4

»Dreiundzwanzigtausend.«

Kelsey hätte nie geglaubt, daß die Summe so hoch werden könnte. Es schmeichelte ihr allerdings gar nicht, daß sie einen solchen Preis erzielte. Sie konnte sich noch nicht einmal darüber freuen, daß sie damit die Probleme ihrer Tante und ihres Onkels für sehr lange Zeit lösen würde. Nein, sie war zu verängstigt, um erfreut zu sein.

Er sah ... grausam aus. Das war das einzige Wort, das ihr in den Sinn kam. Sie wußte nicht genau, warum.

Vielleicht wegen des Schwunges seiner dünnen Lippen?

Wegen des kalten Glanzes in seinen hellblauen Augen, mit denen er beobachtete, wie sie sich unter seinen Blicken wand? Wegen des Schauers, der ihr über den Rücken geronnen war, als sie zum ersten Mal seinen Blick auf sich ruhen fühlte?

Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, mit pechschwarzen Haaren und den scharfgeschnittenen Zügen, die vielen Lords eigen waren. Er war nicht häßlich, im Gegenteil.

Aber

die

Grausamkeit

in

seinem

Blick

überwog

das gute Aussehen. Und Kelsey hoffte inständig, daß der alte Mann, der das erste Gebot abgegeben hatte, trotz seiner abscheulichen lüsternen Blicke weiterbieten würde.

Leider waren nämlich nur noch, der Himmel möge ihr helfen, die beiden Männer im Spiel. Ein paar andere, die zu Anfang mitgeboten hatten, waren ausgestiegen, als sie die eisigen Blicke des einen Mannes bemerkt hatten, Blicke, die selbst den abgebrühtesten Männern Furcht einjagen konnten. Der alte Mann bot nur noch mit, weil ihm diese Blicke nicht aufgefallen waren. Vielleicht war er kurzsichtig, vielleicht aber auch nur unaufmerksam; er wirkte betrunken.

Und dann hörte sie, wie eine weitere Stimme das Angebot auf fünfundzwanzigtausend erhöhte, gefolgt von der lauten Frage eines Mannes, der in der Nähe des Bieters stand: »Wozu brauchen Sie denn eine Mätresse, Malory? Bei Ihnen stehen die Damen doch Schlange, um in Ihr Bett zu kommen.«

Diese Bemerkung rief lautes Gelächter hervor, das noch heftiger wurde, als der neue Bieter erwiderte: »Ja, aber das sind Damen, mein Herr. Vielleicht habe ich Lust auf etwas – anderes.«

Das war eine Beleidigung Kelsey gegenüber, aber vielleicht war es auch nicht so gemeint. Er wußte ja schließ-

lich nicht, daß sie genauso eine Dame gewesen war, bis sie dieses Haus betreten hatte. Im Moment gab es wirklich kein Anzeichen dafür, daß sie etwas anderes war, als alle Anwesenden von ihr dachten – und bestimmt hielt sie keiner für eine Dame.

Sie hatte nicht sehen können, wer das neue Gebot machte. Die Stimme kam anscheinend von der Tür, aber die genaue Position des Sprechers war schwer zu be-stimmen, weil es im Raum so laut war. Und in diesem Bereich standen mehr als ein Dutzend Männer. Un-möglich, etwas Genaueres zu sagen. Doch der Mann, von dem sie absolut nicht wollte, daß er sie kaufte, wußte anscheinend, wer das neue Gebot abgegeben hatte, denn er blickte in diese Richtung. Wieder jedoch konnte Kelsey nicht mit Bestimmtheit sagen, wem sein mörderischer Blick galt.

Sie hielt den Atem an und wartete darauf, was weiter geschah. Ein Blick zu dem alten Mann zeigte ihr, daß er wahrscheinlich nicht mehr weiterbieten würde. Er war eingenickt, und niemand zeigte Neigung, ihn aufzuwecken. Nun ja, er hatte bereits ziemlich betrunken gewirkt, als er geboten hatte; offenbar hatte er nur deshalb an der Auktion teilgenommen. Aber würde ihr Retter, wer immer er auch war, weiter gegen diesen anderen Mann bieten? Oder ließ er sich genauso einschüchtern wie die anderen?

»Höre

ich

fünfundzwanzigtausendfünfhundert?«

rief

Lonny.

Schweigen. Und Kelsey bemerkte auf einmal, daß die anderen Gebote immer nur um fünfhundert gestiegen waren – außer dem letzten. Der Mann, den sie Malory nannten, hatte als erster die Summe um zweitausend an-gehoben. War das ein Zeichen dafür, daß er es ernst meinte? Oder war er nur zu reich, um sich Gedanken darüber zu machen? Oder aber er war zu betrunken, als daß er es überhaupt gemerkt hatte.

»Höre

ich

fünfundzwanzigtausendfünfhundert?«

wie-

derholte Lonny, ein bißchen lauter, um auch in den hinteren Winkeln des Saales gehört zu werden.

Sie blickte den blauäugigen Mann an, wartete und betete, daß er sich hinsetzen und nicht mehr weiterbieten möge. Er war so wütend, daß ihm die Adern am Hals hervortraten. Und dann stolzierte er ganz überraschend aus dem Saal, stieß dabei einen leeren Stuhl um und schob die Männer, die ihm nicht schnell genug aus dem Weg traten, beiseite.

Kelsey sah zu Lonny hinüber, um zu sehen, wie er reagierte, und seine Enttäuschung war ihre Bestätigung.

Der Mann bot nicht mehr mit.

»Fünfundzwanzigtausend, zum ersten . .« Lonny hielt nur kurz inne und fuhr dann fort: »Zum zweiten ...«

Eine weitere Pause, dieses Mal eine Spur länger. »Nun gut, verkauft an Lord Malory. Wenn Sie in mein Büro am Ende der Halle kommen wollen, Mylord, dann können wir den Vertrag aufsetzen.«

Wieder versuchte Kelsey festzustellen, mit wem Lonny sprach. Aber er hob sie vom Tisch, und da sie nur einen Meter sechzig groß war, konnte sie nicht über die Köpfe der Männer vor ihr hinwegsehen.

Sie war dankbar, daß die Quälerei endlich vorbei war.

Aber die Erleichterung, die sie eigentlich verspüren sollte, wollte sich nicht einstellen, weil sie immer noch nicht wußte, wer sie gekauft hatte. Und es blieb die Angst, daß er ja vielleicht genauso scheußlich war wie die beiden anderen. Schließlich konnte die Bemerkung, daß die Frauen Schlange vor seinem Bett stünden, weil sie sich nach seiner Gesellschaft sehnten, auch sarka-stisch gewesen sein und das genaue Gegenteil bedeutet haben. So eine Anspielung hätte die Anwesenden genauso zum Lachen gebracht.

»Das

hast

du

gut

gemacht,

Schätzchen«,

flüsterte

Lonny ihr zu, während er sie in die Halle begleitete.

»Hat mich wirklich überrascht, daß der Preis so in die Höhe gegangen ist.« Er schmunzelte in sich hinein.

»Aber diese Nabobs können es sich leisten. Also, lauf jetzt und hol deine Sachen, und trödel nicht. Komm in mein Büro, da hinten« – er deutete mit dem Kopf auf eine offene Tür am Ende der Halle – »wenn du fertig bist.« Dann schob er sie mit einem Klaps auf den Po zur Treppe.

Trödeln? Wo es doch ihre größte Sorge war, endlich den Mann kennenzulernen, der sie gekauft hatte? Sie flog praktisch die Treppe hinauf. Es würde auch nicht lange dauern, ihre Sachen zu packen, da sie am Tag zuvor kaum etwas aus ihrem kleinen Koffer herausgeholt hatte. In weniger als zehn Minuten war sie wieder unten.

Einen Schritt vor der offenen Tür blieb sie jedoch abrupt stehen. Plötzlich überwog ihre Angst den Wunsch zu sehen, wer eine so ungeheuer hohe Summe für sie bezahlt hatte. Doch das Geschäft war abgeschlossen.

Sie mußte sich dieser Tatsache unterwerfen oder sich Lonnys unterschwelliger Drohung aussetzen, die ganz zweifellos

lebensgefährlich

geklungen

hatte.

Trotzdem

lähmte sie das Unbekannte. Und wenn dieser Mann, der sie gekauft hatte, nun nicht anständig war, sondern genauso grausam und lasterhaft, wie der andere Mann gewirkt hatte? Oder wenn er grotesk häßlich war und Frauen nur bekam, wenn er sie auf diese Art kaufte?

Was sollte sie tun? Entsetzlicherweise konnte sie gar nichts tun. Gleichgültig, ob sie ihn haßte, ob sie ihn mochte – oder überhaupt nichts empfand. Eigentlich hoffte sie darauf, gar nichts zu empfinden. Sie wollte ganz bestimmt keine Gefühle für einen Mann entwickeln, der sie niemals heiraten würde, auch wenn sie intim mit ihm werden mußte.

»Ich bin sicher, daß Sie mit der Dame sehr zufrieden sein werden, Mylord«, sagte Lonny gerade, während er aus der Tür seines Büros trat. Dann sah er Kelsey dort stehen, zog sie mit sich und fügte hinzu: »Ah, und hier ist sie. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Kelsey schloß die Augen. Sie war immer noch nicht bereit, ihrer Zukunft ins Gesicht zu sehen. Die andere, mutige Seite in ihr weigerte sich jedoch, dies auch nur noch eine Sekunde aufzuschieben. Sie blickte die Männer im Zimmer an. Und empfand sofort Erleichterung.

Große Erleichterung. Zwar wußte sie nicht, wer sie gekauft hatte, denn statt einem standen drei Männer in Lonnys Büro. Aber von diesen dreien sah einer gut aus, einer sehr gut und einer unglaublich gut.

Womit hatte sie dieses Glück verdient? Sie konnte es kaum fassen. Irgend etwas stimmte wohl nicht, sie konnte jedoch beim besten Willen nicht sagen, was es war. Selbst bei dem am wenigsten Gutaussehenden der drei, der anscheinend auch der älteste war, hatte sie das Gefühl, sie könnte mit ihm auskommen. Er war groß und schlaksig, mit freundlichen braunen Augen und einem bewundernden Lächeln. Das Wort harmlos kam ihr in den Sinn, während sie ihn ansah.

Der größte der drei schien zugleich auch der jüngste zu sein. Er war höchstens in Kelseys Alter, obwohl er so breite Schultern und einen so ernsten Gesichtsausdruck hatte, daß er viel älter wirkte. Er sah überaus gut aus, mit rabenschwarzen Haaren und wunderschönen kobaltblauen Augen, die ein ganz klein wenig schräg standen, was ihm ein exotisches Aussehen verlieh. Sie hatte das Gefühl, daß sie mit ihm sehr gut auskommen würde und hoffte und betete, daß er sie gekauft haben möge.

Du lieber Himmel, sie konnte kaum die Augen von ihm abwenden, so gut gefiel er ihr.

Trotzdem zwang sie sich, auch den dritten Mann, der vor ihr stand, prüfend zu mustern. Wenn sie den blauäugigen Mann nicht zuerst angesehen hätte, dann hätte sie mit aller Aufrichtigkeit sagen können, daß ihr noch nie in ihrem Leben ein so gutaussehender Mann begegnet war. Er hatte dichtes blondes, zerzaustes Haar. Seine Augen waren braun — nein, grün, richtig grün –, und sein Blick hatte etwas Verwirrendes, wenn sie auch nicht genau sagen konnte, warum. Er war nicht so groß wie die anderen beiden, allerdings auch nicht viel kleiner, und ganz sicher etwa zwanzig Zentimeter größer als sie.

Und dann lächelte er, und Kelseys Herz begann zu flat-tern – zum ersten Mal in ihrem Leben. Was für ein seltsames Gefühl. Auf einmal wurde es auch im Zimmer so warm. Sie wünschte, sie hätte einen Fächer, aber sie hatte nicht daran gedacht, einen einzupacken, hatte nicht geglaubt, daß sie mitten im Winter einen brauchen würde.

»Möchten Sie das nicht absetzen, Miss ... Wie war Ihr Name?« sagte er zu ihr und deutete auf ihren Koffer.

»Und du, Jeremy, beeil dich und hol endlich, was du haben willst.«

»O Gott, ich habe das Mädchen, wegen dem er hergekommen ist, ganz vergessen«, sagte der älteste der drei zu Jeremy. »Ja, beeil dich endlich, Malory. So interessant dieser Abend bis jetzt gewesen ist, er ist noch nicht vorbei.«

»Verdammt, ich habe selbst nicht mehr an Flo gedacht«, gab Jeremy mit einfältigem Grinsen zu. »Ich brauche aber nicht lange, um sie zu holen – wenn ich sie finde.«

Kelsey sah zu, wie der jüngste der drei aus dem Raum schlenderte. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sie hatten ihn Malory genannt, und der Mann, der einen so gewaltigen Preis für das Privileg gezahlt hatte, sie zu seiner Mätresse zu machen, war ein Lord Malory gewesen. Wo blieb also die Erleichterung, die sie empfinden sollte?

»Ich heiße Kelsey Langton«, sagte sie, als ihr klar wurde, daß der blonde Mann sie bereits nach ihrem Namen gefragt hatte, als er ihr vorgeschlagen hatte, den Koffer abzusetzen.

Als sie es nun so hervorsprudelte, errötete sie jedoch.

Und den Koffer hatte sie immer noch nicht abgesetzt, sie hatte noch nicht einmal gemerkt, daß sie ihn immer noch in der Hand hielt, bis der blonde Mann auf sie zutrat und ihn ihr abnahm.

»Mein Name ist Derek, und das Vergnügen ist auf meiner Seite, Kelsey«, sagte er zu ihr. »Wir müssen allerdings noch ein bißchen warten, bis der junge Mann die GeSchäfte erledigt hat, deretwegen wir hierhergekommen sind. Möchten Sie sich vielleicht so lange setzen?« Damit wies er auf einen der Stühle vor Lonnys Schreibtisch.

Er sah nicht nur gut aus, sondern war auch noch nett.

Man stelle sich das vor. Und doch war es irgendwie beunruhigend. Ihr Herz hatte schneller geschlagen, als er ihr nahe gekommen war und seine Finger die ihren berührt hatten, als er ihr den Koffer abnahm, um ihn beiseite zu stellen. Sie hatte keine Ahnung, warum er in ihr so seltsame Gefühle auslöste, aber plötzlich war sie sehr froh, daß sie nicht mit ihm nach Hause gehen mußte, sondern mit Jeremy.

Sie hatte schon genug mit dem Gedanken zu kämpfen, daß sie noch heute abend eine Mätresse werden würde, ein Gedanke, den sie bis jetzt verdrängt hatte, sonst hätte sie das Ganze nicht überstanden. Zusätzliche Sorgen konnte sie im Augenblick nicht brauchen. Und das größte Problem, das sie mit dem jungen Jeremy haben würde, dachte sie, wäre sicher, daß sie sich zusammen-nehmen mußte, um ihn nicht dauernd einfältig anzustarren. Allerdings war der junge Mann mit seinem fas-zinierenden Aussehen daran bestimmt schon gewöhnt.

»Ich kannte mal einen Earl auf Kettering, der Langton hieß«, sagte der andere Mann plötzlich. »Netter Kerl, hat aber wohl ein schlimmes Ende genommen, wie ich hörte. Natürlich sind Sie nicht mit ihm verwandt.«

Gott sei Dank hatte er den Satz nicht als Frage, sondern als Feststellung formuliert, also mußte sie nicht lügen.

Aber es war doch ein schrecklicher Moment, als er ihren Vater erwähnte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihren richtigen Namen zu nennen? Anscheinend hatte sie überhaupt nicht nachgedacht, und jetzt war es zu spät.

»Wenn sie nicht mit ihm verwandt ist, Percy, warum er-wähnst du es dann?« fragte Derek trocken.

Percy zuckte mit den Schultern. »Das war damals eine interessante Geschichte, und ihr Name hat mich daran erinnert. Übrigens, ist dir der Ausdruck auf Ashfords Gesicht aufgefallen, als er an uns vorbeikam?«

»Das war kaum zu übersehen, alter Junge.«

»Glaubst du, wir bekommen noch Ärger deswegen?«

»Der Kerl ist ein Widerling und ein Feigling. Ich wünsche mir wirklich, daß wir Ärger mit ihm bekommen.

Ich brauche bloß einen Grund, um noch mal den Boden mit ihm aufzuwischen. Aber solche Kerle quälen nur die, die sich nicht wehren können.«

Kelsey erschauerte, als sie die Wut in Dereks Tonfall spürte. Sie war sich nicht sicher, hatte aber das Gefühl, daß sie über den blauäugigen Mann sprachen, der auf sie geboten hatte und dann so wütend verschwunden war. Und wenn das so war, dann waren ihm diese Herren offenbar schon vorher begegnet.

Sie wollte jedoch nicht fragen, ging statt dessen zum Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, der ihr angeboten worden war, in der Hoffnung, dort unbemerkt zu bleiben. Das war jedoch ein Fehler, denn sofort richteten sich beider Blicke wieder auf sie. Sie rutschte unruhig hin und her, fühlte sich jedoch zu müde und erschöpft von dem nervösen, angstvollen Zustand, in dem sie den ganzen Tag gewesen war.

Gleichzeitig verspürte sie leichten Zorn und sagte deshalb: »Achten Sie gar nicht auf mich, meine Herren.

Fahren Sie nur mit Ihrer Unterhaltung fort.«

Percy blinzelte sie verwirrt an. Dereks Augen verengten sich. Und sofort bemerkte sie, was sie falsch gemacht hatte – schon wieder. Sie mochte zwar in dem grellroten Kleid, das sie trug, nicht wie eine Dame aussehen, aber jetzt gerade hatte sie sicher genau wie eine geklungen. Aber daran konnte sie nun auch nichts mehr ändern. Sie konnte sich nicht anders geben, als sie war. Selbst wenn sie versuchte, sich weniger kultiviert auszudrücken, und selbst wenn ihr das auch eine gewisse Zeitlang gelänge, würde sie sich doch irgendwann verraten, und dann hätte sie um so mehr zu erklären.

Deshalb beschloß sie, einfach zu lügen. Die Wahrheit konnte sie ihnen natürlich nicht sagen.

Sie schenkte den beiden Männern einen unschuldigen Blick und fragte: »Habe ich etwas Unschickliches gesagt?«

»Es geht nicht um das, was Sie gesagt haben, meine Liebe, sondern darum, wie Sie es gesagt haben«, erwiderte Derek.

»Wie ich es gesagt habe? Oh, meinen Sie meine Ausdrucksweise? Ja, ich überrasche Menschen gelegentlich.

Aber wissen Sie, meine Mutter war Gouvernante, und ich habe die gleichen Lehrer gehabt wie ihre Schützlinge. Eine sehr erhebende Erfahrung, wenn ich so sagen darf.«

Sie mußte über den Seitenhieb lächeln, ob die beiden ihn nun verstanden oder nicht. Percy entspannte sich, weil er ihr sofort glaubte. Derek jedoch runzelte noch immer die Stirn.

Nach einer Weile sagte er ihr auch den Grund. »Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß Ihnen dies ermög-licht wurde, wo doch die meisten Lords so den Tradi-tionen verhaftet sind, daß sie der Überzeugung sind, die niedrigeren Schichten sollten bei ihresgleichen bleiben und in Unwissenheit gehalten werden.«

»Ach, es gab gar keinen Lord, der ja oder nein sagen konnte, nur die Witwe eines Lords, für die meine Mama arbeitete, und die hat sich wirklich überhaupt nicht darum gekümmert, was mit den Kindern ihrer lebenslänglichen Bediensteten passierte. Ja, sie hat es meiner Mutter sogar erlaubt. Meine Mama hat sich diese Frei-heiten nicht selbst herausgenommen. Und ich werde der Lady ewig dankbar sein — weil sie sich wirklich überhaupt nicht um uns gekümmert hat.«

Percy hustete und kicherte leise.

»Gib Ruhe, alter Knabe. Was du gedacht hast, ist nicht möglich, und das weißt du auch.«

Derek schnaubte: »Als wenn du nicht das gleiche angenommen hättest.«

»Nur eine winzige Sekunde lang.«

»Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie beide gedacht?«

erkundigte

sich

Kelsey,

die

Unschuldige

heuchelnd.

»Nichts

Besonderes«,

erwiderte

Derek

brummig.

Er

schob die Hände in die Taschen und trat auf die Tür-schwelle. Dort lehnte er sich gegen den Rahmen und kehrte dem Raum den Rücken zu.

Kelsey blickte fragend zu Percy, aber dieser lächelte nur einfältig, zuckte mit den Schultern, schob seine Hände ebenfalls in die Hosentaschen und wippte auf den Ab-sätzen. Natürlich würden sie nicht zugeben, daß sie für kurze Zeit geglaubt hatten, sie könne eine Dame sein.

Allein der Gedanke daran mußte Männern ihrer Herkunft absurd erscheinen. Und das war ihr wirklicher Schutz. Ihre Familie hatte bereits einen Skandal durch-litten. Sie würde nicht zu einem weiteren beitragen, wenn sie es verhindern konnte.