52

Der größte Teil der Familie traf sich am nächsten Tag im Salon zum Nachmittagstee. Die Frischverheirateten waren die einzigen, die so miteinander beschäftigt waren, daß sie die gespannte Atmosphäre im Raum kaum wahrnahmen. Bei den anderen plätscherte das Gespräch so dahin, weil jeder sorgsam darauf achtete, Kelseys und Dereks hoffnungslose Situation nicht zu erwähnen.

Derek und sein Vater redeten offenbar nicht mehr miteinander. Die anderen nahmen an, es läge an Jasons Ein-stellung zur Heirat seines Sohnes. Niemand fragte, wie ihr Gespräch weitergegangen war, nachdem sie am Abend zuvor gemeinsam das Eßzimmer verlassen hatten, aber es war nur zu offensichtlich, daß sie einander nicht in die Augen sehen konnten. Derek wirkte noch ärgerlicher als am Abend zuvor.

Und dann erschien der Butler in der Tür mit einer Be-sucherin, die gar nicht erst abwartete, bis sie angekündigt wurde, sondern sich sofort an ihm vorbeidrängelte.

Die Frau war Anfang vierzig und sah für ihr Alter sehr gut aus. Früher war sie bestimmt eine Schönheit gewesen. Sie war zwar nicht sehr groß, aber kräftig gebaut, und im Augenblick wirkte sie durch ihr ganzes Auftre-ten recht beeindruckend – eigentlich ein wenig wie ein Drache, der gleich Feuer spucken würde.

»Ich möchte zu Derek Malory.«

Derek erhob sich und verneigte sich leicht vor der Frau, obwohl er wegen ihres scharfen Tons nur widerstrebend zugab: »Das bin ich, Madam.«

Sie wandte sich ihm zu und fragte: »Wo haben Sie meine Nichte versteckt? Und lügen Sie mich nicht an.

Ich weiß, daß sie bei Ihnen ist. Mein Mann, dieser Schuft, hat ein vollständiges Geständnis abgelegt. Er hat Ihren Namen von diesem Kerl erfahren, der sie an Sie verkauft hat, als er sein verdammtes Geld bei ihm abholte.«

Tiefes Schweigen herrschte nach diesen Worten. Es war völlig still.

Dann sagte Reggie: »Setzen Sie sich doch, Madam.

Ich bin sicher, daß Derek Ihre Nichte nicht versteckt.

Eigentlich glaube ich sogar, daß sie ganz in der Nähe ist.«

Elizabeth

blickte

Regina

mit

zusammengekniffenen

Augen an. »Kenne ich Sie nicht, junge Dame?«

»Ja, wir sind uns kürzlich in Ihrem Hotel begegnet. Ich habe selbst nach Kelsey gesucht, und obwohl Sie sagten, Sie hätten eine Nichte dieses Namens, dachte ich, die Kelsey, nach der ich suchte, sei nicht mit Ihnen verwandt.« Reggie strahlte, sie war hocherfreut darüber, daß Kelseys Tante endlich die Wahrheit erfahren hatte.

Das konnte eine große Rolle spielen. »Sieht so aus, als hätte ich mich geirrt, nicht wahr?«

»In der Tat«, erwiderte Elizabeth verschnupft.

Endlich hatte Derek die Sprache wiedergefunden. Er runzelte verwirrt die Stirn. »Warten Sie .. Verstehe ich richtig, daß Sie Kelseys Tante sind?«

»Das haben Sie vollkommen richtig verstanden«, antwortete Elizabeth und warf ihm wieder einen finsteren Blick zu.

»Aber ich wußte gar nicht, daß ihre Verwandten noch leben.«

»Sie hat nicht viele Verwandte, aber es ist völlig irrele-vant, ob sie das wußten oder nicht.«

»Die meisten von uns haben Ihre Nichte kennengelernt, Madam. Und wie Derek wußten wir alle nicht, daß sie noch Familie hat. Vielleicht möchten Sie sich vorstellen?« sagte Jason.

»Und wer sind Sie, Sir?« fragte Elizabeth ihn.

»Ich bin Dereks Vater, Jason Malory.«

»Ah, gut. Das stellt sicher, daß Ihr Sohn sich in dieser Angelegenheit kooperativ zeigt. Und ich bin Elizabeth Perry. Das sagt Ihnen natürlich nichts, weil ich unter meinem Stand geheiratet habe, und mir bedeutet es im Moment sogar noch weniger. Aber mein Großvater war der Duke of Wrighton, ein Titel, der erst dann wieder zum Tragen kommt, wenn Kelsey einen Sohn zur Welt bringt.«

»Du lieber Gott!« Das kam von Anthony.

»Sie hat mir gesagt, ihre Mutter sei Gouvernante gewesen!« warf Derek ungläubig ein.

»Wohl kaum«, schnaubte Elizabeth. »Ihre Mutter, meine einzige Schwester, starb Anfang dieses Jahres an den Folgen eines Unfalls – nachdem sie ihren Mann erschossen hatte. Sie haben vielleicht von dem Vorfall gehört? Kelseys Vater war David Langton, der vierte Earl of Lanscastle.«

James brach in Lachen aus. »Das erklärt, warum sie wie eine Lady aussieht, redet und handelt, was?«

Seine Frau äußerte laut: »Das ist ja entzückend. Jetzt ist sie ja passend ...«

»Nicht ganz, George«, unterbrach James sie.

Roslynn fügte hinzu: »Aber viel näher dran ...«

»Nicht so nahe, Liebling«, warf Anthony ein.

Beide Frauen blickten ihre Gatten empört an, schwiegen aber. Später, wenn sie mit ihren Männern allein waren, würden sie natürlich viel mehr zu sagen haben.

Reggie sinnierte: »Ich frage mich, warum Kelsey ihren herzöglichen Urgroßvater nicht erwähnte, als sie mir alles erzählt hat – nun ja, das meiste jedenfalls.«

»Soll das heißen, du wußtest, daß sie die Tochter von diesem Langton ist?« Derek betrachtete seine Cousine finster. »Und du hast es nicht für nötig gehalten, mir das zu sagen?«

Regina wand sich unbehaglich, versuchte jedoch zu erklären: »Ich mußte es ihr versprechen, Derek. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich so ein großes Geheimnis gerne für mich behalten habe? Es hat mich wahnsinnig gemacht, die Wahrheit zu wissen und dementspre-chend nicht zu der, ähm – Diskussion gestern abend beitragen zu können.«

Elizabeth sah Regina etwas freundlicher an. Wenn Kelsey sich ihr anvertraut hatte, während sie ihrem Geliebten nichts erzählt hatte, mußte sie das Mädchen wohl mögen.

Also erklärte sie ihr: »Kelsey weiß nicht, wer ihr Urgroßvater war, also konnte sie ihn auch nicht erwähnen.

Er starb lange vor ihrer Geburt, und meine Schwester und ich beschlossen, sie nicht mit dem Wissen zu bela-sten. Die Bürde, den nächsten Erben von Wrighton hervorbringen zu müssen, hat schon unsere Mutter, die nur Töchter hatte, zu sehr beunruhigt, und dann ging es mir und meiner Schwester genauso. Jetzt aber ist die Reihe an Kelsey, denn ich habe keine eigenen Kinder, und auch meine Schwester hatte nur zwei Töchter, als sie starb.«

»Haben Sie nicht bedacht, Lady Elizabeth, daß das, was Ihre Nichte getan hat, ihre Chancen auf eine gute Ehe zerstören mußte?« fragte Jason vorsichtig.

»Natürlich«, antwortete Elizabeth. »Deshalb hätte ich meinen Mann auch beinahe erschossen, wenn ich eine Waffe zur Hand gehabt hätte, als er mir gestand, was er getan hat.«

»Was hat er damit zu tun?«

»Kelsey und ihre jüngere Schwester Jean leben seit der Beerdigung bei mir und meinem Mann, und der Dummkopf erklärte ihr, daß wir ruiniert seien, daß die Gläubiger uns das Haus wegnehmen würden und daß nur sie uns nur vor einem Leben auf der Straße bewahren könne – wenn sie die Mätresse eines Lords würde, der Elliotts Schulden bezahlte.«

»Heißt das, das stimmte gar nicht?«

»Ganz sicher nicht – obwohl mein Mann es wirklich glaubt und er in der Tat tief in Schulden geraten war, ohne es mir zu sagen. Aber als ich ihn heiratete – gegen den Willen meiner Eltern, möchte ich hinzufügen –, überschrieb mir meine Mutter eine recht große Summe Geldes mit dem Rat, Elliott nie etwas davon zu sagen, und bis heute habe ich das auch nicht getan. Und da wir gerade davon reden« – sie griff in ihr Retikül und holte einen dicken Stapel Banknoten heraus, die sie Derek hinhielt. »Ich glaube, das ist die Summe, die Sie .. «

Derek unterbrach sie. »Ich möchte Ihr Geld nicht.«

»Sie werden es aber nehmen.« Und damit warf sie das Geldbündel auf das Sofa hinter ihm. »Kelsey ist Ihnen nun nicht mehr verpflichtet. Sie kommt mit mir nach Hause.«

»Nein!«

»Wie bitte?«

Derek räusperte sich und sagte: »Vielleicht war das ein bißchen unverschämt.«

»Ein bißchen?« Anthony kicherte.

»Halt dich da raus, alter Knabe, soll der Junge sich doch selbst durchkämpfen«, schlug James vor. »Es wird gerade erst interessant.«

Elizabeth hatte beide Männer angeblickt, während sie redeten. Jason murmelte etwas Unverständliches, bevor er sie aufklärte. Er zeigte auf James und Anthony »Meine jüngeren Brüder – die selten etwas ernst nehmen.«

»Da muß ich dir leider widersprechen, Jason«, erwiderte James. »Wenn du eine ernsthafte Meinung hören ...«

»Nein«, unterbrach Jason ihn.

»Ich bin auch nicht einverstanden, Jason – aber, du meine Güte, heißt das etwa, daß ich einer Meinung mit James bin?« fragte Anthony mit gespieltem Abscheu.

»Ros, schnell, fühl meine Stirn. Ich habe mich wahrscheinlich bei Judith angesteckt und habe Fieber.«

James schnaubte. Jason warf ihnen finstere Blicke zu.

Edward, der bis jetzt noch gar nichts gesagt hatte, mischte sich nun auch ein.

»Wirklich, Tony, das war jetzt absolut unnötig.«

Und Reggie rief aus: »Na, das ist ja großartig! Wollt ihr vier euch jetzt wirklich streiten?«

»Keineswegs, Kätzchen«, erwiderte Anthony und lächelte sie entschuldigend an. »Wir wollen dem Jungen nur Zeit geben, wieder aus dem Loch zu krabbeln, das er sich selbst gegraben hat.«

»Oh – nun, in diesem Fall macht weiter.«

»Danke, Onkel Tony, aber es ist nicht nötig.« Derek blickte die Frau vor ihm an. »Lady Elizabeth, ich kann nicht behaupten, daß es mir leid täte, daß sie erst jetzt von den Problemen Ihres Mannes erfahren haben, denn dann hätte ich Ihre Nichte nie kennengelernt. Aber ...«

»Das ist recht egoistisch, junger Mann«, unterbrach sie ihn ungnädig.

»Das ist es, aber ich liebe sie, verstehen Sie? Und ich möchte sie heiraten.«

Elizabeth blinzelte. Das hatte sie nicht erwartet. Aber sie hatte auch nicht erwartet, daß Derek Malory ein so gutaussehender junger Mann sein würde. Sie war völlig aufgebracht hierhergefahren, bereit, alles zu tun, was nötig war, um Kelsey aus dieser entsetzlichen Zwangslage zu befreien – und hatte nicht bedacht, daß ihre Nichte vielleicht gar nicht befreit werden wollte.

»Weiß Kelsey, daß Sie sie heiraten wollen?« fragte sie Derek.

»Ja.«

»Und was sagt sie dazu?«

»Sie weigert sich, meinen Antrag anzunehmen.«

»Warum?«

»Wegen des Skandals.«

»Ah, ja, der Skandal kann wahrscheinlich nicht ver-hindert werden. Habe ich schon erwähnt, daß zu dem Titel, der auf ihren Sohn übergehen wird, ein riesiges Vermögen

und

Grundbesitz

gehören?

Ganz

gleich,

wie groß der Skandal ist, den das Mädchen auslöst, sie wird nie wirkliche Probleme haben, einen Ehemann zu finden.«

»Dieser Familie hängen schon zu viele Skandale an«, warf Edward mürrisch ein. »Und noch mehr Vermögen brauchen wir ganz bestimmt nicht.«

»Also daher weht der Wind?« fragte Elizabeth sichtlich empört.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, betonte Derek und warf seinem Onkel einen bösen Blick zu.

»Mein Sohn hat recht. Meine Unterstützung hat er, wenn er das Mädchen heiraten will.«

Erstaunte Blicke wandten sich Jason zu. Und es wurde wieder still.

Georgina brach das Schweigen als erste. »Du meine Güte, James, ich wußte nicht, daß du so überzeugend sein kannst.«

James schnaubte. »Sieh mich dabei nicht an, George.

Damit habe ich nichts zu tun.«

Und Anthony fügte hinzu: »James überzeugend? Nur mit den Fäusten, meine Liebe, und vielleicht hast du schon gemerkt, daß unser großer Bruder damit gerade nichts im Sinn hat.«

Edward jedoch beklagte sich lauthals: »Das ist absurd, Jason. Du läßt dich von der Tatsache beeinflussen, daß sie auf einmal einen guten Stammbaum hat. Hast du nicht bedacht, daß das den Skandal sogar noch größer macht?«

»Wahrscheinlich«, stimmte Jason zu. »Aber ich hatte meine Meinung schon vorher geändert, und ich werde sie jetzt nicht noch einmal ändern, nur weil sich auf einmal herausgestellt hat, daß sie eine Lady ist. Ich habe beschlossen, daß Derek meine Unterstützung braucht, damit er nicht den gleichen Fehler macht wie ich.«

»Welchen Fehler?« fragte Edward.

»Das ist eine Sache zwischen Derek und mir. Wenn das Mädchen ihn haben will, dann bekommt er meinen Segen.«

Derek dankte seinem Vater nicht für die überraschende Hifestellung. Aber sein Zorn ließ merklich nach. Und außerdem hatte er schon wieder diesen dummen Kloß im Hals, der ihm die Kehle zuschnürte.

Er mußte sich erst einige Male räuspern, bevor er zu Elizabeth sagen konnte: »Wenn Sie mit mir kommen wollen, bringe ich Sie zu Kelsey. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, ihre Meinung über eine Heirat mit mir zu ändern.«

Lady Elizabeth murrte: »Falls ich dieser Heirat zustimme. Nachdem ich ihrer zerstrittenen Familie zugehört habe, bin ich mir da keineswegs sicher.«