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Derek war völlig außer sich. Seine Mutter lebte – und nicht nur das, sie war die ganzen Jahre auf Haverston gewesen. Und sie hatten es nicht für nötig gehalten, ihm reinen Wein einzuschenken! Sie hatten ihn in dem Glauben gelassen, Molly sei nur eine Bedienstete. Sie hatten ihn glauben lassen, seine Mutter sei tot.

Das war unverzeihlich. Jason hätte ihm etwas anderes erzählen können, wie zum Beispiel, daß seine Mutter davongelaufen sei, daß sie sich zu sehr geschämt und nicht gewollt habe, daß er erführe, wer sie sei; daß sie nichts mit dem Sohn, den sie geboren hatte, zu tun haben wollte. Alles andere wäre leichter zu ertragen gewesen als die Tatsache, daß sie die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen war und er nichts davon gewußt hatte.

Er machte sich auf die Suche nach seinem Vater, obwohl er sich wahrscheinlich erst einmal hätte beruhigen müssen. Kelsey hatte ihm letzteres vorgeschlagen und versucht, ihn davon abzuhalten, noch an diesem Abend nach Haverston zurückzukehren.

Aber er war zu aufgebracht, um Vernunft anzunehmen.

Und je mehr er darüber nachdachte, desto zorniger wurde er. Nein, er konnte sich nicht beruhigen, zumindest nicht, bis er ein paar Antworten erhalten hatte.

Er fand seinen Vater nicht in seinem Zimmer und auch sonst nirgendwo im Haupthaus. Entweder war er nicht da, oder er war bei Molly. Derek nahm letzteres an und begab sich in den Dienstbotenflügel.

Er brauchte nicht zu fragen, welches ihr Zimmer war. Als Kind war er häufig dort gewesen und hatte Molly alle seine Kümmernisse erzählt. Jetzt kam ihm das nur zu natürlich vor.

Und er hatte recht. Er hörte ihre Stimmen, noch bevor er klopfte. Die Stille danach war noch bezeichnender.

Molly kam an die Tür, offensichtlich überrascht. »Derek! Hat Kelsey dir gesagt, daß ich mit dir reden wollte?«

Er trat ins Zimmer. Jason war nicht da, und es gab auch keine Stelle in dem Zimmer, wo sich ein so großer Mann hätte verstecken können. Aber er hatte doch die Stimme seines Vaters gehört, das hatte er sich bestimmt nicht eingebildet.

Er blickte Molly an. »Nein, sollte sie mir das sagen?«

»Nun ja, eigentlich nicht«, entgegnete sie, wobei ihr auffiel, daß sein Gesichtsausdruck so angespannt war, daß etwas nicht stimmen konnte. Argwöhnisch fügte sie hinzu: »Was tust du dann hier so spät, Derek?«

Er antwortete nicht. Statt dessen rief er durchs Zimmer.

»Du kannst herauskommen, Vater! Ich weiß, daß du da bist.«

Molly keuchte auf. Einige Augenblicke vergingen, in denen Jason sich überlegte, ob er sich zu erkennen geben sollte oder nicht. Und dann öffnete sich eine Tapetentür, was Derek an die verborgene Tür in Ashfords Horrorkabinett erinnerte.

»Wie praktisch«, schnarrte Derek. »Ich nehme an, sie führt über einen Gang in dein Zimmer?« fragte er seinen Vater und erhielt ein knappes Nicken als Antwort.

»Nun, das erklärt, wie du es geschafft hast, diese Affäre so lange geheimzuhalten.«

»Ich nehme an, du bist ärgerlich, weil ich mit dem Mädchen geredet habe?« fragte Jason.

»Nein. Mir wäre es zwar lieber gewesen, du hättest sie in Ruhe gelassen, aber es hat mich nicht überrascht, daß du das Bedürfnis danach hattest.«

»Dann bist du ärgerlich, weil ich mit dir sprechen wollte?« fragte Molly.

»Überhaupt nicht.«

»Derek, ein Blinder kann sehen, daß du wütend bist«, bemerkte Jason.

»O ja, das bin ich«, erwiderte Derek kalt und beherrscht. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals so wü-

tend gewesen zu sein. Aber man findet ja auch nicht jeden Tag heraus, daß die Mutter, von der man glaubte, sie sei tot – durchaus am Leben ist!«

Jason seufzte, traurig und geschlagen. Molly wurde kreidebleich.

»Wie hast du es herausgefunden?« flüsterte sie.

»Kelsey ist die Ähnlichkeit aufgefallen, als du heute abend mit ihr gesprochen hast, und ihr hat niemand jemals gesagt, daß meine Mutter tot sei. Wahrscheinlich kann ein Außenseiter, der keinen von uns vorher gesehen hat, Ähnlichkeiten feststellen, die denen, die uns seit Jahren kennen, nicht auffallen.« Finster starrte er seinen Vater an. »Warum hast du es mir nie gesagt?«

Molly antwortete ihm an seiner Stelle. »Ich habe es nicht zugelassen.«

»Mach dir doch nichts vor, Molly . . oder sollte ich Mutter sagen? Niemand hält Jason Malory davon ab, das zu tun, was er für richtig hält.«

»Das sind Allgemeinplätze, Derek, aber hier ging es um etwas anderes. Dein Vater wollte dir die Wahrheit sagen, glaub mir. Selbst vor kurzem, als Frances drohte, dir alles zu erzählen, wenn er nicht in die Scheidung einwilligte, wollte er es dir sagen.«

»Frances wußte es?«

»Offensichtlich,

allerdings

weiß

der

Himmel,

wann

oder wie sie es herausbekommen hat. Aber ich habe ihn davon überzeugt, daß es jetzt zu spät sei, die ganze Geschichte zu erzählen.«

»Deshalb hast du also in die Scheidung eingewilligt?«

fragte Derek seinen Vater. »Weil Frances dich erpreßt hat? Und ich dachte, du würdest ihr aus Großzügigkeit die Freiheit schenken.«

Jason zuckte bei Dereks abschätzigem Tonfall zusammen. Molly dagegen verlor die Geduld.

»Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu sprechen?« fuhr sie ihn an. »Du weißt ja nicht, wie schwer es ihm gefallen ist, meine Identität vor dir geheimzuhalten. Und du hast auch keine Vorstellung davon, wie schwer mir der Entschluß gefallen ist, es sei das Beste –

für dich.«

»Das Beste?« fragte Derek ungläubig. »Du hast mir die Mutter vorenthalten. Warum zum Teufel hältst du das für das Beste für mich?«

»Glaubst du nicht, ich wäre dir gerne eine Mutter gewesen? Du warst mein ein und alles. Ich habe dich von dem Moment an, in dem ich dich empfangen habe, geliebt.«

»Warum dann also?«

»Derek, das war vor fünfundzwanzig Jahren. Ich war jung und ungebildet und redete wie eine Londoner Waschfrau. Damals wußte ich noch nicht, daß es auch für mich einen Weg nach oben gab. Und von dem Tag an, an dem dein Vater beschloß, dich zu seinem offiziellen Erben zu machen, hatte ich schreckliche Angst davor, daß der zukünftige Marquis of Haverston sich schämen würde, wenn er erführe, wenn jeder erführe, daß seine Mutter ein einfaches Stubenmädchen war, das noch nicht einmal lesen und schreiben konnte. Mein Sohn sollte ein Lord werden, ein Mitglied des Adels. Ich wollte nicht, daß er sich meiner schämte, und du hättest das sicher auch nicht gewollt.«

»Du hast also meine Gefühle auch gleich vorhergesehen?« sagte Derek und schüttelte den Kopf. Dann warf er seinem Vater einen anklagenden Blick zu. »Und du hast es zugelassen?«

Bevor Jason antworten konnte, warf Molly ein: »Ich kann sehr überzeugend sein, und mir lag sehr viel daran, daß du es nicht erfährst. Aber dein Vater hat mir hauptsächlich nachgegeben, weil er mich liebt. Außerdem, Derek, hattest du schon genug Probleme mit deiner Illegitimität. Ich wußte, daß es nicht einfach für dich werden würde, und das war es ja auch nicht. Aber zumindest wurde angenommen, daß von beiden Seiten blaues Blut in dir floß. Es wäre schlimmer gewesen, wenn bekannt geworden wäre, wer deine Mutter wirklich ist.«

»Ihr hättet es mir trotzdem sagen müssen. Ihr hättet es ja vor dem Rest der Welt geheimhalten können, wenn ihr das für richtig gehalten hättet, aber mir hättet ihr es sagen

können.

Außerdem

empfinde

ich

überhaupt

keine Scham, Molly, daß du meine Mutter bist. Deine Vermutung war eben nur eine Vermutung. Ich bin jedoch wütend, weil du mir nie eine Mutter gewesen bist, weil du mir all die Jahre nahe warst, ohne mich wissen zu lassen, daß ich dein Sohn bin. Du hast mich in dem Glauben gelassen, daß du niemand Wichtiges wärst. Du hast mich glauben lassen, meine Mutter wäre tot!«

Er konnte nicht weitersprechen. Er war zu aufgewühlt

– und dann sah er, daß ihr Tränen in die Augen traten.

Schnell verließ er das Zimmer, bevor er selbst anfing zu weinen.

Jason nahm Molly in die Arme. Sie klagte: »O mein Gott, was habe ich getan?« und brach dann wirklich in Tränen aus.

Er stellte sich dieselbe Frage, aber er konnte ihr nur sagen: »Jeder macht Fehler, wenn er jung ist, Molly.

Das waren eben unsere Fehler. Laß ihm Zeit, sich an die Wahrheit zu gewöhnen. Wenn er erst einmal da-rüber

nachgedacht

hat,

wirklich

nachgedacht

hat,

wird er merken, daß du ihm immer eine Mutter gewesen bist, daß du alle Sorgen und Kümmernisse seiner Kindheit mit ihm geteilt hast, daß du ihm geholfen hast, zu dem anständigen Menschen zu werden, der er heute ist.«