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Nach ihren schrecklichen Erlebnissen bei Lord Ashford hatte Kelsey fast vergessen, daß Tante Elizabeth und ihre Schwester in der Stadt waren und sie am nächsten Morgen erwarteten. Sie schickte eine Entschuldigung und verschob ihren Besuch um ein paar Tage.

Dieser

Besuch

würde

äußerst

anstrengend

werden.

Konnte sie weiter lügen und sogar neue Unwahrheiten erfinden?

Andererseits

vermißte

sie

die

beiden

so

schrecklich. Doch nach den Erlebnissen, die sie gerade hinter sich hatte, konnte sie im Moment keine neue Aufregung ertragen. Zudem wich Derek nicht von ihrer Seite, und es würde schwierig werden, Verwandte zu besuchen, von denen er nichts wußte.

Es dauerte fast eine ganze Woche und bedurfte all ihrer Überredungskunst, bis er endlich in seiner Wach-samkeit nachließ und wieder seinen alltäglichen Beschäftigungen nachging. Und selbst dann hörte er nicht auf, sie zu behüten und sie beinahe wie eine Schwer-kranke zu behandeln, bis sie sich einverstanden er-klärte, über den Vorfall zu sprechen. Wahrscheinlich dachte er, sie würde nie darüber hinwegkommen, wenn sie nicht offen darüber reden konnte.

Das mochte auch seine Berechtigung haben, denn anfangs war es nicht leicht, ihm alles zu erzählen, was ihr an diesem Tag widerfahren war. Es wurde jedoch mit jedem Wort leichter, und hinterher fühlte sie sich tatsächlich besser. Und auch er konnte Einzelheiten dazu beitragen, die sie nicht gewußt hatte.

So hatte sie nicht gewußt, daß sich der Verwalter den Hals gebrochen hatte. Als sie an seiner Leiche im Keller vorbeigekommen waren, hatte Derek ihr die Sicht ver-deckt.

Bei dem anderen Mann, der zusammengeschlagen und mit Henry im Stall eingesperrt worden war, handelte es sich um ihren Kutscher, wie sie jetzt erfuhr. Er würde wieder gesund werden. Weil er versucht hatte, ihr zu helfen, hatte Derek seinen Lohn beträchtlich erhöht.

Der Mann würde Kelsey wahrscheinlich ein Leben lang ergeben dienen.

Den armen Frauen hatten Dereks Onkel genug Geld gegeben, damit sie nicht wieder ihrer früheren Beschäftigung

nachgehen

mußten.

Sie

brauchten

überhaupt

nicht mehr zu arbeiten, wenn sie nicht wollten. Das hätten die Malory-Brüder nicht zu tun brauchen, und es war wirklich sehr großzügig von ihnen.

Es überraschte sie nicht im geringsten, als sie erfuhr, daß Lord Ashford völlig wahnsinnig geworden war; schließlich war er schon zuvor nahe daran gewesen. Es überraschte sie jedoch, wie es dazu gekommen war.

»Man hat ihn nach Bedlam gebracht, und er wird wahrscheinlich nie wieder herauskommen, da er jetzt völlig den Verstand verloren hat«, hatte Derek ihr ein paar Tage später erzählt. »Mein Onkel James hat diese Frauen auf ihn losgelassen, weißt du, und sie haben ihm heimgezahlt, was er ihnen angetan hat – und noch ein bißchen mehr.«

Kelsey erwähnte nicht, daß sie ihn wahrscheinlich zum Eunuchen gemacht hätte, wenn sie eine dieser Frauen gewesen wäre, und Derek erzählte ihr nicht, daß eine der Frauen dasselbe gedacht hatte.

Und dann kam der Morgen, an dem sie den Besuch bei ihrer Tante und ihrer Schwester nicht länger aufschieben konnte. Tatsächlich war es gefühlsmäßig so anstrengend, wie sie vermutet hatte. Am schwersten war es, Derek nicht zu erwähnen. Erstaunlicherweise wollte ihr der Name ständig über die Lippen kommen, und sie mußte sich jedesmal auf die Zunge beißen.

Zwar überstand sie den Besuch ohne größeres Mißgeschick, kam jedoch deprimiert nach Hause und blieb es auch den ganzen Tag über. Und unglücklicherweise bat Derek sie an diesem Abend, ihn zu heiraten.

Sie saßen beim Abendessen, und sie hatte gerade einen Schluck Rotwein genommen. Gott sei Dank war das Tischtuch dunkelblau, deshalb sah man den Fleck nicht allzusehr.

»Entschuldigung.« Derek grinste einfältig. »Ich wollte dich nicht so aus der Fassung bringen.«

Aus der Fassung bringen? Schock war hier wohl der richtigere Ausdruck.

»Darüber macht man keine Scherze«, wies sie ihn miß-

billigend zurecht.

»Darüber würde ich nie im Leben scherzen.«

»Aber du kannst es doch unmöglich ernst meinen!«

»Warum nicht?«

»Sei nicht albern, Derek. Du weißt warum. Ich bin deine Mätresse. Ein Mann in deiner Stellung heiratet seine Mätresse nicht. Das geht einfach nicht.«

»Es wird gehen, wenn ich es will.«

Das war so lächerlich ... so verbohrt, daß sie fast die Augen verdrehte. Das Thema regte sie jedoch zu sehr auf, um daran irgend etwas Erheiterndes zu finden.

Natürlich würde sie ihn furchtbar gern heiraten. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen. Aber sie wußte genausogut wie er, daß es unmöglich war. Und daß er dieses Thema trotzdem aufgebracht hatte, machte sie ärgerlich. Wie konnte er es wagen, sie so in Versuchung zu führen?

Es spielte überhaupt keine Rolle, daß sie gut zu ihm paßte, oder es zumindest getan hatte, bevor sie sich in

einem

übelbeleumdeten

Haus

in

einem

Raum

voller Londoner Lords verkaufen ließ. Daß sie verkauft worden war, machte sie für eine Ehe untaug-lich, auch wenn derjenige, der sie gekauft hatte, sie ihr anbot.

»Ich werde dich nicht heiraten, Derek«, sagte sie steif.

»Und ich danke dir auch nicht dafür, daß du mich gefragt hast.«

»Du willst mich nicht heiraten?«

»Das habe ich nicht gesagt, ich sagte, ich werde dich nicht heiraten. Ich will dir und deiner Familie keinen weiteren Skandal bescheren.«

»Kelsey, überlaß die Sorgen um meine Fam ...«

»Meine Antwort lautet nein, Derek, und daran wird sich nichts ändern. Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du heute nacht nicht hierbleiben würdest. Ich möchte gerne alleine sein.«

Er starrte sie ungläubig an. Sie wich ihm aus. Und sie war wütend. Er kannte die Anzeichen. Sie verbarg es gut, aber sie war verteufelt wütend auf ihn – weil er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten! Und dabei hatte er gedacht, sie würde erfreut reagieren, sogar entzückt –

zumindest hatte er geglaubt, daß sie sofort ja sagen würde.

Derek seufzte. Er hatte sich selbst noch nicht ganz an die Idee gewöhnt, hatte sich nur überlegt, daß er sie gerne heiraten wollte, und das, nachdem er die ganze Woche lang mit widerstreitenden Gefühlen gekämpft hatte. Der Gedanke war ihm gekommen, als ihm klar wurde, daß nach Lonnys Tod Kelsey nichts mehr bei ihm hielt als ihre Ehre. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben, daß Lonny sie zwingen würde, den Handel einzuhalten. Und sie kannte Derek mittlerweile so gut, daß sie wußte, er würde sie deswegen nicht bedrohen.

Sie konnte ihn jederzeit verlassen, wie eine ganz normale Mätresse. Es spielte keine Rolle mehr, daß er viel Geld für sie bezahlt hatte.

Und das versetzte ihn in eine gewisse Panik. Als er das merkte, suchte er nach einem Grund. Und die Antwort fiel ihm rasch ein: Er hatte sich ganz einfach in seine Mätresse verliebt.

Das war verdammt dumm, selbst er wußte das. Aber es war nun mal passiert. Er wußte, er brauchte sie nicht zu heiraten. Sie konnten sehr gut so weitermachen wie bisher – solange sie bereit war, bei ihm zu bleiben. Aber dieses »solange wie« gefiel ihm überhaupt nicht. Er wollte etwas von Dauer. Er wollte, daß sie in sein Haus zog. Er wollte, daß sie ihm Kinder schenkte. Er wollte sie nicht mehr verstecken.

Aber sie hatte nein gesagt. Und sie hatte gesagt, daran würde sich nichts ändern.

Bei Gott, es würde sich ändern – vielleicht nur nicht heute nacht.