11
Als Kelsey am nächsten Morgen aufwachte und das Cottage noch in dem gleichen Zustand vorfand wie am Abend zuvor, wußte sie nicht, was sie denken sollte.
Offensichtlich
war
Derek
nicht zurückgekehrt,
oder
wenn er doch gekommen war, hatte er es nicht für nötig befunden, sie aufzuwecken. Offenbar war er auch nicht geblieben, denn er war nicht mehr da. Genausowenig wie die lebenswichtigen Dinge, die er ihr hatte besorgen wollen.
Sie grübelte stundenlang darüber nach und fragte sich, warum er wohl seine Pläne geändert haben mochte, aber es fiel ihr nichts ein. Sie konnte nur warten. Er hatte ihr gestern abend deutlich genug gesagt, daß er sie nicht in seinem Haus zu sehen wünschte, also konnte sie ihn noch nicht einmal suchen gehen, um herauszufinden, was passiert war.
Zumindest war der Korb, den Mrs. Hershal für sie hatte vorbereiten lassen und den sie gestern gar nicht gebraucht hatte, von irgend jemand ins Cottage gebracht worden. Sie hatte einen Bärenhunger. Als sie den Korb untersuchte, fand sie einen Teller mit Gebäck, eingeschlagen in ein Handtuch, ein Glas Marmelade und ein Messer, um sie zu verstreichen.
Die vier Gebäckstücke, die mittlerweile steinhart waren, hätten gestern für das verpaßte Frühstück vollkommen ausgereicht. Da sie jedoch auch kein Abendessen zu sich genommen hatte, beruhigten sie heute ihren Magen nur für ein paar Stunden und ließen sie wünschen, sie hätte länger geschlafen, statt beim ersten Tageslicht, das durch die vorhanglosen Fenster fiel, aufzuwachen.
Gegen Nachmittag war sie so außer sich, daß sie sich um Dereks Warnung, nur ja nicht aufzutauchen, nicht mehr kümmerte. Ihr war egal, was er ihr alles hatte schicken wollen; was sie jetzt brauchte, war etwas zu essen, und sie hatte keine Möglichkeit, sich etwas zu kaufen. Er hatte ihr weder Geld noch ein Transportmittel dagelassen. Wenn er nicht bald kam, geriet sie in ernsthafte Schwierigkeiten – einer Art, die sie am wenigsten erwartet hätte.
Aber er würde natürlich kommen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran. Die Frage war nur, wann. Er hatte zweifellos vergessen, daß im Cottage nichts zu essen vorhanden war, und da er jetzt am Nachmittag noch immer nicht erschienen war, zwang der Hunger sie, seine Warnung, das Haus nicht zu verlassen, zu ignorieren. Sie konnte nichts daran ändern. Sie mußte ihn einfach finden.
Als sie jedoch die Haustür öffnete, fand sie einen Brief.
Er steckte in der Türspalte und flatterte zu Boden, als sie die Tür aufmachte. Sie brach das Siegel auf, las, und stellte fest, daß er von ihm war.
Liebe Kelsey,
ein Bote meines Vaters stürzte sich auf mich, als ich ins Haus kam. Ich muß mich eiligst nach Haverston begeben, was bedeutet, daß ich eigentlich schon gestern hätte dort sein müssen. Ich wage es nicht, auch nur noch einen Augenblick zu warten, deshalb
schicke ich Dir diesen Brief.
Ich weiß nicht, worum es geht, aber wahrscheinlich bin ich in ein oder zwei Tagen wieder da. Wenn nicht, schicke ich Dir eine Nachricht. Aber es wird Dir an nichts fehlen, bis wir uns wiedersehen. Bis dann ...
Hochachtungsvoll
Derek
Ein oder zwei Tage lang sollte sie warten? Wo er offenbar so schnell aufgebrochen war, daß er vergessen hatte, für die Dinge zu sorgen, die sie brauchte, um das Cottage bewohnbar zu machen? Und wie lange würde es dauern, bis er merkte, daß er nichts für sie in die Wege geleitet hatte? Schließlich machte er sich ja Gedanken darüber, warum sein Vater ihn sehen wollte, und er würde sich ganz bestimmt nicht mit ihren Bedürfnissen beschäftigen: Es konnte Tage dauern ...
Das Ganze war so unglaublich! So gedankenlos! Und weil sie so hungrig war, verlor Kelsey vollends die Nerven und warf seinen Brief ins Feuer. Am liebsten hätte sie Derek Malory dort hineinbefördert.
Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie sein Haus gefunden hatte, das weit und breit das größte war. Es war nicht nur ein Landhaus, wie sie gedacht hatte, sondern ein ausgewachsener Landsitz, mit Ställen und Gutshö-
fen und zahlreichen Pächtern.
Sie fragte nach der Haushälterin und erklärte der Frau, Lord Malory habe ihr das Pächterhaus für die Ferien vermietet und habe versprochen, es würde eingerichtet und mit dem Nötigen ausgestattet werden; dem sei aber nicht so. Eine einfach zu regelnde Angelegenheit, so hoffe sie jedenfalls. Die Haushälterin jedoch fand es nicht so einfach.
»Ich habe nichts zu tun mit den Pächtern auf Lord Jasons ... eh, Lord Dereks Land, Mylady. Ich habe genug um die Ohren mit diesem großen alten Haus und den faulen Dienstmädchen hier. Lord Dereks Verwalter kümmert sich um die Pächter und hält sie bei Laune, und ich werde ihn bei Ihnen vorbei-schicken, wenn er Ende der Woche wiederkommt. Er wird sich sofort Ihrer Beschwerden annehmen, da bin ich sicher.«
»Sie verstehen mich nicht«, versuchte Kelsey zu er-klären. »Ich habe bereits für das Haus bezahlt und kein Geld bei mir, nur die paar Kleidungsstücke, die ich brauche, weil mir versichert wurde, daß Essen, Bettzeug und alles Notwendige vorhanden wären.«
Die Haushälterin runzelte die Stirn. »Zeigen Sie mir bitte Ihren Mietvertrag. Ich muß über alles in diesem Haus
hier
Rechenschaft
ablegen,
einschließlich
des
Essens und kann nicht einfach Nahrungsmittel an die Pächter Seiner Lordschaft weitergeben, ohne daß er es mir aufträgt, und das hat er nicht getan, als er gestern abend hier war.«
Es gab natürlich keinen Mietvertrag. Und der einzige Beweis, den Kelsey dafür hatte, daß sie Derek überhaupt kannte, war der Brief, den sie ins Feuer geworfen hatte.
So war sie gezwungen zu sagen: »Nun gut. Ich werde mir in Bridgewater Geld anweisen lassen, wenn Sie mir den Weg dorthin zeigen.«
»Sicher, Mylady«, erwiderte die Haushälterin nun wieder in einem umgänglichen Ton, da sie ja nichts mehr aus
ihrer
Speisekammer
herausrücken
mußte.
»Sie
brauchen nur die östliche Straße entlangzugehen.« Und sie wies ihr die Richtung.
Kelsey steckte in der Klemme. Wenn sie nicht gelogen und gesagt hätte, sie habe das Haus gemietet, dann hätte
sie
vielleicht
die
Hilfe
bekommen,
die
sie
brauchte. Sie hatte jedoch versucht, ihre Beziehung zu Derek geheimzuhalten, wie er es gewollt hatte, und das war
nun
dabei
herausgekommen:
eine
mißtrauische
Haushälterin, die ihr noch nicht einmal Tee und Kekse angeboten hatte.
Noch niedergeschlagener und hungriger als vorher ging sie zu ihrem Cottage zurück. Natürlich hatte sie überhaupt keine Möglichkeit, an Geld zu kommen. Sie sah es geradezu vor sich, wie sie als Derek Malorys Mätresse um ein Darlehen bat. Der Bankier würde sie auslachen und hinauswerfen.
Allerdings hatte sie ein paar Dinge, die sie in der Stadt veräußern konnte, um sich wenigstens jetzt etwas zu essen zu kaufen. Sie besaß eine Taschenuhr, ein fein gearbeitetes Stück mit zwei eingelegten Diamanten, die ihre Eltern ihr zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Und dann hatte sie auch noch das entsetzliche rote Kleid. Zwar haßte sie den Gedanken, die Uhr hergeben zu müssen, aber sie hatte wirklich keine andere Wahl.
Also stopfte sie das Kleid in Mrs. Hershals Korb, in dem sie das Essen, das sie kaufen wollte, zurücktragen konnte, und machte sich auf den langen Weg in die Stadt. Das Cottage war zwar mehr als mangelhaft ausgestattet, aber es gab genug frisches Wasser aus der Pumpe in der Küche, und im Schuppen lag genug Brennholz, so daß sie es wenigstens warm hatte. Und sie besaß sogar einen Teller, von dem sie essen konnte, und ein Glas Marmelade.
Während
Kelsey
am
späten
Nachmittag
der
Stadt
zustrebte, begann sie sich etwas besser zu fühlen. Ein wenig besser. Die Spur von Optimismus, die in ihr aufkam, verflog jedoch wieder, als die Juweliere, die sie aufsuchte, kein Interesse am Ankauf der Uhr zeigten.
Es war schon fast dunkel, als sie schließlich den Versuch aufgab, die Uhr verkaufen zu wollen, und es statt dessen mit dem roten Kleid versuchte.
Die Schneiderin, eine Mrs. Lafleur, wollte gerade ihr Geschäft schließen, als Kelsey hereinkam, das rote Kleid aus dem Korb zog und ihr vorlegte. Als sie ihr jedoch erklärte, sie wolle es verkaufen, hätte man meinen können, sie habe die Frau beleidigt.
»In meinem Geschäft?« rief die Frau aus und beäugte das Kleid, als habe Kelsey ihr eine Schlange auf den Ladentisch gelegt. »Ich arbeite nicht für eine solche Kund-schaft, und habe es auch nicht vor.«
»Verzeihen Sie«, erwiderte Kelsey gepreßt, »wissen Sie denn vielleicht jemanden, bei dem das der Fall ist?«
»Höchst
unwahrscheinlich«,
schnaubte
Mrs.
Lafleur.
»Ich könnte Ihnen ein paar Pfennige für die Spitze geben
– wenn Sie sie abtrennen, ohne sie zu beschädigen. Ich selbst habe nicht die Zeit dazu. Meine Aushilfe ist weg, und Lady Ellen hat bei mir eine neue Garderobe für ihre Tochter bestellt, die ich nächste Woche ausliefern muß.
Sie ist meine beste Kundin, und wenn ich nicht rechtzeitig fertig werde, verliere ich sie.«
Kelsey hatte nicht vorgehabt, sich anzuhören, in welchen Schwierigkeiten die Frau steckte; sie hatte schließ-
lich selbst genug Sorgen. Aber jetzt kam ihr eine Idee.
Sie schlug vor: »Kaufen Sie mir das Kleid für fünf Pfund ab, und ich helfe Ihnen bei Lady Ellens Bestellung – gegen weitere Bezahlung natürlich.«
»Fünf Pfund! Und dabei kann ich nur die Spitze brauchen! Ein Pfund für die Spitze, und sie helfen mir bei drei Kleidern, die noch fertiggestellt werden müssen –
ohne zusätzliche Bezahlung natürlich.«
»Ein Pfund für die Spitze, und weitere zehn Pfund für zwei Kleider«, entgegnete Kelsey.
»Zehn Pfund für zwei Kleider?« spuckte die Frau, wobei ihr bereits fleckiges Gesicht womöglich noch röter wurde. »Soviel bezahle ich ja noch nicht mal für die Arbeit eines ganzen Monats!«
Kelsey rieb den Ärmel ihrer Jacke. »Ich weiß zufällig, wie teuer Kleidung von guter Qualität ist, Mrs. Lafleur.
Wenn Sie Ihren Aushilfen nicht soviel im Monat zahlen könnten, dann würden Sie sie ausbeuten.«
Unglücklicherweise
knurrte
in
diesem
Moment
Kelseys Magen ziemlich laut. Als Mrs. Lafleur das hörte, warf sie Kelsey einen Blick zu, bei dem diese augenblicklich wußte, daß die Frau nun wieder die Oberhand hatte.
Wieder mußte sie ihren Ton ändern und seufzte: »Nun gut, zehn Pfund für die Fertigstellung von drei Kleidern
– und im übrigen sind meine Nähkünste exzellent.«
Als Kelsey endlich mit den Verhandlungen zu einem Ende gekommen war, dunkelte es draußen bereits.
Aber sie hatte eine Pfundnote in der Hand, und das Versprechen, weitere vier zu erhalten, wenn sie die fünf Kleider fertiggestellt hatte, die sich jetzt mit Scheren, Nadeln und Garn in ihrem Korb befanden. Zumindest war Lady Ellens Tochter noch unter zehn Jahren, so daß wenigstens keine großen Stoffmassen zu bewältigen waren.
Leider hatte um diese Stunde kein einziger Lebensmit-telladen mehr geöffnet, so daß sie gezwungen war, in einem Gasthaus zu essen, was sie dreimal soviel kostete, wie sie veranschlagt hatte. Ein paar Münzen waren ihr jedoch noch geblieben, so daß sie wenigstens am nächsten Tag noch einige Lebensmittel zum normalen Preis würde kaufen können. Sie mußte allerdings auch Kerzen besorgen, damit sie nachts an den Kleidern arbeiten konnte. Und wenigstens einen anständigen Kochtopf, und etwas Seife, und ..
Es war in keiner Beziehung ein angenehmer Tag gewesen. Ironischerweise befand sie sich nun in der Lage, die sie durch ihren Entschluß hatte vermeiden wollen, aber wenigstens hatte sie erreicht, daß ihre Familie vor dem Ruin bewahrt worden war.
Als sie ins Cottage zurückkam, in dem es jetzt eiskalt war, hatte sie einen Schnupfen. Aber zumindest war ihr Magen gefüllt. Und sie hatte die Aussicht auf mehr Geld, wenn sie erst einmal mit der Arbeit fertig geworden war.
Sie würde überleben – und zumindest noch genug Kräfte haben, um Derek Malory umzubringen, wenn er zurückkam.