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So schlimm war dieses Haus gar nicht, in dem sie versteigert werden sollte. Zumindest war es sauber. Und es wirkte recht elegant. Der Salon, in den man sie zuerst geführt hatte, wäre auch im Haus eines der Freunde ihrer Familie am Platz gewesen. Es war ein teures Haus in einer der besseren Gegenden Londons. Man bezeichnete es höflich als Haus des Eros. Aber es war ein Ort der Sünde.

Kelsey Langton konnte immer noch nicht fassen, daß sie hier war. Seitdem sie das Haus betreten hatte, war ihr schlecht gewesen vor Angst und Entsetzen. Sie war jedoch freiwillig hierhergekommen. Niemand hatte sie schreiend und um sich tretend hereingeschleppt.

Das war das Unglaubliche daran: Man hatte sie nicht gezwungen, hierherzukommen, sondern sie hatte eingewilligt – zumindest hatte sie eingesehen, daß es die einzige Möglichkeit war. Ihre Familie brauchte Geld –

viel Geld –, damit sie nicht auf der Straße saß.

Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätte. Selbst eine Ehe mit jemandem, den sie nicht kannte, wäre vorzuziehen gewesen. Aber ihr Onkel Elliott hatte wahrscheinlich recht. Er hatte sie darauf hingewiesen, daß kein Gentleman mit dem nötigen Vermögen eine Heirat innerhalb weniger Tage in Betracht ziehen würde, auch nicht, wenn er eine Sondererlaubnis bekäme. Eine Ehe war einfach zu dauerhaft, um sich ohne sorgfältige Überlegung hineinzustürzen.

Aber dies hier ... nun ja, Gentlemen leisteten sich häufig neue Mätressen aus einer Laune heraus, wobei sie durchaus wußten, daß diese Mätressen sie genauso teuer zu stehen kamen wie eine Ehefrau, wenn nicht sogar teurer. Der große Unterschied dabei bestand darin, daß man eine Mätresse genauso leicht wieder loswurde, wie man mit ihr handelseinig geworden war, ohne die langwierigen Formalitäten und den daraus folgenden Skandal.

Sie würde die Mätresse eines Mannes werden. Nicht seine Ehefrau. Allerdings kannte Kelsey auch gar keine Herren,

die

sie

hätte

heiraten

können,

zumindest

kannte sie niemanden, der es sich hätte leisten können, Onkel Elliotts Schulden zu begleichen. In Kettering, wo sie vor der Tragödie aufgewachsen war, hatten ihr einige junge Männer den Hof gemacht, aber der einzige Vermögende hatte eine entfernte Cousine geheiratet.

Alles war so überraschend gekommen. Letzte Nacht war sie, wie jede Nacht bevor sie zu Bett ging, in die Küche gegangen, um sich etwas Milch warm zu machen, damit sie einschlafen konnte. Sie litt unter Schlaf-losigkeit, seit sie und ihre Schwester Jean in das Haus ihrer Tante Elizabeth gezogen waren.

Ihre Schlafprobleme hatten nichts mit dem Leben in einem neuen Haus und einer neuen Stadt, und auch nichts mit Tante Elizabeth zu tun. Ihre Tante war eine liebe Frau, die einzige Schwester ihrer Mutter, und sie liebte ihre beiden Nichten, als seien es ihre eigenen Töchter. Sie hatte beide mit offenen Armen aufgenommen und ihnen all die Zuneigung geschenkt, die sie nach der Tragödie so sehr gebraucht hatten. Nein, es waren Alpträume, die Kelseys Schlaf störten, die lebhaften Er-innerungen und der immer wiederkehrende Gedanke, daß sie die Tragödie hätte verhindern können.

Tante Elizabeth hatte die warme Milch vor Monaten vorgeschlagen, als ihr endlich die dunklen Schatten unter Kelseys grauen Augen aufgefallen waren und sie ihre Nichte vorsichtig nach dem Grund gefragt hatte.

Und die Milch half auch – in den meisten Nächten. Es war ein nächtliches Ritual geworden, und normalerweise störte sie niemanden, da die Küche um diese Uhr-zeit immer leer war. Bis auf letzte Nacht ...

Letzte Nacht war Onkel Elliott dagewesen. Er saß an einem der Tische und hatte keine späte Mahlzeit vor sich

stehen,

sondern

eine

ziemlich

große

Flasche

Schnaps. Kelsey hatte ihn noch nie mehr trinken sehen als das eine Glas Wein, das Tante Elizabeth zum Abendessen gestattete.

Elizabeth war dem Trinken abgeneigt und hatte natürlich keinen Schnaps im Haus. Aber wo auch immer Onkel Elliott diese Flasche herhaben mochte, er hatte sie auf jeden Fall schon halb geleert. Und sie hatte eine er-schreckende Wirkung auf ihn. Er weinte. Er schluchzte leise vor sich hin, den Kopf in die Hände gestützt, während die Tränen auf den Tisch tropften, und seine Schultern bebten mitleidserregend. Kelseys erster Gedanke war gewesen, daß sie verstand, warum Elizabeth keine starken Getränke im Haus haben wollte ..

Sie mußte jedoch feststellen, daß nicht das Trinken Elliott so fertigmachte. Nein, er hatte sich mit dem Rücken zur Tür in die Küche gesetzt, weil er annahm, dort würde ihn niemand stören, wenn er sich umbrachte.

Im nachhinein hatte sich Kelsey gefragt, ob er wirklich den Mut gehabt hätte, es zu tun, wenn sie leise wieder hinausgegangen wäre. Er war ihr nie als übermäßig mutiger Mann erschienen, höchstens als gesellig und freundlich. Und schließlich hatte ihre Anwesenheit ihn auf die Lösung seiner Probleme gebracht, eine Lösung, die er sonst nie in Erwägung gezogen, und an die sie ganz bestimmt nie gedacht hätte.

Und dabei hatte sie ihn nur gefragt: »Onkel Elliott, was ist passiert?«

Er war herumgefahren, und sie hatte in ihrem hochge-schlossenen Nachthemd und ihrem Morgenmantel hinter ihm gestanden, in der Hand die Lampe, die sie immer mit hinunterbrachte. Einen Augenblick lang hatte er sie entsetzt angesehen. Aber dann hatte er den Kopf wieder in die Hände sinken lassen und etwas gemurmelt, das sie nicht verstehen konnte, so daß sie ihn bitten mußte, es noch einmal zu wiederholen.

Er hatte den Kopf wieder gehoben und gesagt: »Geh weg, Kelsey, du solltest mich nicht so sehen.«

»Ist schon in Ordnung, wirklich«, hatte sie freundlich geantwortet, »aber vielleicht sollte ich Tante Elizabeth holen?«

»Nein!« war es so heftig aus ihm herausgebrochen, daß sie zusammengezuckt war, und dann fügte er leiser, aber immer noch erregt, hinzu: »Sie schätzt es nicht, wenn ich trinke ... und ... und sie weiß es nicht.«

»Weiß sie nicht, daß du trinkst?«

Er antwortete nicht sofort, aber das mußte er wohl gemeint haben. Die Familie hatte immer schon gewußt, daß er bis zum Äußersten gehen würde, um unangenehme Dinge von Elizabeth fernzuhalten, auch solche, die er selbst verschuldet hatte.

Elliott war ein schwerer Mann mit groben Gesichtszü-

gen; seine Haare wurden nun, da er auf die Fünfzig zuging, fast überall schon grau. Er hatte nie besonders gut ausgesehen, auch nicht in jüngeren Jahren, aber Elizabeth, die hübschere der beiden Schwestern, die auch heute, mit zweiundvierzig, immer noch schön war, hatte ihn trotzdem geheiratet. Soweit Kelsey wußte, liebte sie ihn immer noch.

Sie hatten in den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe keine Kinder bekommen, und das war möglicherweise der Grund, warum Elizabeth ihre Nichten so zärtlich liebte. Mama hatte Vater gegenüber einmal erwähnt, daß es nicht daran gelegen habe, daß sie es nicht versucht hätten, sondern daß es einfach nicht sein sollte.

Natürlich war das nicht für Kelseys Ohren bestimmt gewesen. Mama hatte damals nicht gemerkt, daß sie in der Nähe war. Und im Lauf der Jahre hatte Kelsey noch andere Gespräche belauscht, zum Beispiel, wie verwirrt Mama darüber war, daß Elizabeth gerade Elliott geheiratet hatte, der so hausbacken war und kein nennens-wertes Vermögen besaß, wo sie doch so viele andere gutaussehende, reiche Verehrer gehabt hatte, unter denen sie ihre Wahl hätte treffen können. Und außerdem war Elliott Kaufmann.

Aber das war Elizabeths Sache, und vielleicht hatte bei ihrer Wahl auch eine Rolle gespielt, daß sie schon immer ihrer Schwäche für die vom Glück weniger Begünstigten nachgegeben hatte. Außerdem pflegte Mama zu sagen, daß Liebe und ihr seltsames Wirken nicht vorhersehbar wären, daß sie nicht Logik oder dem Willen unterworfen wären, und daß das auch nie so sein würde.

»Sie weiß nicht, daß wir ruiniert sind.«

Kelsey blinzelte verständnislos, es war schon so viel Zeit vergangen, seit sie ihre Frage gestellt hatte. Und diese Antwort kam ganz unerwartet. Sie konnte ihr kaum Glauben schenken. Sein Trinken konnte doch wohl kaum der Grund für den gesellschaftlichen Ruin sein, wo so viele Männer – und auch Frauen – bei Festen über jedes Maß hinaus tranken. Deshalb beschloß sie, die Antwort mit Humor zu nehmen.

»Du hast also einen kleinen Skandal verursacht, was?«

neckte sie ihn.

»Einen Skandal?« Er hatte sie verwirrt angeblickt. »O

ja, natürlich wird es einen Skandal geben. Und Elizabeth wird es mir nie verzeihen, wenn sie uns das Haus wegnehmen.«

Kelsey hatte aufgekeucht, aber ein weiteres Mal eine falsche Schlußfolgerung gezogen. »Hast du alles verspielt?«

»Nein, warum sollte ich so etwas Dummes tun?

Glaubst du, ich möchte so enden wie dein Vater? Aber vielleicht hätte ich wirklich spielen sollen. Dann gäbe es zumindest eine winzige Chance auf Rettung, während uns jetzt niemand helfen kann.«

Sie war mittlerweile vollkommen durcheinander und verlegen gewesen. Die vergangenen Sünden ihres Vaters und die Erinnerung daran, was diese Sünden angerich-tet hatten, beschämten sie.

Deshalb hatte sie mit hochroten Wangen, die ihm wahrscheinlich gar nicht auffielen, gesagt: »Ich verstehe nicht, Onkel Elliott. Wer will uns denn das Haus wegnehmen? Und warum?«

Er ließ den Kopf wieder in die Hände sinken, weil er ihr vor lauter Scham nicht ins Gesicht sehen konnte, doch dann erzählte er leise und stockend die ganze Geschichte. Sie mußte sich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu verstehen, und dabei schlug ihr die ganze Zeit sein saurer Whiskyatem entgegen. Als er fertig war, hatte sie entsetzt und schweigend dagesessen.

Es war viel, viel schlimmer, als sie gedacht hatte, und es erinnerte sie in der Tat an die Tragödie ihrer Eltern, obwohl sie mit der Situation ganz anders umgegangen waren. Elliott allerdings besaß nicht die Charakterstärke, sein Versagen zu akzeptieren, dagegen aufzubegehren und von vorne anzufangen. Als Kelsey und Jean vor acht Monaten von Tante Elizabeth aufgenommen wurden, war Kelsey zu sehr in der Trauer um den Tod ihrer Eltern befangen gewesen, um irgend etwas anderes wahrzuneh-men. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, warum Onkel Elliott so viel zu Hause war. Wahrscheinlich hatten sie es nicht für nötig gehalten, ihren Nichten mitzuteilen, daß Elliott seine Stelle, die er zweiundzwanzig Jahre lang innegehabt hatte, verloren hatte und seitdem so durcheinander war, daß er auf keiner anderen Position besonders lange blieb. Und doch hatten sie so wei-tergelebt, als habe sich nichts geändert. Sie hatten sogar noch zwei weitere Personen in ihren Haushalt aufgenommen, die durchgebracht werden mußten, wo sie doch kaum genug für sich selbst hatten.

Kelsey fragte sich, ob Tante Elizabeth überhaupt das wahre Ausmaß ihrer Schulden kannte. Elliott hatte auf Pump gelebt, was für den Adel ganz normal war, allerdings war es ebenso normal, die Gläubiger zu bezahlen, bevor sie mit ihren Forderungen vor Gericht gingen.

Da jedoch kein Geld hereinkam, hatte Elliott schon alle seine Freunde angepumpt, um die Gläubiger in Schach zu halten. Und jetzt hatte er niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Die Situation war außer Kontrolle geraten.

Er würde Tante Elizabeths Haus verlieren, das Haus, das seit Generationen im Besitz von Kelseys Familie war. Tante Elizabeth hatte es geerbt, da sie die ältere Schwester war. Und die Gläubiger drohten es ihnen wegzunehmen. Sie hatten ihnen eine Frist von drei Tagen gesetzt.

Deshalb betrank sich Elliott bis zur Besinnungslosig-keit, in der Hoffnung, sich so viel Mut anzutrinken, daß er seinem Leben ein Ende setzen konnte; ihm fehlte die Energie, dem entgegenzutreten, was in den nächsten Tagen passieren würde. Es war seine Pflicht, für die Familie zu sorgen — zumindest für seine Frau —, und er hatte jämmerlich versagt.

Natürlich war auch Selbstmord keine Lösung. Kelsey wies ihn darauf hin, wieviel schlimmer es für Elizabeth wäre, wenn sie neben der Vertreibung von Haus und Hof auch noch eine Beerdigung überstehen müsse. Kelsey und Jean hatten bereits eine Vertreibung hinter sich gebracht. Aber sie konnten damals woandershin gehen.

Dieses Mal jedoch ... Kelsey durfte es einfach nicht zulassen. Sie war jetzt für ihre Schwester verantwortlich.

Sie mußte dafür sorgen, daß Jean ordentlich aufwuchs, mit einem richtigen Dach über dem Kopf. Selbst wenn das bedeutete, daß sie ..

Sie wußte nicht mehr genau, wer das Thema ihres Verkaufs eigentlich aufgebracht hatte. Elliott hatte als erster erwähnt, daß er schon einmal daran gedacht habe, sie an den aussichtsreichsten Bewerber zu verheiraten, aber er hatte schon so lange nicht mehr mit ihr über das Thema gesprochen, daß es nun zu spät war. Er hatte ihr auch erklärt, warum es zu spät war, da man etwas so Wichtiges ernsthaft bedenken müsse und nicht in ein paar Tagen erledigen könne.

Vielleicht hatte der Alkohol ihm die Zunge gelöst. Auf jeden Fall hatte er ihr erzählt, daß das gleiche vor vielen Jahren einem seiner Freunde passiert sei, daß er sein ganzes Vermögen verloren habe, seine Tochter jedoch die Familie gerettet hätte, indem sie sich an einen alten Wüstling verkaufte, der Jungfräulichkeit schätzte und bereit gewesen war, dafür außergewöhnlich viel Geld zu bezahlen.

Dann erzählte er ihr im gleichen Atemzug, daß er mit einem Gentleman, den er ziemlich gut kannte, gesprochen habe, um herauszufinden, ob dieser an einer jungen Frau interessiert wäre. Die Antwort war gewesen:

»Ich könnte das Mädchen nicht heiraten, aber ich brauche eine neue Mätresse, und ich würde dir ein paar Pfund dafür zahlen, wenn sie geneigt wäre ...«

So war es zu dem Gespräch über Mätressen statt Ehefrauen gekommen. Ein paar reiche Herren würden offensichtlich sehr gut für eine junge, frische Geliebte zahlen, die sie bei ihren Freunden vorzeigen könnten; vor allem für ein Mädchen, das noch nicht die Runde bei diesen Freunden gemacht hatte – und daß sie sogar noch mehr bezahlen würden, wenn sie unschuldig wäre.

Er hatte die Saat sorgfältig gelegt, hatte ihr die Lösung aufgezeigt, ohne sie direkt zu bitten, sich selbst zu opfern. Sie war völlig schockiert gewesen von dem Gerede über Geliebte, über die Situation und die Aus-wirkungen auf die Familie. Die Vorstellung machte sie ganz krank, aber alles wurde überdeckt von der ver-zweifelten Sorge um Jean und daß dies deren Chancen im Hinblick auf eine standesgemäße Heirat verderben konnte.

Kelsey wäre es vielleicht möglich gewesen, eine Stelle zu finden, allerdings kaum eine mit einem Verdienst, der sie weit über die Armutsgrenze hinausheben würde, vor allem, wenn die ganze Familie davon ernährt werden sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Tante Elizabeth arbeitete, und Elliott, nun ja, er hatte bereits deutlich bewiesen, daß man sich nicht darauf verlassen konnte, daß er es lange in einer Stellung aushielt.

Die Vorstellung, daß ihre kleine Schwester auf der Straße betteln müßte, hatte Kelsey schließlich dazu be-wogen, ihren Onkel, wenn auch in entsetztem Flüsterton, zu fragen: »Kennst du einen Mann, der bereit wäre ... genug zu zahlen, wenn ich ... wenn ich zu-stimmte, seine Mätresse zu werden?«

Elliott hatte sehr hoffnungsvoll und verdammt erleichtert dreingeblickt, obwohl er ihr antwortete: »Nein, ich kenne keinen. Aber ich kenne einen Ort in London, an dem die reichen Herren häufig verkehren, einen Ort, an dem du vorgestellt werden kannst, um ein hervorragendes Angebot zu bekommen.«

Sie hatte eine Zeitlang schweigend dagestanden und über

diese

schwerwiegende

Entscheidung

nachgedacht;

ihr war übel geworden bei dem Gedanken, daß dies tatsächlich ihre einzige Möglichkeit sein sollte. Elliott war der Schweiß ausgebrochen, bis sie endlich zustimmend genickt hatte.

Und dann hatte er versucht, sie zu trösten, als ob sie überhaupt zu trösten gewesen wäre. »Es wird nicht so schlimm werden, Kelsey, wirklich nicht. Eine Frau kann auf diese Weise ein Vermögen machen, wenn sie es klug anfängt, genug Geld verdienen, um unabhängig zu werden – oder sogar, um später noch zu heiraten, wenn sie es möchte.«

Das stimmte keineswegs, und sie beide wußten es. Ihre eigenen Chancen auf eine gute Heirat wären für immer vorbei. Das Stigma würde bis ans Ende ihrer Tage an ihr haften bleiben. In der eleganten Gesellschaft würde sie nie wieder willkommen sein. Aber dieses Kreuz mußte sie tragen. Zumindest ihre Schwester könnte dann auf die Zukunft hoffen, die sie verdiente.

Immer noch geschockt, weil sie zugestimmt hatte, schlug sie vor: »Ich überlasse es dir, Tante Elizabeth alles zu sagen.«

»Nein! Nein, sie darf das nicht wissen! Sie würde es niemals erlauben. Aber ich bin sicher, daß dir etwas Vernünftiges einfällt, um ihr deine Abwesenheit zu er-klären.«

Das sollte sie auch noch machen? Wo sie doch kaum an etwas anderes als den entsetzlichen Handel denken konnte, in den sie eingewilligt hatte?

Als sie ihn verließ, war sie beinahe selbst so weit, daß sie die Flasche Schnaps hätte leeren können. Trotzdem war ihr schnell eine fadenscheinige Entschuldigung eingefallen. Sie hatte Tante Elizabeth erzählt, daß Anne, eine ihrer Freundinnen aus Kettering, ihr geschrieben habe, sie sei ernsthaft krank, und die Ärzte gäben ihr nicht mehr viel Hoffnung. Kelsey müsse sie natürlich sofort besuchen und sie, so gut es ging, trösten. Und Onkel Elliott habe ihr angeboten, sie zu begleiten.

Elizabeth hatte nichts gemerkt. Kelseys Blässe führte sie auf die Sorge um die Freundin zurück. Und Jean hatte sie Gott sei Dank nicht wie üblich mit unzähligen Fragen gequält, weil sie sich gerade an den Namen dieser speziellen Freundin nicht erinnern konnte. Außerdem war Jean im vergangenen Jahr sehr viel reifer geworden. Eine Tragödie in der Familie unterbrach oft genug die Kindheit, beendete sie manchmal sogar. Kelsey wäre es fast lieber gewesen, wenn ihre zwölfjährige Schwester sie mit Hunderten von Fragen bestürmt hätte, die sonst immer ihre Geduld auf eine harte Probe stellten. Aber Jean trau-erte immer noch vergangenen Zeiten nach.

Und was wäre, wenn Kelsey von dem Besuch in Kettering gar nicht mehr zurückkehren könnte? Nun, darü-

ber wollte sie sich später Gedanken machen.

Würde sie ihre Tante Elizabeth oder ihre Schwester jemals wiedersehen? Würde sie es überhaupt wagen, ihnen unter die Augen zu treten, wenn sie die Wahrheit entdecken sollten? Sie wußte ganz genau, daß nichts für sie jemals wieder so sein würde wie vorher.