinterlassen hatten, als sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

Die Wohnungen im Viertel waren neu; die Türen ließen sich nicht mit Schlüsseln, sondern mit persönlichen Codes öffnen, was Pine sehr entgegenkam: Nur ungern hätte sie dem Hauspersonal ihren Namen genannt und ihren Ausweis gezeigt.

Blum verstaute ihre Reisetasche in ihrem Zimmer. Pine hatte ihr nahegelegt, ihre Sachen nicht auszupacken, damit sie jederzeit das Weite suchen konnten, falls die Situation es erforderte.

Sie machte einen Rundgang durch die großzügige Vierzimmerwohnung. Von einem kleinen Balkon überblickte man einen rechteckigen Park. Die Einrichtung war geschmackvoll und luxuriös, die Küche mit hochwertigen Geräten von Wolf und Sub-Zero ausgestattet.

»Schöne Wohnung«, bemerkte Blum. »Ist Ihr Freund Single?«

»Ja.«

Blum nahm ein Bild zur Hand, das auf einer Kommode stand. Es zeigte einen hochgewachsenen, gut aussehenden Mann in Army-Ausgehuniform und zwei ältere Leute. »Ist er das?«

»Ja, das ist Kurt mit seinen Eltern.«

»Ein flotter Bursche. Ein guter Freund von Ihnen, wenn er Sie bei sich wohnen lässt, hm? Sie stehen sich vermutlich sehr nahe.«

Sie sah Pine erwartungsvoll an.

»Ich habe es nicht so mit Themen, über die Mädels sich gern unterhalten«, stellte Pine klar.

»Ich auch nicht, weil wir keine Mädels mehr sind.«

»Okay.« Pine seufzte. »Ich glaube, Kurt kann sich mehr vorstellen als Freundschaft. Nein, er will definitiv mehr. Aber ich halte das für keine gute Idee.«

»Wegen der Entfernung? Er hat seinen Job hier im Osten, Sie im Westen?«

»Das auch.«

»Was noch?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau.«

»Verstehe. Männer sind oft ziemlich einfach gestrickt, aber eine Beziehung ist trotzdem kompliziert, zumindest aus Sicht der Frau.«

»Ich habe neulich jemanden … also, es gibt da einen Park Ranger.«

»Wirklich? Wie heißt er?«

»Wieso? Kennen Sie viele Park Ranger?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht – ja.«

»Sam Kettler.«

»Den kenne ich nicht.«

»Er arbeitet erst seit zwei Jahren im Nationalpark. Er hatte Dienst auf der Phantom Ranch, als dieser Mann verschwand.«

»Da haben Sie sich kennengelernt? Und jetzt hat sich was zwischen Ihnen entwickelt? Das ging aber schnell.«

»Entwickelt? Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann. Wir haben mal zusammen Pizza gegessen und ein Bier getrunken. Das war’s auch schon.«

»Ein netter Kerl?«

»Ja. Und ich glaube, er würde mich gerne wiedersehen.«

»Und Sie?«

Pine zögerte, ehe sie antwortete. »Das ist kompliziert.«

»Vielleicht sind Sie selbst ja auch ein bisschen komplizierter als andere.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Pine verdutzt.

»Ich weiß einiges über Ihre Vergangenheit. Über Ihre Kindheit.«

»Das hat damit nichts zu tun.«

»Sicher nicht? Nach so etwas ist man zwangsläufig traumatisiert.«

»Ich bin nicht traumatisiert. Sonst wäre ich nicht beim FBI. Ich hätte den psychologischen Eignungstest niemals bestanden.« Sie musterte Blum scharf. »Wie kommen Sie jetzt eigentlich darauf?«

»Okay, ich will offen sprechen. Ich weiß, dass Sie im Hochsicherheitsgefängnis in Florence waren, um ein paar Dingen auf den Grund zu gehen.«

Pine musterte Blum mit steinerner Miene. »Ich habe niemandem davon erzählt.«

»Aber Sie mussten eine Sondergenehmigung einholen, um außerhalb der Besuchszeiten mit einem Insassen zu sprechen. Das Ersuchen lief übers FBI, deshalb weiß ich davon. Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Pine in einem Tonfall, der unmissverständlich klarmachte, dass das Thema damit erledigt war.

»Okay.« Blum stellte das Bild zurück. »Wie geht’s jetzt weiter?«

»Was mich angeht, ich brauche jetzt erst mal eine Dusche.« Pine ging auf ihr Zimmer und zog sich aus. Dabei fiel ihr Blick auf den langen, schmalen Spiegel an der Wand. Sie betrachtete die Narben, die sie sich in den Jahren als FBI-Agentin zugezogen hatte. Die Schusswunde an der rechten Wade, die Sam Kettler aufgefallen war und die von einer verunglückten Festnahme stammte, die sie nur mit Glück überlebt hatte. Wie sie Kettler erzählt hatte, war die Kugel im Bein stecken geblieben. Ein Chirurg hatte sie herausgeholt. Pine hatte großes Glück gehabt, weil die Kugel beim Austritt eine Arterie hätte zerreißen können. Nun sah die Wunde aus wie ein kleines Melanom.

Die Schnittwunde am linken Trizeps verdankte sie dem Fehler einer Agentin, die sie bei der Festnahme eines Verdächtigen begleitet hatte. Zum Glück hatte sie, Pine, rechtzeitig reagiert und den Mann unschädlich gemacht, bevor sie und ihre Partnerin deren Unachtsamkeit mit dem Leben bezahlen mussten.

Die Narbe erinnerte an einen Tausendfüßer.

Sie drehte sich um, senkte den Blick auf den unteren Teil der Wirbelsäule. Diese Verletzung hatte sie sich nicht im Beruf zugezogen, sondern beim Gewichtheben. Eine Rückenoperation war bei Gewichthebern keine Seltenheit.

Sie vermied es, die Tätowierungen im Bereich der Deltamuskeln anzusehen: Zwillinge und Merkur.

Dann hob sie langsam die Arme, bis die Worte »No Mercy« sichtbar wurden.

Nein, nicht bloß Worte. Dein Name.

Sie ging unter die Dusche, wusch die Spuren vom Zusammenstoß in der Raststätte mit viel heißem Wasser und Seife ab. Sie trocknete sich ab und zog frische Sachen an. Dann fuhr sie sich mit den Händen durch die Haare, um sie anschließend lufttrocknen zu lassen.

Als sie in die Küche trat, war Blum gerade dabei, Gemüse anzuschwitzen.

»Was soll das werden?«

»Wir müssen wieder mal was Ordentliches zwischen die Rippen kriegen. Ihr Freund hat ein paar brauchbare Dinge im Kühlschrank. Er hat sogar ein paar Ciabattas da, die ich im Ofen aufbacken kann. Es ist doch in Ordnung, wenn wir uns bedienen?«

»Er hat gesagt, wir können alles benutzen, also dürfte das okay sein. Dann sind Sie wohl eine gute Köchin?«

»Was soll ich sagen – ich hatte sechs Kinder durchzufüttern. Obwohl es mit den Jahren immer öfter irgendwelche Fertiggerichte gab. Bei sechs Kindern muss es mit dem Kochen oft schnell gehen, zumal ich ja noch meinen Job hatte. Hat Ihre Mutter Sie auch bekocht?«

Pine schwieg, setzte sich an den Küchentisch und klappte ihren Laptop auf.

»Sie arbeiten noch?«, fragte Blum, während sie das Gemüse mit Pfeffer würzte. »Wir sind quer durchs Land gefahren. Sie könnten ruhig mal eine Stunde ausruhen.«

»Ich habe im Auto gut geschlafen«, antwortete Pine. »Was kochen Sie eigentlich? Das riecht lecker.«

»Hähnchen-Piccata. Möchten Sie einen Salat dazu machen? Sie finden alles, was Sie brauchen, im Kühlschrank. Aber nicht den Rucola, der kommt zum Hähnchen.«

»Okay.« Pine stand auf, wusch sich die Hände und trocknete sie mit einem Geschirrtuch ab. In einem Schrank fand sie eine passende Schüssel; dann nahm sie die Zutaten für den Salat aus dem Kühlschrank.

»Wer hätte das gedacht?«, sagte Blum nach einer Weile. »Dass wir zwei einmal so weit weg von zu Hause etwas zusammen kochen.«

»Das Leben ist unberechenbar«, sagte Pine, während sie auf einem Schneidbrett Tomaten und eine Gurke in Scheiben schnitt.

Blum pfefferte die Hühnerschnitzel, wendete sie in griechischem Joghurt und einer Mischung aus Paniermehl, Oregano, Basilikum und Thymian. Sie goss kalt gepresstes Olivenöl in eine Pfanne und legte die Schnitzel hinein, um sie auf jeder Seite drei Minuten zu braten.

Währenddessen deckte Pine den Esszimmertisch, nachdem sie den Salat fertig zubereitet hatte.

Blum drückte eine Zitronenscheibe über den gebackenen Hühnerschnitzeln aus und richtete sie, auf Rucola gebettet, auf zwei Tellern an. Dann holte sie die Ciabattas aus dem Ofen und gab sie in ein Brotkörbchen, das sie mit einer Stoffserviette ausgelegt hatte.

»Wie ich sehe, hat Ihr Freund einen Weinkühlschrank.« Blum deutete auf das Gerät unter der Küchentheke. »Zum Huhn passt ein Chardonnay, noch besser ein Pinot Grigio. Möchten Sie mal nachsehen, während ich die Teller und das Brot auf den Tisch stelle?«

Eine Minute später kam Pine mit einer entkorkten Flasche Pinot, einem Weinglas und einem belgischen Fat-Tire-Bier zurück.

»Wenn Sie den Weißen nehmen, nehm ich ein Helles.« Sie schenkte Blum Wein ein, öffnete ihr Bier und setzte sich. Blum nahm ihr Weinglas und stieß mit Pines Bierflasche an.

Sie aßen eine Weile schweigend, bis Pine sagte: »Das ist wirklich gut.«

»Ich kann Ihnen zeigen, wie es geht.«

»Wäre vielleicht ganz nett. Ich bin keine große Köchin.«

»Die einfachen Rezepte sind oft die besten. Wichtig sind frische Zutaten.«

»Vielleicht könnten Sie’s mir beibringen.« Sie schaute zur Seite und nahm rasch einen Schluck Bier.

Blum warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Für Mr. Kettler?«

»Wovon reden Sie?«

»Ach, kommen Sie. Ich bin zu alt, um mir in dieser Hinsicht was vormachen zu lassen.«

Pine lächelte. »Okay, ich mag ihn. Wir kommen ganz gut miteinander aus.«

»Gott sei Dank gibt es kein Gesetz, das das verbietet. Sie sagen, er mag Sie, und nach dem, was Sie mir erzählt haben, glaube ich das auch. Auch wenn Sie befürchten, es könnte ein bisschen kompliziert werden, sollten Sie sich trotzdem wieder mit ihm treffen, wenn wir zurück sind.«

»Falls wir zurückkommen«, erwiderte Pine plötzlich sehr ernst.

»Das stimmt natürlich. Okay, was steht als Nächstes an?«

Pine legte Messer und Gabel beiseite und griff nach ihrem Bier.

»Ich habe Ben Priests Adresse von seinem Bruder. Er wohnt in der Altstadt von Alexandria. Ich kann mir vorstellen, dass das Haus überwacht wird, also werden wir die Beobachter beobachten und selbst die Lage erkunden.«

»Okay.«

»Dann ist da noch Ed Priests Familie. Ich muss irgendwie an sie herankommen, ohne dass es jemand mitkriegt.«

»Stehen die Leute nicht mehr unter unserem Schutz?«

»Ich weiß es nicht. Leider hat man sie nicht in einem Safe House untergebracht, aber ich konnte immerhin erreichen, dass uniformierte FBI-Leute auf sie aufpassen. Natürlich kann es sein, dass man ihnen den Schutz entzogen hat, nachdem Dobbs den Anruf vom Vizedirektor bekam.«

»Nicht zu vergessen die Männer im Hubschrauber, die die Priest-Brüder entführt haben. Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?«

»Ich kann bestimmte Schlussfolgerungen ziehen.«

Blum nahm einen Schluck Wein und schaute ihre Chefin nachdenklich an. »Und welche?«

»Ich habe gesehen, um welchen Hubschrauber-Typ es sich gehandelt hat. Es war ein UH-72A Lakota. Mit so einem bin ich auch schon geflogen.«

»Wer benutzt diesen Typ?«

»Die United States Army.«