20
Als Kelsey am nächsten Morgen aufwachte, war sie allein. Derek war irgendwann mitten in der Nacht gegangen. Das war rücksichtsvoll von ihm, da er ihr so die Peinlichkeit ersparte, ihm im Hellen nackt im Bett zu begegnen. Sie überlegte, ob er dies wohl in Zukunft immer so machen würde. Das Haus lag schließlich in einer netten Gegend, und an Diskretion schien ihm etwas zu liegen.
Natürlich könnte er auch verheiratet sein und deshalb Wert auf Diskretion legen. Was für ein entsetzlicher Gedanke! Aber möglich war es schon, und man hatte sie darauf auch vorbereitet. Sie hätte ihn fragen sollen.
Selbst wenn es so wäre, dann hätte sie es lieber gewußt, als dauernd darüber nachzugrübeln.
Neben ihr auf dem Kopfkissen lag eine Nachricht von Derek. Auch sein Geruch war noch da, und sie mußte unwillkürlich lächeln. Er hatte ihr geschrieben, er würde sie am Nachmittag zum Einkaufen abholen, und dann würden sie zum Abendessen ausgehen. Sie lächelte wieder. Das klang eigentlich nett. Sie war immer schon gerne Einkaufen gegangen. Hoffentlich wollte er ihr keine auf-geputzten Mätressenkleider schenken. Sie seufzte. Genau das war wahrscheinlich seine Absicht. Aber wenn sie sie tragen mußte, dann mußte es eben sein.
Es war erstaunlich, welche Last von ihr genommen war, seit sie keine Jungfrau mehr war. Sie hätte es eigentlich bedauern müssen, aber jetzt war es nicht mehr zu ändern. Jetzt war sie wahr und wahrhaftig eine Mätresse.
Keine Angst mehr vor dem Unbekannten. Der Schmerz lag hinter ihr. Angenehm war es nicht gewesen, aber sie konnte sich auf Angenehmes freuen. Ein wenig davon hatte sie bereits empfunden, und das hatte mehr verheißen. Und Derek sah nicht nur gut aus, er ging auch sehr rücksichtsvoll mit ihr um. Was konnte sie unter diesen Umständen mehr verlangen?
«Na, du siehst ja ganz erfüllt aus«, bemerkte Nicholas Eden, als er ins Eßzimmer kam. Derek war bereits da, genau wie das vor Nicholas’ Hochzeit auch meist der Fall gewesen war.
Das Grinsen auf Dereks Gesicht, während er geistesabwesend dasaß und das Frühstück auf seinem Teller hin und her schob, verstärkte sich noch. »Erfüllt von was?
Ich habe mich gerade erst zum Frühstücken hingesetzt.«
Nicholas schmunzelte. »Ich habe eigentlich nicht das Frühstück gemeint, mein lieber Junge, sondern Befriedigung. Sie strömt geradezu aus dir heraus. Du kommst mir vor wie ein liebestoller Hahn, der endlich das Hüh-nerhaus gefunden hat. War sie so gut?«
Derek errötete nicht oft, aber jetzt schoß ihm die Röte in die Wangen. Das war ungewöhnlich, weil es ihn sonst eher amüsierte als verlegen machte, wenn ihn seine Freunde mit seinen kleinen Sünden aufzogen. Wahrscheinlich lag es daran, daß er, wie Nicholas wußte, Mätressen eigentlich abgeschworen hatte. Jetzt jedoch war er drauf und dran, ihm zu gestehen, daß er eine neue Geliebte hatte.
Als er gestern nach Hause gekommen war, um sich umzuziehen, hatte er eine Nachricht von Nicholas vorge-funden, in der stand, daß Nicholas und seine Frau sich eine Woche lang in der Stadt aufhielten, um einzukaufen und Besuche zu machen. Das bedeutete natürlich in Wahrheit, daß Reggie einkaufen und Besuche machen wollte und Nick dazu überredet hatte, sie zu begleiten.
Derek kam nicht mehr oft nach Silverley, Nicks Landsitz, auf dem er und Reggie für gewöhnlich den Winter verbrachten, zumindest während der hektischen Londoner Saison. Und auf Amys und Warrens Hochzeit war er in Gedanken zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich Entschuldigungen auszudenken, damit er früh gehen und Kelsey wiedersehen konnte, um viel mit seinem Freund zu reden.
Am seltsamsten war, daß er einerseits gerne mit Nick über Kelsey geredet hätte, es aber andererseits doch nicht wollte.
Sie ähnelten sich sehr. Nick war ein paar Jahre älter und ein bißchen größer, seine Haare ein wenig dunkler, allerdings mit goldenen Strähnen, und seine Augen waren eher bernsteinfarben als braun. Nick war Viscount.
Auch Derek besaß diesen Titel, den er mit einem der Landgüter, die ihm überschrieben worden waren, erworben hatte, allerdings würde er eines Tages auch der vierte Marquis of Haverston werden.
Sie waren beide illegitim, und deshalb hatten sie sich auch in der Schulzeit miteinander angefreundet. In Dereks Fall war es eine bekannte Tatsache gewesen, in Nicks Fall ein Geheimnis.
Aber Nicholas wußte zumindest, wer seine Mutter war, beziehungsweise, er hatte es erfahren. Die Frau, die jeder für seine Mutter hielt, die Frau seines Vaters, verab-scheute ihn, wie er sie übrigens auch, und hatte ihm seine Jugend elend vermiest. Und dann hatte sich herausgestellt, daß ihre Schwester, Nicholas’ Tante, seine wirkliche Mutter war. Sie war immer für ihn dagewesen, aber wer sie in Wirklichkeit war, hatte er erst vor einigen Jahren herausgefunden.
Sie gingen beide unterschiedlich mit ihrer Illegitimität um. Als Nicholas dahintergekommen war, hatte es ihm schwer zu schaffen gemacht, aber dann hatte er Reggie geheiratet, der das vollkommen egal war. Derek dagegen hatte es immer schon gewußt, aber es hatte ihm nichts ausgemacht – jedenfalls nicht sehr viel. Schließ-
lich hatte er eine große Familie, die ihn so akzeptierte, wie er war. Nicholas war diese Unterstützung nicht zuteil geworden. Derek bedauerte allerdings, seine Mutter nie kennengelernt zu haben; wenigstens hätte er gern gewußt, wer sie war. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich vor Jahren getraut hatte, seinen Vater danach zu fragen, hatte dieser ihm einfach geantwortet, sie sei tot, deshalb sei es nicht weiter wichtig.
Nun gab Derek auf Nicholas Bemerkung hin zu: »Ich habe eine neue Mätresse.«
Nicholas zog eine Augenbraue hoch. »Berichtige mich, wenn ich mich irre, aber wolltest du nicht ein für allemal die Finger davon lassen?«
»Ja, aber dieses Mal sind die Umstände anders«, versicherte ihm Derek.
»Das denkt man immer – eine Zeitlang«, erwiderte Nicholas mit einem Anflug seines alten Zynismus.
Dann jedoch zuckte er die Schultern. »Na ja, genieße sie, solange du kannst. Der Reiz des Neuen wird schnell genug nachlassen, und dann suchst du nach Ersatz. Das ist mir bisher noch jedesmal passiert – na ja, zumindest, bis ich deine Cousine kennenlernte.
Ich hätte wissen müssen, daß ich mich verliebt habe, als ich die kleine Hexe nicht mehr aus dem Kopf bekam.«
»Nein, Nick, die Umstände sind dieses Mal wirklich anders. Tatsache ist, ich halte sie nicht nur aus, ich –
ähm – ich habe sie gekauft.«
Die Augenbraue wanderte wieder nach oben. »Wie bitte?«
»Ich habe sie gekauft«, wiederholte Derek und erklärte dann: »Sie sollte auf einer Auktion verkauft werden, und ich kam dazu und – habe sie gekauft.«
»Wieviel hast du für sie bezahlt?« fragte Nicholas.
»Du würdest es gar nicht wissen wollen.«
»Du lieber Himmel, paß bloß auf, daß dein Vater nichts davon erfährt.«
Derek zuckte bei dem bloßen Gedanken daran zusammen. »Ich weiß, aber es gibt keinen Grund, warum er davon erfahren sollte.«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, sie war so schön, daß du einfach nicht widerstehen konntest.«
»Eigentlich hat eher Jeremy so auf sie reagiert. Der Bursche wollte sich das Geld von mir leihen, damit er auf sie bieten konnte. Er war fest entschlossen, bis ich ihn daran erinnerte, daß er eine Mätresse nirgendwo unterbringen könne.«
»Jeremy war also auch dabei?«
»Und Percy.«
»Und wo hat das Ganze stattgefunden? An einem unserer – hm – Lieblingsplätze?«
Derek mußte grinsen. Früher waren Nick, Percy und er meist zusammen losgezogen, aber dann war James mit Jeremy zurück nach England gekommen – und der gute alte Nick hatte sich selbst Handschellen angelegt.
»Nein«, erwiderte Derek. »Es war in dem neuen Eros-Haus, das aufgemacht hat, nachdem du dich aus dem Verkehr gezogen hast. Dort wird eigentlich mehr mit Perversitäten gehandelt, aber das wußten wir an dem Abend noch nicht. Wir kamen nur zufällig vorbei, weil eines von Jeremys leichten Mädchen dorthin gewechselt hatte.«
Nicholas schmunzelte. »Der Junge wollte sich also Geld von dir leihen, und du hast ihn überboten? Das riecht nach Streit, aber das ist ja in deiner Familie nichts Neues.«
»Komm, komm, meinen Onkel James lassen wir lieber aus dem Spiel. Wir wissen doch alle, wie gerne du ihn magst.« Derek wartete das übliche Schnauben auf diese Bemerkung ab, was auch prompt kam. »Und ich habe nicht geboten, ich hatte jedenfalls nicht die Absicht.«
»Nein? Und warum hast du es doch getan?«
»Weil jemand anderer auf sie geboten hat. Hast du jemals mit Lord David Ashford zu tun gehabt?«
»Nein. Warum?«
»Wir hatten vor einer Weile einen Zusammenstoß mit ihm, als wir uns unten am Hafen aufhielten. Er hat eine Prostituierte, die er an ein Bett gefesselt hatte, so heftig ausgepeitscht, daß sie die Narben wahrscheinlich ihr Leben lang behalten wird. Und das nur, um sich in Stimmung zu bringen. Wenn sie es nicht geschafft hätte, den Knebel aus ihrem Mund zu stoßen, hätten wir ihre Schreie nie gehört.«
Nicholas gab einen Laut des Abscheus von sich.
»Klingt so, als gehörte er nach Bedlam.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, aber offensichtlich hat er seine abscheulichen Angewohnheiten geheimgehalten. Nur sehr wenige wissen davon, und er bezahlt seine Opfer so gut, daß sie keine Anzeige erstatten. Ich habe ihn an diesem Abend bewußtlos geschlagen –
eigentlich war ich sogar verdammt nahe daran, ihn umzubringen. Ich dachte, damit sei die Sache erledigt, aber dann sah ich, wie er bei dieser Auktion auf das Mädchen bot und konnte mir lebhaft vorstellen, was er ihr antun würde, wenn er sie bekäme. Das konnte ich doch nicht zulassen, oder?«
»Ich hätte ihn da herausgeholt und wieder bewußtlos geprügelt. Das wäre viel billiger gewesen, zumal du sie doch gar nicht für dich selbst haben wolltest.«
»Dann hätte er sie aber trotzdem bekommen. Er hatte als letzter geboten. Der Eigentümer hätte das Geld eingesteckt und sie ihm eben später übergeben. Außerdem gefällt es mir ganz gut, daß ich sie bekommen habe.«
Nicholas lachte. »Na ja, das stimmt wohl, ich habe vergessen, wie du ausgesehen hast, als ich hereinkam.«
Wieder wurde Derek rot. Verdammt noch mal, Kelsey mußte ihn angesteckt haben.
»Sie ist ganz anders, als du dir jemanden vorstellen würdest, den du an einem solchen Ort ersteigerst. Sie hat eine gute Erziehung genossen, weil ihre Mutter Gouvernante war, vielleicht sogar eine bessere Erziehung als die meisten jungen Damen, die wir kennen. Ihre Manieren sind tadellos. Auf der Versteigerung wurde behauptet, sie sei noch Jungfrau, was niemand mit gesun-dem Menschenverstand wirklich geglaubt hat, aber es stellte sich heraus, daß es richtig war.«
»War? Dann ist sie jetzt also keine mehr?«
Derek zögerte sekundenlang, bevor er nickte, weil er merkte, wie ihm schon wieder die Röte in die Wangen stieg. Innerlich stöhnte er auf. Das Problem war wahrscheinlich, daß er über Kelsey einfach nicht so reden wollte, auch nicht mit seinem besten Freund. Das war natürlich albern. Sie war schließlich nichts anderes als irgendein Mädchen, mit dem er gern ins Bett ging, und Nick hatte zweifellos recht. Der Reiz des Neuen würde bald genug vorüber sein, und er würde sich in der Gesellschaft wieder nach der nächsten jungen Dame umsehen, die sein Interesse weckte.
»Jedenfalls freut es mich, daß ich sie habe. Das viele Geld habe ich weniger für sie ausgegeben als vielmehr, um Ashfords Pläne zu durchkreuzen, und das ist mir ja Gott sei Dank gelungen. Mir wird nur ganz schlecht bei dem Gedanken, daß ich ihn nur dieses eine Mal aufgehalten habe. Er wird draußen jede Menge billiger Huren finden, die er auspeitschen und dafür bezahlen kann, und wer weiß, wem er schon alles seine grausigen sexuellen
Angewohnheiten
zugemutet
hat.
Wahr-
scheinlich besucht er dieses Haus regelmäßig, obwohl er seine Brutalität dort vielleicht nicht so auslebt. Ich würde ihm nur zu gerne das Handwerk legen. Hast du irgendwelche Vorschläge?«
»Außer ihn einfach umzubringen?«
»Ja, das nicht gerade.«
»Ihn kastrieren?«
»Hmmm, glaubst du wirklich, daß das funktioniert«, überlegte Derek, »wo doch sein Hauptvergnügen darin besteht, anderen Schmerzen zuzufügen?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall hätte er es verdient, wenn das, was du über ihn erzählst, stimmt.«
»Natürlich stimmt es. Ich war an dem Abend, als wir ihn mit dem armen Mädchen erwischten, vielleicht nicht ganz bei mir, aber so etwas hätte ich mir auch nie vorstellen können. Aber Percy und Jeremy waren ja auch dabei und genauso entsetzt wie ich.«
Nicholas runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich nehme an, das Mädchen wäre keine große Hilfe, wenn wir ihn vor Gericht zerren?«
»Nein, an dem Abend hatte sie zu große Schmerzen, um überhaupt reden zu können, aber ich habe sie eine Woche später noch einmal aufgesucht. Da hatte sie sich schon etwas erholt, und hat es rundweg abgelehnt, ge-richtlich gegen ihn vorzugehen.«
»Weil er ein Lord ist?«
»Das hat sie vielleicht auch beeinflußt, aber in erster Linie deswegen, weil er sie so reichlich bezahlt hat. Er hat ihr mehr Geld gegeben, als sie bei ihrem Gewerbe in zwei oder drei Jahren verdienen könnte, und sie hatte Angst, sie müsse es zurückzahlen. Für Ashford war die Summe eine Kleinigkeit. Ich habe es überprüft. Er ist so reich, daß er das ein paarmal in der Woche tun könnte und es noch nicht einmal merken würde.«
»Ich nehme an, du hast ihr ähnlich viel Geld oder sogar mehr geboten, damit sie ihn anzeigt?«
»Ja, natürlich, das ist mir sofort eingefallen«, erwiderte Derek. »Leider hat sie dann erklärt, sie hätte gewußt, was er tun wollte, und dem zugestimmt. Es spielt keine Rolle, daß sie gar nicht wissen konnte, wie schlimm es werden würde, oder daß sie körperliche Narben davon-getragen hat. Ironischerweise war ihr auch noch nicht klar, daß diese Narben sie in Zukunft bei der Ausübung ihres Gewerbes behindern würden, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie darauf hinzuweisen.«
Nicholas seufzte. »Du steckst in einem ziemlichen Dilemma, alter Junge. Ich werde weiter darüber nachdenken, aber im Moment fällt mir keine Lösung ein; dazu gibt sich der Kerl zu aufrichtig, oder zumindest teilweise aufrichtig, indem er diesen Mädchen vorher erklärt, was er möchte. Leider wird er jede Menge billiger Huren in dieser Stadt finden, die auf den Handel eingehen und erst darüber nachdenken, wenn alles zu spät ist.«
»Genauso sehe ich das auch«, entgegnete Derek.
»Ich sage es ja ungern, aber du solltest deinen Onkel James um Rat fragen. Das ist genau sein — hm — Erfah-rungsbereich, meinst du nicht auch?«
Derek grinste. »Daran habe ich auch schon gedacht. Ich bin morgen früh mit ihm verabredet.«
»Gut. Man bekommt eine andere Perspektive, wenn man sich, wie er, mit dem Abschaum der Menschheit zusammentut. Nun, Schluß jetzt mit den ernsten Themen. Schön, daß du vorbeigekommen bist. Du kannst mir heute Gesellschaft leisten, während Reggie in der Gegend herumsaust.«
»Nur zu gerne – jedenfalls heute morgen. Für heute nachmittag habe ich allerdings etwas anderes vor.«
»Das ist schon in Ordnung, alter Junge. Ich nehme mir so viel von deiner Zeit, wie ich kann. Du fehlst mir, seit ich aufs Land gezogen bin. Leider kommst du nicht oft genug vorbei. Außerdem habe ich ein neues Rennpferd gekauft, das ich dir zeigen möchte.«
»Percy auch«, erwiderte Derek. »Du wirst spucken, wenn du seins siehst.«
Nicholas schmunzelte. »Das habe ich gestern schon getan. Was glaubst du, von wem ich mein neues Rennpferd habe? Es ist mir gelungen, dem alten Knaben ein anderes aus seinem Stall abzuquatschen.«