13
Derek fuhr gar nicht mehr nach Bridgewater zurück. Er hatte den Rest des Tages in Haverston mit seinem Vater verbracht und war am nächsten Morgen nach London aufgebrochen. Dort hatte er seine Post durchgesehen und einen langen Brief an Bainsworth verfaßt. Und dann begann er nach einem Haus zu suchen, das er für Kelsey mieten konnte.
Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er damit zu seinem Onkel Edward hätte gehen können. Edward besaß Mietshäuser in ganz London und hätte bestimmt etwas Passendes für Derek gefunden. Aber Edward hätte ihn auch gefragt, wozu er es brauchte, und das wollte er nicht gerade dem Onkel auseinandersetzen, der seinem Vater am nächsten stand. Bei seinen anderen beiden Onkeln wäre das kein Problem gewesen. Sie hätten ihn sofort verstanden, schließlich hatten sie selbst zahllose Mätressen ausgehalten – zumindest, bis sie verheiratet waren. Edward jedoch war ein häuslicher Mann, war es immer gewesen.
Leider besaßen seine Onkel Tony und James keine Mietshäuser in der Stadt. Diejenigen, die ihnen gehörten, hatten sie Edward zur Verwaltung überlassen, weil er
das
gesamte
Familienvermögen
verwaltete.
Also
mußte Derek auf normalem Weg nach etwas Passendem suchen, mußte durch die Stadt laufen und sich Häuser ansehen, die entweder zu groß, zu teuer oder zu repara-turbedürftig waren. Als er endlich gefunden hatte, was er suchte, war es nur noch einen Tag bis zur Hochzeit seiner Kusine Amy. Deshalb konnte er auch jetzt nicht nach Bridgewater zurückfahren, sondern mußte weiter in der Stadt bleiben.
Andererseits gab es jedoch keinen Grund, Kelsey noch länger auf dem Land warten zu lassen, nachdem er einen
Mietvertrag
über
sechs
Monate
unterzeichnet
hatte und das Haus sofort bezogen werden konnte. Er brauchte lediglich noch ein paar Dienstboten, die sie sich
jedoch
sowieso
selbst
aussuchen
sollte.
Also
schickte er seinem Kutscher eine Nachricht, er möge sie in die Stadt bringen.
Er brannte vor Ungeduld, sie wiederzusehen, und wollte daher nicht bis nach Amys Hochzeit warten, um sie selbst abzuholen. Auf diese Art wäre sie schon am nächsten Abend in der Londoner Wohnung, und sie könnten ihre intime Beziehung einen Tag früher aufnehmen.
Es kam nicht häufig vor, daß sich alle Malorys zur gleichen Zeit unter demselben Dach befanden. Sogar die beiden jüngsten Mitglieder der Familie, James’ und Georginas Tochter Jacqueline, und Anthonys und Roslynns Tochter Judith waren im Obergeschoß untergebracht, so daß ihre Mütter nicht nach Hause mußten, um sie zu versorgen. Auch Reggies Sohn war dort oben; allerdings war er schon alt genug, um alleine zu essen.
Reggie überschaute die immer größer werdende Familie. Das neueste Familienmitglied war natürlich der Bräutigam, der jetzt nach der wundervollen Hochzeits-feier wahr und wahrhaftig eingefangen war. Reggie lächelte den Frischverheirateten liebevoll zu. Sie waren ein so schönes Paar. Warren, mit über einsneunzig größer als alle Malorys, mit seinen goldbraunen Haaren und seinen hellgrünen Augen, und Amy, eine wunderschöne Braut ganz in Weiß, mit ihren schwarzen Haaren und ihren kobaltblauen Augen.
Reggie hatte dieselbe Haar– und Augenfarbe, genau wie Anthony und Jeremy; und wie Melissa, Reggies Mutter, die gestorben war, als Reggie gerade erst zwei Jahre alt war. Sie waren die einzigen in der Familie, die Reggies Urgroßmutter ähnelten. Alle anderen waren blond und grünäugig, nur Marshall und Travis kamen nach ihrer Mutter, Charlotte, mit braunen Haaren und Augen.
Der Empfang fand in Onkel Edwards Haus am Gros-venor Square statt. Dick, jovial und immer guter Laune, im Gegensatz zu den anderen Onkeln, strahlte Edward vor Stolz und tätschelte seiner Frau Charlotte, die leise vor sich hin weinte, die Hand. Tatsächlich hatte Tante Charlotte die ganze Zeremonie über geweint. Nun ja, Amy war ihr jüngstes Kind – wenn Reggie allerdings darüber nachdachte, hatte Tante Charlotte eigentlich bei allen Hochzeiten geweint.
Die anderen Vettern und Cousinen Reggies waren im ganzen Raum verstreut. Zu Edwards Kindern gehörten auch Diana und Clare mit ihren Ehemännern und Amys Brüder, Marshall und Travis. Reggies Vetter Derek, Onkel Jasons einziges Kind, unterhielt sich gerade mit ihrem Mann Nicholas und ihren Onkeln Tony und James. Derek und Nicholas waren schon seit ihrer Schulzeit eng miteinander befreundet, lange bevor Reggie Nicholas kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Sie machte sich jedoch jedesmal Sorgen, wenn ihre beiden jüngsten Onkel mit ihrem Mann zusammentrafen.
Reggie seufzte und fragte sich, ob sie wohl jemals miteinander
auskommen
würden.
Onkel
Tony
war
immer der Ansicht gewesen, Nick sei nicht gut genug für sie, da er als Schürzenjäger galt. Bei Onkel James ging die Abneigung allerdings noch tiefer, da Nick in Onkel James’ Freibeutertagen einen Zusammenstoß auf hoher See mit ihm gehabt hatte. James hatte diese Schlacht verloren, und sein Sohn Jeremy war dabei verwundet worden, wenn auch nicht ernsthaft. Seitdem waren die beiden ständig aneinandergeraten, und bei ihrer
letzten,
ernsten
Auseinandersetzung
hatte
er
Nicholas so zusammengeschlagen, daß er fast nicht zu ihrer Hochzeit hätte kommen können; James war ins Gefängnis
gekommen
und
beinahe
wegen
Piraterie
gehängt worden.
Natürlich versuchten sie jetzt, wo Nicholas schon seit einigen Jahren zur Familie gehörte, nicht mehr, sich bei jedem Treffen gegenseitig umzubringen. Es war sogar durchaus möglich, daß sie sich mittlerweile mochten, wenn sie es auch nie zugeben würden und ein unbeteiligter Zuhörer sicher auch nie auf diese Idee gekommen wäre. Redeten sie miteinander, dann klang das eher wie bei Todfeinden. Und Reggie bezweifelte nicht eine Sekunde lang, daß sie es genossen, sich gegenseitig zu reizen. Aber das lag in der Familie, vor allem bei den Männern.
Es war eine bekannte Tatsache, daß die vier Malory-Brüder am glücklichsten waren, wenn sie miteinander streiten konnten, wobei sie allerdings anderen gegenü-
ber wie ein Mann zusammenstanden. Der Bräutigam und seine vier Brüder waren dafür ein hervorragendes Beispiel, zumindest was Tony und James anging.
James hatte sich völlig mit ihnen überworfen, weil er ihrer Schwester Georgina so unkonventionell den Hof gemacht hatte – und daß er in der Zeit, als er unter dem Namen ›Der Falke‹ bekannt gewesen war, einige ihrer Schiffe aufgebracht hatte, trug auch nicht gerade zum gegenseitigen Verständnis bei. Sie hatten James zusammengeschlagen und wollten ihn hängen lassen, aber es gelang ihm, zu entkommen und ihnen Georgina direkt unter ihrer Nase zu entführen.
Als
kühne
Amerikaner
jedoch
verfolgten
sie
ihn
bis nach England, um ihre Schwester zurückzuholen, mußten dort allerdings feststellen, daß sie sich mittlerweile in ihn verliebt hatte. Und doch war das ein un-günstiger Anfang gewesen. Als die beiden Familien schließlich auf gesellschaftlicher Basis miteinander um-gingen, standen alle Malorys fest hinter James, bis er selbst endlich die amerikanischen Andersons willkommen hieß – wenn auch mit Murren und nur auf Georginas Drängen.
Reggies Vettern allerdings verstanden sich gut mit den Amerikanern; Derek und Jeremy hatten die beiden jüngeren Andersons sogar unter ihre Fittiche genommen. Allerdings war Drew Anderson, der viertjüngste Bruder, genauso ein Herzensbrecher wie Jeremy, und Boyd, der jüngste und ernsthafteste, neigte noch stärker zu Eroberungen, also vergnügte er sich ebenfalls mit ihnen.
Reggie seufzte. Da Warren jetzt in England bleiben würde, um die Reederei Skylark Lines zu führen, für die eine große Flotte von Handelsschiffen, die der Familie Anderson gehörten, um die Welt fuhr, würde sich ihr Ehemann sicher mit Warren sehr anfreunden. Sie hatten schließlich eine ganze Menge gemeinsam, vor allem konnten sie beide James Malory nicht ausstehen.
Reggie hätte sich bestimmt Sorgen gemacht, wenn Nicholas sich mit dem Amerikaner anfreunden würde, doch hatte sich Anderson grundlegend geändert, nachdem er Amy gebeten hatte, ihn zu heiraten.
Nie zuvor war Reggie einem so streitsüchtigen Mann begegnet. Warren machte den Eindruck, er müsse gegen die ganze Welt angehen. Hinzu kam noch ein recht aufbrausendes Temperament. Wenn man sich jedoch den Mann jetzt ansah, hätte man das nie geglaubt. Jetzt war er einfach nur glücklich, und daran war Amy Malory schuld.
Reggie wurde es unbehaglich zumute, als sie fest-stellte, daß Derek ihren Mann mit ihren Onkeln allein gelassen hatte. Für gewöhnlich ärgerte sich Nicholas immer, wenn er mit den beiden redete, weil er die Wortgefechte mit Onkel James ständig verlor.
Sie wollte ihn gerade retten, als er von sich aus wegging und dabei lächelte.
Auch sie lächelte. So sehr sie ihre beiden jüngsten Onkel liebte, ihren Mann liebte sie noch mehr. Und wenn er gerade aus einem der zahlreichen Wortduelle als Sieger hervorgegangen war, so freute sie sich für ihn. Allerdings gab ihm der Anlaß für dieses Familientreffen auch die nötige Munition, um James zu ärgern. Schließ-
lich konnte sich James unmöglich darüber freuen, daß ein weiterer seiner Hauptgegner gerade zum Familienmitglied avanciert war. Nein, darüber konnte er wirklich nicht froh sein.
»Hiermit ist es offiziell«, bemerkte Anthony Malory zu seinem Bruder, während sie beide das frischvermählte Paar betrachteten. »Jetzt gehört er wirklich zu unserer Familie. Dein Schwager war er natürlich immer schon, aber zumindest war er mit uns nicht verwandt – bis jetzt.«
»Schwäger kann man ignorieren. Meine George ignoriert dich ja auch ganz hervorragend, oder?«
Anthony schmunzelte. »Das liebe Mädchen mag mich recht gern, und das weißt du auch.«
James schnaubte: »Ungefähr so gern, wie ich ihre Familie.«
Anthony grinste. »Wann hörst du endlich auf, dem Amerikaner die Schuld dafür zu geben, daß sie dich hängen wollten? Schließlich hast du das ganze Debakel verursacht.«
»Ich gebe ihm ja gar nicht die Schuld«, gestand James ihm zu. »Aber daß er gedroht hat, meine ganze Mannschaft mit mir zusammen zu hängen, hat ihm meinen ewigen Zorn eingetragen.«
»Ja, ich glaube, du hast recht«, nickte Anthony.
James war über zehn Jahre lang Kapitän auf der Maiden Anne gewesen, und in dieser Zeit war ihm die Mannschaft wie eine Familie ans Herz gewachsen – eigentlich war sie damals sogar seine einzige Familie gewesen, da ihn seine eigenen Angehörigen verstoßen hatten. Jetzt allerdings gehörte er wieder zum Malory-Clan, da er seine anstößige Laufbahn als Pirat vor ein paar Jahren aufgegeben hatte – damals, als ihm klargeworden war, daß er einen sechzehnjährigen Sohn hatte, der einen Vater brauchte.
»Glaubst du, er macht sie glücklich?« fragte Anthony, der immer noch zu dem jungen Paar hinüberschaute.
»Ich warte geduldig auf den Tag, an dem er es nicht mehr tut.«
Anthony lachte. »Ich gebe es ungerne zu, aber Nick hatte recht. Wir mögen unsere Nichten so sehr, daß uns in bezug auf ihre Ehemänner die Hände gebunden sind.«
»Ja, das muß wohl so sein«, seufzte James. »Obwohl ich gerne hinzufügen möchte ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‹. Das gibt einem ein bißchen mehr Spielraum.«
»Hmmm, in der Tat. Ich frage mich, ob der Yankee wohl weiter Boxunterricht nehmen will.«
»Ich hab’ selbst schon dran gedacht, ihn zu fragen.«
Anthony schmunzelte. In diesem Augenblick kam ein neuer Gast, und er zupfte seinen Bruder am Ärmel.
»Jetzt sieh dir das mal an. Frances ist tatsächlich gekommen.«
James’ Blick folgte dem seines Bruders zu der kleinen, schrecklich dünnen Frau, die auf der Schwelle stand.
»Überrascht dich das?« fragte er, fügte jedoch sofort hinzu: »Du lieber Himmel, das soll doch nicht etwa heißen, daß Jason und Frances immer noch nicht zu-sammenleben?«
»Glaubst du, der Zaun wäre geflickt worden, während du auf See warst?« Anthony schüttelte den Kopf. »Es ist eigentlich alles nur noch schlimmer geworden. Sie tun noch nicht mal mehr so als ob; und die Familie hat klugerweise aufgehört, Fragen zu stellen. Sie wohnt jetzt das ganze Jahr über in diesem Haus, das sie sich in Bath gekauft hat, und er ist die meiste Zeit draußen auf Haverston. Ich glaube sogar, daß es heute das erste Mal seit mehr als fünf Jahren ist, daß ich sie zusammen in einem Raum sehe.«
James schaute ihn abschätzig an. »Ich fand es schon immer dumm von Jason, sie zu heiraten.«
Anthony zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Ich hielt es eher für eine ziemlich noble Geste. Selbstauf-opferung und so, typisch für die Älteren.«
Mit den Älteren meinten die beiden jüngeren Malory-Brüder die beiden älteren Geschwister, da zwischen ihnen ein so großer Altersabstand herrschte. Anthony und James waren, wie Jason und Edward, jeweils nur ein Jahr auseinander, aber zwischen James und Edward lagen neun Jahre. Melissa, ihre einzige Schwester, die gestorben war, als ihre Tochter Regina erst zwei war, hatte in der Mitte gelegen.
»Die Kinder brauchten gar nicht so dringend eine Mutter; schließlich haben wir sie alle vier großgezogen.
Außerdem war ja Frances nie da, um ihnen die Mutter zu ersetzen.«
»Das ist richtig«, stimmte Anthony ihm zu. »Jasons Schuß ist nach hinten losgegangen. Er kann einem richtig leid tun, oder?«
»Leid tun? Jason?« schnaubte James. »Das halte ich für unwahrscheinlich.«
»Na, jetzt komm aber, alter Junge. Du hast ihn genauso gern wie ich. Er mag ja ein sturer, aufbrausender Tyrann sein, aber er meint es immer nur gut. Und sein Privatleben ist ein solches Desaster, er muß einem einfach leid tun – vor allem, wo wir beide doch die bezau-berndsten,
anbetungswürdigsten,
schönsten
Frauen der
Welt haben.«
»Nun ja, wenn du es so siehst, dann kann ich mir wahrscheinlich doch ein kleines bißchen Mitleid abringen.
Aber wenn du das diesem Holzkopf jemals verrätst ...«
»Keine Angst.« Anthony grinste. »Ros mag mein Gesicht so, wie es ist. Die Bekanntschaft mit deinen Fäusten wäre nicht besonders gesund für mich. Übrigens, was hat Derek dir denn eben ins Ohr geflüstert?«
James zuckte mit den Schultern. »Er sagte, er bräuchte irgendeinen Rat, aber hier sei nicht der geeignete Ort für ein Gespräch.«
»Glaubst du, er steckt in Schwierigkeiten?« spekulierte Anthony. »Es würde mich nicht überraschen, wenn er dir nachgerät.«
»Und Jeremy mit sich zieht«, murrte James.
Anthony feixte. »Das ist stark! Dein jugendlicher Sohn war immerhin schon mit sechzehn, wenn nicht sogar schon früher, mit deiner Mannschaft auf Frauenjagd.
Derek bringt ihm in dieser Hinsicht wenigstens die nötigen Umgangsformen bei.«
»Oder Jeremy lehrt ihn die falschen Umgangsformen –
verdammt noch mal, jetzt hast du mich schon so weit gebracht, daß ich Unsinn verzapfe. Es gibt keine falschen Umgangsformen bei der Jagd auf Frauen.«