30
»Ich weiß jetzt, warum mein Vater ein Familientreffen einberufen hat«, sagte Derek, als er den Salon betrat.
Kelsey hatte in einem Polstersessel am Fenster gesessen und genäht. Jetzt stopfte sie ihre Näharbeit rasch in eine Ecke des Sessels und blickte ihm entgegen. Sie wirkte etwas erhitzt, ihre Stimme war jedoch ruhig wie immer.
»Ich wußte gar nicht, daß ein Treffen einberufen wurde.
Hätte ich es wissen sollen?«
»Richtig, du hast ja gestern abend mit den Frauen das Zimmer verlassen, bevor das Thema aufkam.«
Sie runzelte sofort die Stirn. »Laß uns darüber bitte nicht mehr reden, wenn es dir nichts ausmacht.«
Er zuckte zusammen. Am Abend zuvor, auf der Heimfahrt, war sie mehr als nur ein bißchen ungehalten gewesen. Sie war vollkommen außer sich, daß er sie in eine Situation gebracht hatte, in der sie lügen und andere täuschen mußte.
Vor allem ein Satz hatte sich ihm eingeprägt. »Wenn du dich meiner offensichtlich so sehr schämst, daß du es nötig hast, mich zu einer Witwe oder irgend jemandes Cousine zu machen, dann nimm mich bitte nirgendwo-hin mit, wo du mich vorstellen mußt.«
Ironischerweise
schämte
er
sich
ihrer
keineswegs,
er war eher stolz darauf, mit ihr gesehen zu werden.
Und nach einigem Nachdenken war ihm klargeworden, daß er sich gar nicht bemüht hatte, eine Ausrede zu finden, um nicht zu Reggies Abendeinladung gehen zu müssen, weil er wahrscheinlich wollte, daß seine Familie sie kennenlernte. Und das war so absurd, daß man besser gar nicht darüber nachdachte. Nein, er schämte sich ihrer keineswegs. Trotzdem war ihre Beziehung zu ihm schandbar und mußte verborgen werden. Leider gab es keine Möglichkeit, darum herum-zukommen.
»War es so schwer, mit meinen Verwandten umzugehen?« fragte er.
»Deine Familie ist sehr nett, zumindest die Frauen. Was deine Onkel betrifft, so sind sie ziemlich seltsam; offenbar lieben sie es, sich zu streiten und zu zanken, aber das macht mir nichts aus. Es geht darum, daß sie getäuscht worden sind, und das hätte nicht sein dürfen.
Du weißt sehr gut, daß du mich keinesfalls dorthin hättest mitnehmen sollen.«
Er wußte es. Aber jetzt war es einmal geschehen und konnte nicht ungeschehen gemacht werden.
Und da sie schon einmal dabei waren, sagte er ihr auch gleich:
»Meine Onkel wissen Bescheid.«
»Was wissen Sie?«
»Daß du meine Mätresse bist.«
»Du hast es ihnen erzählt? « schrie sie entsetzt.
»Nein, beide haben es von sich aus gemerkt. Sie hatten selbst zahllose Mätressen, weißt du – natürlich, bevor sie verheiratet waren. Trotzdem war es mein Fehler, weil ich dich offensichtlich gestern abend so angesehen habe, daß sie es merkten.«
»Und wie hast du mich angesehen?«
»Ziemlich … intim.«
»Und warum hast du das gemacht?«
»Ich wußte es ja gar nicht, bis sie mich darauf hingewiesen haben«, erklärte er.
Sie war rot geworden. Und er reagierte darauf wie immer, sein Körper reagierte augenblicklich auf ihre süße Unschuld.
Er trat einen Schritt auf sie zu, hielt jedoch dann inne und fuhr sich, verärgert über sich selbst, mit der Hand durch seine blonden Haare.
Schon wieder hatte er eine seiner eigenen Regeln gebrochen, indem er noch vor der Mittagszeit zu ihr gegangen war.
Er hatte an diesem Morgen verblüffende Neuigkeiten erfahren, und obwohl es sie eigentlich nichts anging, hatte er sie ihr mitteilen wollen. Aber auf keinen Fall konnte et jetzt mit ihr schlafen. Sie würde ganz bestimmt nicht darauf gefaßt sein.
Eine Mätresse besuchte man im Dunkeln, in den geheimen Stunden der Nacht. Er hatte sich schon immer gestattet, früher zu kommen, damit er mit ihr zu Abend essen konnte.
Wenn er weiterhin solche Zugeständnisse machte, konnte er gleich bei ihr einziehen und die ganze Zeit mit ihr verbringen.
Was für ein unglaublich verführerischer Gedanke. Jeden Morgen mit ihr aufzuwachen. Mit ihr zu frühstücken.
Ihr sofort alles erzählen zu können, was ihm gerade durch den Kopf ging, statt es aufzuheben, bis er sie wieder sah. Sie zu lieben, wenn ihm danach war, und nicht nur zu Zeiten, die als angemessen erachtet wurden.
Er schob den Gedanken beiseite, weil er bei weitem zu verführerisch war. Was zum Teufel ging in ihm vor? Ursprünglich hatte er noch nicht einmal eine Mätresse haben wollen. Inzwischen mochte er ja seine Einstel-lung geändert haben, es gefiel ihm, daß er Kelsey hatte, aber trotzdem . .
»Du erwähntest ein Treffen?« brach sie das Schweigen.
»Mein Vater läßt sich scheiden.«
»Wie bitte?«
»Darum ging es bei dem Treffen«, erklärte er und wurde rot, weil er die Neuigkeit so hervorgesprudelt hatte. »Er wollte es uns mitteilen.«
Ihre sanften grauen Augen waren voller Mitgefühl, und sie stand aus dem Sessel auf, um ihn zu umarmen.
»Deine Mutter ist wahrscheinlich vollkommen niedergeschmettert.«
»Eigentlich ...«
»Und dir geht es wahrscheinlich nicht anders.«
Sie versuchte, ihn zu trösten, und eigentlich gefiel ihm das sehr gut, jedenfalls genoß er es eine Zeitlang und gestand dann: »Nein, so ist es überhaupt nicht. Sie ist meine Stiefmutter, verstehst du, und obwohl ich sie recht gern mag, war sie eigentlich nicht oft genug da, als daß ich eine Beziehung zu ihr hätte aufbauen können.
Außerdem möchte sie die Scheidung.«
»Dann ist dein Vater .. «
»Nein, nein, Liebes, niemand ist niedergeschmettert, wirklich nicht – nun ja, vielleicht mit Ausnahme meines Onkels Edward«, fügte er hinzu und verzog leicht das Gesicht. »Er setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um meinem Vater die Scheidung auszureden, aber das klappt bei Jason Malory nicht, wenn er erst einmal einen Entschluß gefaßt hat.«
»Wieso hatte dein Onkel Einwände?«
»Wahrscheinlich, weil es einen Skandal geben wird.«
»Aber du hast doch gesagt, dein Vater verabscheue Skandale.«
»Das tut er auch, aber in diesem Fall macht er eine Ausnahme, um Frances ihre Freiheit wiederzugeben. Sie haben nie eine normale Ehe geführt, weißt du. Er hat sie nur geheiratet, um Reggie und mir eine Mutter zu geben. Das hat allerdings nicht so funktioniert, wie er es sich gedacht hat. Wie ich schon sagte, sie war nicht oft zu Hause.«
»Warum nicht?«
»Nun ja, sie kränkelt ein wenig«, erklärte er. »Deshalb fuhr sie oft zur Kur nach Bath, bis sie sich schließlich dort ein Cottage kaufte und praktisch das ganze Jahr über in Bath lebte.«
Kelsey seufzte und legte ihren Kopf an seine Brust.
»Die Leute sollten nur aus Liebe heiraten.«
»Das wäre ideal, aber viele tun es eben nicht.«
»Ich bin jedenfalls froh, daß dich das Ganze nicht so sehr mitnimmt.«
»Und wenn es so wäre?«
»Dann würde ich natürlich versuchen, dir darüber hin-wegzuhelfen«, erwiderte sie.
»Warum?« fragte er leise.
Sie sah überrascht zu ihm auf. »Weil es meine Pflicht als Mätresse wäre, oder etwa nicht?«
Er wäre beinahe in Lachen ausgebrochen. Das wäre die Pflicht
einer
Ehefrau
gewesen
–
aber
die
einer
Mätresse? Eine Mätresse konnte sich wohl Gedanken darüber machen, ob ihr Beschützer ärgerlich war oder nicht, aber es brauchte sie eigentlich nicht zu kümmern, ob er nun glücklich oder traurig war, solange es nicht direkt mit ihr zu tun hatte.
»Das wäre sehr großzügig von dir, Liebes«, sagte er und umfaßte ihr Gesicht mit den Händen. Daß sie sich nun schon seit fünf Minuten an ihn schmiegte, hatte einiges bei ihm bewirkt. »Vielleicht könnte ich trotzdem ein wenig Unterstützung gebrauchen.«
Da er sie umarmt hatte und sich jetzt zur Tür wandte, fragte sie: »Du gehst doch nicht etwa ins Schlafzimmer?«
»Doch.«
»Diese Art von Hilfe habe ich nicht gemeint«, wies sie ihn zurecht.
»Ich weiß, aber ich brauche sie im Moment, und es ist mir
absolut
egal,
welche
Tageszeit
jetzt
ist.«
Er sagte das mit solcher Entschlossenheit, daß sie blinzelte. »Nun ja, mir eigentlich auch.«
»Macht es dir wirklich nichts aus?«
»Nein, warum sollte es?«
»Du hast ganz recht, meine Liebe«, entgegnete er und grinste dabei über das ganze Gesicht.