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Es war ein Dilemma – nein, ein weiteres Dilemma –, dem sich Kelsey nicht gerade gerne gegenübersah.

Gräßliche Lügen. Wenn man einmal damit angefangen hatte, wurde es immer schlimmer, eins führte zum anderen, und sie hatte sich so darin verwickelt, daß sie keinen

Ausweg

mehr

sah.

Dieses

spezielle

Dilemma

konnte sie nicht verhindern. Sie hatte Regina eine Er-klärung versprochen.

Aber was für eine Erklärung sollte sie ihr geben? Die echte Wahrheit? Oder die Wahrheit, wie Derek sie kannte, und die ja schließlich auch nur aus Lügen bestand? Und sie hatte das Lügen so satt ...

Gegen drei Uhr nachmittags kam sie an dem Haus an der Park Lane an. Sie wurde schon erwartet und direkt in den oberen Salon geführt. Ein Mädchen brachte Tee.

Gleich hinter ihr betrat Reggie das Zimmer.

»Ich wollte mich dafür entschuldigen, daß ich heute früh so schnippisch war«, sagte Reggie sofort, nachdem das Mädchen gegangen war. »Ich war nur so überrascht und ... nun, ich glaube, Sie verstehen. Ganz bestimmt gibt es eine gute Erklärung für alles. Es würde mich noch nicht einmal überraschen, wenn Derek Sie gebeten hätte, ihn zu heiraten. Das würde natürlich ein ganz anderes Licht auf die Sache werfen. Ich meine, Nicholas und ich .. Nun, du meine Güte, ich rede und rede, und gebe Ihnen keine Chance, etwas zu sagen. Im übrigen, hier sind wir ungestört.«

Kelsey lächelte über den letzten Satz. Es war tatsächlich wichtig für sie, ungestört zu sein – zumindest, wenn sie reinen Tisch machen wollte. Und das wollte sie mehr als alles andere, wenigstens bei dieser speziellen Malory.

Aber sie würde es nur tun, wenn sie sich ganz sicher sein konnte.

Reggie setzte sich Kelsey gegenüber, schwieg nun und schenkte ihnen beiden Tee ein. Geduldig wartete sie darauf, daß Kelsey anfinge zu reden. Kelsey suchte noch nach den richtigen Worten. Es gab jedoch keine –

zumindest keine, die es leichter machten.

»Tatsächlich«, begann Kelsey schließlich, »hat Derek mich gebeten, ihn zu heiraten.«

Reggie strahlte glücklich. »Ich wußte . .«

»Aber ich werde ihn nicht heiraten und habe es ihm auch gesagt.«

Reggie blinzelte. »Warum’ nicht?«

»Wegen der Art, wie er mich kennengelernt hat. Sehen Sie, es war alles erlogen, was Ihnen über mich erzählt wurde. Aber Derek fiel damals nichts anderes ein. Er wußte nicht, daß wir beide uns schon vorher begegnet waren.«

»Was war gelogen?«

»Ich bin nicht Percys Cousine«, gab Kelsey zu. »Ich bin Dereks Geliebte.«

Reggie verdrehte die Augen und sagte trocken: »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Nein, ich war schon seine Mätresse, als ich Sie kennengelernt habe. Er kaufte mich in einem übelbeleumdeten Haus, in dem viele Lords, die er kannte, verkehr-ten. Deshalb werde ich ihn nicht heiraten. Eine solche Heirat würde einen riesigen Skandal auslösen.«

Reggie brauchte eine Weile, um das zu verdauen, aber dann sagte sie: »Skandale sind für meine Familie nichts Neues – aber was zum Teufel haben Sie in einem solchen Haus gemacht? Versuchen Sie bloß nicht, mir weiszumachen, Sie seien keine Lady und gehörten dorthin. Dann werfe ich Sie auf der Stelle hinaus.«

Kelsey riß die Augen auf, brach dann jedoch in Lachen aus. Das war gut, aber bestimmt nicht das, was sie erwartet hatte.

Sie lächelte immer noch, als sie antwortete: »Nein, ich werde

nicht

versuchen,

Ihnen

das

weiszumachen.

Eigentlich würde ich Ihnen gerne die Wahrheit er-zählen, aber das kann ich nicht – das heißt, nur wenn Sie mir versprechen, daß Sie es niemandem weitererzählen.

Nicht einmal Ihr Mann darf es erfahren, Reggie. Und Derek schon gar nicht. Wenn er es erfährt, besteht er darauf, mich zu heiraten, und ich liebe ihn viel zu sehr, um einen solchen Skandal heraufzubeschwören.«

»Aber Sie und Derek sind doch . . ich meine, nun, warum weiß er es denn nicht wenigstens?«

»Weil ich es ihm nicht erzählt habe, und das werde ich auch nicht tun. Er weiß nicht mehr über mich als die paar Lügen, die ich ihm aufgetischt habe. Als ich damals die Entscheidung traf, mußte ich eine Geschichte erfinden, um meine Familie vor dem Skandal zu bewahren, der unweigerlich entstanden wäre, wenn jemals jemand herausgefunden hätte, wer ich in Wirklichkeit bin. Derek glaubt, meine Mutter sei Gouvernante gewesen, und ich sei nur von den gleichen Lehrern wie ihre Schützlinge unterrichtet worden, und daß ich deshalb so vornehm spreche.«

»Der blöde Kerl«, schnaubte Reggie. »Hat er das wirklich geglaubt?«

»Warum sollte er nicht? Bedenken Sie doch, wo er mich gefunden hat«, verteidigte ihn Kelsey.

»Hm, nun ja«, gab Reggie zu. »Aber wie sieht denn nun eigentlich die Wahrheit aus?«

»Versprechen Sie absolutes Stillschweigen?«

»Ich darf es noch nicht einmal meinem Mann er-zählen?« wand sich Reggie. »Ich könnte ihn ja schwören lassen ...«

»Nicht einmal ihm.«

Reggie seufzte. »Ja, ich verspreche es.«

Kelsey

nickte,

nahm

jedoch

zunächst

noch

einen

Schluck von ihrem Tee, um zu überlegen, wo sie anfangen sollte. Vielleicht bei ihren Eltern.

»Mein Vater ist David Philipp Langton, der vierte Earl of Lancastle von Kettering.«

»Du meine Güte, war das nicht der Earl, der Anfang des Jahres erschossen wurde von .. ähm . .« Reggie hustete und schwieg errötend.

Kelsey beugte sich vor und tätschelte ihr die Hand. »Es ist schon in Ordnung. Mittlerweile weiß es ja offensichtlich jeder. Ja, meine Mutter hat ihn erschossen. Sie wollte ihn jedoch nicht töten. Sie war so wütend auf ihn, weil er nicht mit dem Spielen aufhören konnte. Er hatte gerade den Rest seines Erbes verloren, wissen Sie, sogar unser Haus, wegen eines dummen Kartenspiels.«

»Deshalb also?«

»Ja. Und meine Mutter war so entsetzt, daß sie ihn getötet hatte, anstatt ihn nur zu verwunden, wie sie vorgehabt hatte ... sie wollte ihn nur bestrafen . . Voller Entsetzen wich sie dann zurück und stürzte aus dem offenen Fensterflügel hinter ihr. Ich denke immer noch, ich hätte ihren und seinen Tod verhindern können, wenn ich schon eher nach oben gegangen wäre, als sie anfingen, sich anzuschreien.«

Jetzt war es an Reggie, ihr die Hand zu tätscheln. »Es ist fast unmöglich, einen Ehestreit zu schlichten. Die Streitenden achten auf nichts und niemanden.«

»Ich weiß.« Kelsey seufzte. »Meine Eltern stritten niemals vor den Dienstboten, doch zumindest sieben von ihnen standen draußen vor der angelehnten Tür, hörten begierig zu und hinderten mich daran, hineinzugehen.

Einer hielt mich sogar zurück und warnte mich davor, sie zu stören. Und dann fiel der Schuß ...«

»Das ist so tragisch – oh, meine Liebe, man hat es auch Die Tragödie genannt, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Kelsey, die bei dem Wort zusammengezuckt war. »Und das ganze Vermögen meiner Eltern war verloren. Der Bastard, der das Kartenspiel gewon-nen hatte, kam schon ein paar Tage nach der Beerdigung, um meine Schwester und mich aus dem Haus zu verjagen.«

»Bastard ist genau der richtige Ausdruck«, sagte Reggie zornig. »Wer war es? Ich würde ihm gern meinen Onkel James vorstellen.«

Kelsey lächelte schwach. »Ich wünschte, ich wüßte es.

Aber damals war ich zu geschockt, um mich an seinen Namen zu erinnern.«

»Sie Arme«, sagte Reggie mitfühlend. »Kein Wunder, daß Sie dann außer sich waren .. «

»Das war nicht deswegen, Reggie«, berichtigte Kelsey sie. »Wir hatten immer noch eine Verwandte, an die wir uns wenden konnten, die Schwester meiner Mutter, Elizabeth. Sie ist eine liebe, herzensgute Frau – Sie haben sie ja kennengelernt.«

»Du lieber Gott!« rief Reggie aus, als es ihr dämmerte.

»Das war also wirklich Ihre Tante in dem Hotel?«

»Ja, sie und meine Schwester sind in der Stadt, um Weihnachtseinkäufe zu machen – und sie wissen nicht, was ich getan habe. Ich mußte auch sie anlügen. Sie glauben, ich sei bei einer kranken Freundin hier in London.«

Reggie lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. »Jetzt haben Sie mich völlig verwirrt.«

»Es tut mir leid, ich hätte nicht abschweifen dürfen.

Nach dem Tod meiner Eltern zogen meine Schwester Jean und ich zu meiner Tante, und sie war froh, uns bei sich zu haben. Alles wäre gut gewesen, wenn der Mann meiner Tante, Elliott, ein bißchen mehr Charakter gehabt hätte.«

»Ein Schurke?«

»Nein, eher charakterschwach. Sie müssen wissen, daß er zwar aus einer guten Familie kommt, aber kein Vermögen besitzt. Selbst das Haus, in dem sie wohnten, hatte meiner Familie gehört. Meine Mutter hat nie verstanden, warum Elizabeth ihn heiratete, aber sie tat es eben, und ich möchte hinzufügen, daß sie in all den Jahren sehr glücklich mit ihm war – sie weiß auch gar nicht, was geschehen ist. Wir konnten es von ihr fernhalten.«

»Ist Ihr Onkel ebenfalls ein Spieler?«

»Das habe ich zunächst gedacht, als ich Elliott vor einer Flasche Schnaps sitzen sah. Er hatte wohl vor, Selbstmord zu begehen. Tatsächlich hat er immer für ihren Lebensunterhalt gearbeitet, wissen Sie, und er hatte jahrelang eine sehr gute Stelle. Aber dann verlor er sie.

Und das hat ihn so durcheinandergebracht, daß er seitdem nicht mehr in der Lage war, es in einer anderen Position lange auszuhalten. Wenn er ernsthaft versucht hätte, nach dem Mißerfolg weiterzumachen ... aber ich nehme an, er hat das Vertrauen in sich verloren.«

»Charakterschwach, wie Sie schon sagten«, schnaubte Reggie.

»Wahrscheinlich. Sie lebten jedoch weiter, als habe sich nichts geändert. Sie nahmen sogar meine Schwester und mich bei sich auf, obwohl sie es sich gar nicht leisten konnten. Die Schulden wuchsen. Es kam kein Geld herein, gespart hatten sie nichts, und sie konnten sich auch von niemandem etwas borgen. Diese Möglichkeiten hatten sie bereits ausgeschöpft. Schließlich kam es zu dem Punkt, an dem die Gläubiger in nur drei Tagen meiner Tante das Haus wegnehmen wollten, wenn Elliott nicht sofort seine Rechnungen bezahlte.«

Reggie seufzte. »Ich nehme an, Sie haben ihm den Selbstmord ausgeredet? Ich weiß nicht, ob ich das getan hätte.«

»Das hätte doch alles nur noch viel auswegloser gemacht — für meine Tante jedenfalls. Sie wußte nicht, wie schlimm es stand, und daß sie ihr Haus verlieren würde.

Wir wären alle auf der Straße gelandet, und hätten nirgendwo mehr hingehen können — und das in nur drei Tagen. Wenn Elliott nur schon früher etwas gesagt hätte, dann hätte ich mir einen reichen Ehemann suchen können. Aber drei Tage waren zu kurz.«

»Ja, dazu braucht man ein bißchen mehr Zeit«, stimmte Reggie zu. »Es sei denn, es hätte Ihnen schon jemand den Hof gemacht. Aber das war wahrscheinlich nicht der Fall?«

»Nein«, erwiderte Kelsey. »Ich war noch in Trauer und lebte jetzt außerdem in einer anderen Stadt, wo ich überhaupt noch keine heiratsfähigen Männer kennengelernt hatte. Außerdem bewegte sich Elliott kaum in den entsprechenden Adelskreisen. Er kannte auch keinen, der in Frage gekommen wäre. Es blieb auch nicht genug Zeit, eine Stelle für mich zu suchen, wenn überhaupt eine zu finden gewesen wäre, in der ich genug für uns alle verdient hätte. Und ich mußte an meine Schwester denken. Sie ist erst zwölf, und ich bin für sie verantwortlich.«

»Also hatten Sie die Idee, sich versteigern zu lassen?«

fragte Reggie.

Kelsey kicherte. »Ich? Ich wußte überhaupt nicht, daß es so etwas gibt.«

Reggie grinste. »Nun, ich glaube, das ginge mir genauso. Dann war es also der Vorschlag Ihres Onkels?«

Reggie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Er war an dem Abend so betrunken, daß er unzusammenhängendes Zeug redete. Er erwähnte einen Freund, der in der gleichen Situation gewesen wäre, und dessen Tochter die Familie gerettet hatte, indem sie sich an einen alten Wüstling verkaufte, der viel Geld für Jung-frauen bezahlte. Dann erwähnte er, daß manche Männer für eine Mätresse bezahlen würden, wenn sie

›frisch‹ wäre, also noch nicht von ihren Freunden benutzt worden sei.«

»Ich kann es nicht glauben, daß er so etwas zu seiner unschuldigen Nichte gesagt hat«, warf Reggie entsetzt ein.

»Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte er das sicher nicht getan, aber er war nicht nüchtern. Und es war immerhin eine Lösung, während ich geglaubt hatte, es gäbe keine. Außerdem war ich über die ganze Angelegenheit so außer mir, daß ich wahrscheinlich nicht mehr viel klarer denken konnte als er. Jedenfalls fragte ich ihn, ob er jemanden in seiner Bekanntschaft hätte, der für eine Mätresse Geld bezahlen würde. Er kannte zwar niemanden, meinte aber, er wisse einen Ort, an dem ich reichen Lords vorgestellt werden könnte, die dann auf mich bieten würden.«

Reggie runzelte die Stirn. »Das klingt tatsächlich nach einer Art Versteigerung.«

»Das war mir auch ziemlich klar«, gab Kelsey zu. »Allerdings hatte ich keine Ahnung, daß es sich um ein übelbeleumdetes Haus handeln würde. Aber da hatte ich schon zugestimmt und war in diesem Haus. Und mir kam es immer noch so vor, als sei dies die einzige Art, Elliotts Schulden in so kurzer Zeit zu bezahlen.

Schließlich hatte er bestimmt keine Chance, so schnell eine so große Summe aufzubringen, er hatte schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Seine Lösung wäre es gewesen, sich umzubringen, damit er meiner Tante nicht ins Gesicht sagen mußte, daß sie alles verlieren würden.

Und ich dachte außerdem an meine Schwester. Ich wollte nicht, daß sie alle Aussichten auf eine standesgemäße Heirat verliert, schließlich hatte sie nicht die geringste Schuld an der ausweglosen Situation.«

»Sie auch nicht.«

»Nein, aber ich war die einzige, die etwas tun konnte.

Also tat ich es. Und es ist ja schließlich nicht so schlecht ausgegangen, Reggie. Ich bin sehr glücklich mit Derek.«

»Sie lieben ihn, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann heiraten Sie ihn doch.«

»Nein, ich habe alle Aussichten auf eine Heirat verspielt, als ich auf einem Tisch in einem Raum voller Lords stand und an den Meistbietenden versteigert wurde.«

»Derek scheint nicht so zu denken, wenn er Sie gebeten hat, ihn zu heiraten.«

»Derek hat anständigerweise vergessen, wie wir uns kennengelernt haben. Aber ich werde es nie vergessen.

Und in der Zwischenzeit hatte er auch Zeit, nachzudenken und wieder zu Verstand zu kommen. Er hat mich nicht noch einmal gefragt.«

»Dumme

Gesellschaftsregeln«,

murrte

Reggie.

»Sie

dürften eigentlich unser Leben nicht so beherrschen, wie sie es tun.«

Kelsey grinste. »Sie vergessen wohl, daß Sie jetzt nicht mit Ihrem Nicholas verheiratet wären, wenn diese Regeln Sie damals nicht beherrscht hätten.«

Reggie hustete. »Ganz richtig.«