35

Trotz Dereks Versicherung, daß sie nichts mehr von Lord Ashford zu fürchten habe, da er nun überwacht würde, verließ Kelsey ihr Haus fast eine ganze Woche lang nicht mehr. Sie schickte ihren Lakaien zu der Schneiderin, um zwei Anproben abzusagen – glücklicherweise hatte sie gerade in dieser Woche einen Lakaien und auch die übrigen Dienstboten, die sie brauchte, eingestellt.

Sie konnte auch nicht zu dem hübschen kleinen Stoff-geschäft gehen, das sie entdeckt hatte. Dort hatte sie Stoff gekauft, um Derek ein paar Dinge zu Weihnachten zu nähen. Ein Halstuch mit Monogramm und Taschentücher, und ein paar Seidenhemden, von denen sie einige schon fertiggestellt hatte.

Ironischerweise hatte sie an dem Tag, an dem sie Lord Ashford begegnet war, nicht soviel Angst gehabt wie am Tag danach, nachdem sie den Abend mit Derek verbracht hatte. Sie hatte seine Angst gespürt, obwohl er nach seiner Warnung nicht mehr allzuviel darüber gesagt hatte.

Es hatte seine Vorteile, ans Haus gebunden zu sein.

Nachdem sie drei Tage lang gegrübelt hatte, war sie auch endlich in der Lage, einen Brief an ihre Tante Elizabeth abzuschicken. Darin erklärte sie ihr, daß ihre Freundin die Meinung eines weiteren Arztes eingeholt habe, die ihr etwas Hoffnung gebe, und daß sie nach London gezogen seien, um nahe bei dem neuen Arzt zu wohnen.

Es fiel ihr schwer, ihre Tante weiter anzulügen, und es war auch nicht einfach, einen Absender anzugeben, was Elizabeth natürlich erwarten würde. Schließlich setzte Kelsey ihre tatsächliche Adresse ein, da sie außer Dereks Adresse keine andere kannte, und seine zu benutzen kam nicht in Frage.

Sie hatte auch einen Brief an ihre Schwester beigelegt, voller Klatschgeschichten über ihre Heimatstadt, die natürlich alle erfunden waren. Nachdem sie die beiden Briefe fertiggeschrieben hatte, kam sie sich so verach-tenswert vor, daß sie Derek keine besonders gute Ge-sellschafterin war. Es fiel ihm auf, und er machte eine Bemerkung darüber, aber sie hatte ihn mit weiteren Lü-

gen beruhigt und behauptet, sie leide bloß unter dem Wetter. Am nächsten Tag schickte er ihr Unmengen von Blumen, und sie hätte am liebsten geweint.

Schließlich machte sie sich klar, daß es albern von ihr war, sich im Haus zu vergraben, zumal es ein herr-licher Wintertag war. Sie begab sich umgehend zur Schneiderin, um die letzten Anproben über sich ergehen zu lassen, was recht schnell ging. Als sie das Hinterzimmer des Ladens verließ, zögerte sie nur kurz, aus Sorge, daß sie Lady Eden wieder über den Weg laufen könnte.

Das Geschäft war jedoch so früh am Morgen ganz leer, da die meisten Damen der Gesellschaft im Hinblick auf ihre

gesellschaftlichen

Verpflichtungen

in

der

Nacht

zuvor morgens erst spät aufstanden. Es gab jedoch eine Ausnahme.

Gerade als sie zur Tür wollte, ging sie auf, und Tante Elizabeth betrat den Laden. Kurz hinter ihr kam ihre Schwester Jean herein. Jean schrie vor Freude auf, als sie Kelsey sah, und stürzte in ihre Arme. Elizabeth war ebenso überrascht wie Kelsey, allerdings kaum so erschrocken.

»Was tust du in London?« fragten beide wie aus einem Mund.

»Habt ihr meinen Brief nicht bekommen?« entgegnete Kelsey.

»Nein . . das ... habe ... ich .. nicht.«

Die Pausen zwischen den einzelnen Wörtern ließen Elizabeths Antwort wie einen Vorwurf klingen, und es war auch einer, wie Kelsey an ihrem Gesichtsausdruck sah. Sie hätte eher schreiben sollen. Schließlich wußte sie ja, daß Tante Elizabeth auf einen Brief gewartet hatte. Aber es war so schwer, die eigene Familie anzulü-

gen, daß sie es so lange wie möglich hinausgezögert hatte. Und jetzt mußte sie wieder alles erklären.

»Ich habe dir geschrieben, Tante Elizabeth, um dir mitzuteilen, daß ich mit Anne nach London gefahren bin.

Sie hat hier einen neuen Arzt gefunden, der ihr Hoffnung gemacht hat, und deshalb wollte sie in seiner Nähe sein.«

»Das sind ja wunderbare Nachrichten!«

»O ja.«

»Heißt das, du kommst bald wieder nach Hause, Kelsey?« fragte Jean hoffnungsvoll.

»Nein, mein Schatz, Anne ist immer noch sehr krank«, erwiderte Kelsey und drückte Jean an sich.

»Deine Schwester wird hier gebraucht, Jean«, sagte Elizabeth.

»Ihre

Freundin

muß

aufgeheitert

werden,

und das kann Kelsey gut, so warmherzig, wie sie ist.«

»Was machst du denn hier in London, Tante?« fragte Kelsey.

Elizabeth schnaubte. »Unsere Schneiderin zu Hause ist weggezogen,

und

das

ohne

jede

Vorankündigung.

Kannst du dir das vorstellen? Ich möchte keinesfalls zu diesem französischen Flittchen gehen, die ihr immer Konkurrenz gemacht hat, und da Jean und ich ein paar neue Kleider für die Feiertage brauchen, habe ich beschlossen, daß wir sie genausogut von der besten Schneiderin nähen lassen könnten. Mrs. Westerbury ist mir von einigen Freundinnen sehr empfohlen worden.«

»ja, sie ist hervorragend«, stimmte Kelsey ihr zu. »Ich habe hier auch einige Kleider für mich bestellt, da ich nicht so viel mitgenommen hatte.«

»Nun, wenn du hier noch sehr viel länger gebraucht wirst, dann laß es mich doch bitte wissen, und ich schicke dir deine Garderobe. Du sollst ja schließlich nicht darauf verzichten. Aber du meine Güte – wo du jetzt in London wohnst, bist du dir überhaupt darüber im klaren, daß die Saison ihrem Höhepunkt zustrebt?

Ich habe zahlreiche Freunde hier, die entzückt wären, dich einzuführen. Und deine Freundin hat doch sicher nichts dagegen, dich ab und zu für ein paar Stunden zu entbehren, damit du selbst auch ein wenig Freude hast.«

Tante Elizabeth meinte es natürlich gut, aber Kelsey lag nichts mehr daran, an der Londoner Saison teilzunehmen, um einen Ehemann zu finden. Da sie das aber nicht erzählen konnte, sagte sie einfach: »Das muß noch ein bißchen warten, Tante Elizabeth. Ich würde mich scheußlich fühlen, wenn ich mich vergnüge, während Anne es nicht kann. Nein, das könnte ich nicht.«

Elizabeth seufzte. »Das habe ich mir gedacht. Du weißt aber doch, daß du genau im richtigen Alter zum Heiraten bist, oder? Und sobald du wieder nach Hause gekommen bist, werden wir auf jeden Fall eine richtige Saison für dich planen. Ich werde sofort damit anfangen,

die

entsprechenden

Arrangements

zu

treffen.

Schließlich schulde ich es meiner Schwester, daß du richtig in die Gesellschaft eingeführt wirst.«

Kelsey zuckte innerlich zusammen. Es war ein furchtbarer Gedanke, daß ihre Tante ihre Zeit damit ver-schwendete, Pläne für etwas zu machen, was nie zustande kommen würde. Aber ohne ihr die Wahrheit zu sagen, konnte sie nichts dagegen einwenden. Und was sollte sie ihr in sechs Monaten sagen? Und in einem Jahr? Im Laufe der Zeit würden ihre Entschuldigungen nicht mehr geglaubt werden.

Sie konnte sie nur warnen: »Mach jetzt besser noch keine Pläne, Tante. Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange ich hier noch gebraucht werde.«

»Nein,

natürlich nicht«,

erwiderte

Elizabeth.

Ȇbri-

gens würde ich deiner Freundin gerne meine Aufwar-tung machen, solange wir hier in London sind.«

Allein der Gedanke daran versetzte Kelsey in Panik. Ihr fiel absolut nichts mehr ein, keine einzige Ausrede. Und was noch schlimmer war, ihr wurde klar, daß Elizabeth auch sie würde besuchen wollen, solange sie in der Stadt war, und wenn sie das täte, würde sie merken, daß Anne nicht da war, weil Anne gar nicht dasein konnte.

Noch hatte Elizabeth die Adresse nicht, sie würde den Brief erst vorfinden, wenn sie wieder nach Hause fuhr.

Warum hatte sie bloß ihre richtige Anschrift auf den Brief geschrieben? Weil sie angenommen hatte, ihre Tante würde nicht nach London kommen. Sie haßte den Verkehr in der Großstadt. Aber jetzt war sie hier ...

und Kelsey wagte nicht, ihr die Adresse zu geben, weil sie nicht wußte, zu welcher Tageszeit ihre Tante dort erscheinen wollte.

Gott sei Dank fiel ihr jedoch gleichzeitig auch eine Ausrede ein. »Anne ist noch zu krank, um Besuch zu empfangen. Die Fahrt nach London hat sie sehr angestrengt, und zur Zeit braucht sie ihre ganze Kraft, um zum Arzt zu gehen.«

»Das arme Mädchen. Geht es ihr immer noch so schlecht?«

»Nun – ja, sie wäre fast gestorben, bevor sie mit dieser neuen Behandlung anfing. Der Arzt sagte, es wird einige Monate dauern, bevor wir überhaupt wissen, ob die Methode anschlägt. Trotzdem möchte ich euch beide gerne treffen, solange ihr hier seid. In welchem Hotel wohnt ihr denn?«

»Wir sind im Albany abgestiegen. Hier, die Adresse.«

Sie kramte in ihrem Retikül und reichte Kelsey einen Zettel.

»Ich komme bestimmt vorbei«, versprach Kelsey. »Ich habe euch beide so vermißt. Aber jetzt muß ich mich wirklich beeilen. Ich möchte Anne nicht zu lange allein lassen.«

»Dann komm morgen früh, Kelsey«, sagte Elizabeth, und das hörte sich an wie ein Befehl. »Wir erwarten dich.«