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»Na, das wurd’ ja auch höchste Zeit, daß er diese Kutsche stehengelassen hat«, sagte Artie zu seinem franzö-
sischen Freund, als er die Pferde des Zweispänners zü-
gelte, mit dem sie David Ashford verfolgt hatten. »Ich hab’ schon fast gedacht, wir kriegen ihn nie mehr alleine zu packen.«
»Das nennst du allein, mon ami?« fragte Henry nachlässig, während er ihre Beute im Auge behielt. »Er hat schon wieder so eine Hure aufgelesen.«
Artie seufzte. »Ja, ja, es wär einfacher, die Nichte vom Captain aus ihrem Garten zu entführen, als diesen Nabob hier.«
»Da stimme ich dir zu, aber da sie sich nun mal als seine Nichte und nicht als die Frau seines Feindes herausgestellt hat, würde ich das Desaster lieber nicht wiederholen wollen.«
Artie schnaubte. »Als ob wir das gewußt hätten. Nicht mal der Captain hat’s gewußt, bis sie es ihm gesagt hat.
Außerdem, was sollen wir hier schon falsch machen? Er ist es, den wir brauchen. Wir müssen ihn nur lange genug von seinen Dienstboten fernhalten und ihn uns dann schnappen.«
»Das versuchen wir jetzt schon seit einer ganzen Woche«, erinnerte Henry seinen Freund. »Aber er zeigt wenig Neigung, sich weit genug von seiner Kutsche oder seinem Haus zu entfernen.«
»Ich sag’ ja, wir hätten ihn uns in der Schenke schnappen und durch den Hintereingang rausschleppen sollen, dann hätte sein Kutscher vor der Tür immer noch dagesessen und auf ihn gewartet.«
Henry schüttelte den Kopf. »Der Captain hat gesagt, wir dürfen kein Aufsehen erregen. In der Schenke war viel zu viel los.«
»Auf der Straße hier vielleicht nicht?«
Henry blickte die Straße hinunter und meinte dann:
»Nicht annähernd so viel. Und außerdem kümmern sich Leute auf der Straße eher um ihre eigenen Angelegenheiten. Wer merkt denn schon, ob wir ihn schnell zu unserer eigenen Kutsche bringen statt zu seiner?«
»Ich meine ja, wir sollten ihn uns in dem Haus außerhalb der Stadt greifen, das er immer besucht. Da ist es so einsam, da wohnt kaum einer.«
»Letztes Mal, als wir ihm dahin gefolgt sind, war Licht in dem Haus. Du hast ja geschlafen.«
»Hältst du mir das etwa immer noch vor, daß ich dieses eine verdammte Mal eingeschlafen bin?« beklagte sich Artie.
»Zweimal, aber wer nimmt’s schon so genau ...?«
Henry brach mitten im Satz ab und blickte angestrengt zu Ashford und der Frau hinüber, die gerade vor ihm stand. »Sie sieht ängstlich aus.«
Artie warf einen Blick auf das Paar. »Vielleicht kennt sie ihn. Wenn ich eine Hure wär’ und wüßte, wie er ist, sähe ich auch verdammt ängstlich aus.«
»Artie, ich glaube wirklich nicht, daß sie freiwillig mit ihm geht.«
»Was zum Teufel? Du meinst, er kidnappt sie, wo wir doch ihn kidnappen sollen?«
Kelseys Kutscher mußte mit der Kutsche wegfahren, um einem Lieferwagen Platz zu machen, deshalb stand er nicht mehr da, wo sie ihn verlassen hatte. Er hielt ein ganzes Stück weiter weg und winkte ihr zu, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie ging in die Richtung, war aber in Gedanken immer noch bei der unerwarteten Begegnung mit ihrer Tante und ihrer Schwester.
Deshalb sah sie auch nicht, daß Lord Ashford auf sie zukam. Sie bemerkte ihn erst, als er ihren Arm ergriff und neben ihr herging.
»Einen Ton, meine Hübsche, und ich breche dir den Arm«, warnte er sie lächelnd.
Ob er gewußt hatte, daß sie schreien wollte? Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie ihn gesehen hatte. Er zog sie die Straße entlang, aber Gott sei Dank in Richtung ihrer eigenen Kutsche. Würde ihr Kutscher merken, daß sie seine Hilfe brauchte? Oder sah es nur so aus, als habe sie einen Bekannten getroffen?
»Lassen Sie mich los«, wollte sie schreien, brachte aber nur ein furchtsames Krächzen zustande.
Und er lachte. Er lachte tatsächlich. Bei dem Geräusch gefror ihr das Blut in den Adern.
Sie
würde
trotz
seiner
Warnung
schreien
müssen,
wurde ihr klar. Was war schon ein gebrochener Arm, verglichen mit dem, zu dem er fähig war?
Er mußte jedoch gespürt haben, daß sie ihm Schwierigkeiten machen wollte, denn er brachte sie vollends zum Schweigen, indem er zu ihr sagte: »Ich habe diesen Bastard Lonny umgebracht, weil er mir eine Jungfrau versprochen hatte. Er hätte dich einfach an mich verkaufen sollen, statt dich zu versteigern. Aber ich bedaure jetzt schon, daß ich es getan habe, weil sein Bruder das Haus übernommen hat. Er ist viel rechtschaffener und erlaubt mir wahrscheinlich nicht mehr, die Huren auszu-peitschen. Na ja, das Haus hat mir sowieso nur zum Appetitanregen gedient. Um mein volles Vergnügen zu finden, mußte ich immer noch woanders hingehen, und das werde ich jetzt auch mit dir tun.«
Er sagte das alles so beiläufig, als ob er über das Wetter redete. Selbst sein leises Bedauern galt nicht dem Mann, den er umgebracht hatte, sondern der Tatsache, daß er etwas verloren hatte, an das er gewöhnt war.
Sie war so entsetzt, daß sie noch nicht einmal merkte, daß er sie vom Gehweg weg in die Straße geführt hatte, wo seine Kutsche wartete. Das merkte sie erst, als er sie hineinstieß.
Da endlich schrie sie, aber ihr Schrei wurde abrupt erstickt, als er sie in die Polster drückte.
Er hielt sie fest, bis sie keine Luft mehr bekam und vollends in Panik geriet. Wollte er sie jetzt schon umbringen? Als er ihren Kopf endlich losließ, schnappte sie nach Luft, und diesen Moment nutzte er, um ihr einen Knebel in den Mund zu schieben, bevor sie noch einmal schreien konnte.
Hatte ihr Kutscher gesehen, was passiert war? Hatte er überhaupt versucht, ihr zu helfen? Jetzt war es auf jeden Fall zu spät. Ashfords Kutsche war sofort losgefah-ren, und sie ratterten in raschem Tempo dahin.
Nicht nur der Knebel behinderte sie. Kaum hatte sie sich aufgesetzt, griff sie ihn an und versuchte, ihm mit ihren Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen. Doch er packte ihre Hand, bog sie hinter ihren Rücken und fesselte ihr die Hände auf dem Rücken.
Die Fesseln waren so straff, daß ihre Finger bald ge-fühllos wurden. Das Band des Knebels war genauso eng geschnürt und schnitt tief in ihre Mundwinkel ein.
Aber dies war nur das kleinere Übel, das wußte sie jetzt.
Sie wünschte, Derek hätte ihr nicht so genau geschil-dert, zu welchen Grausamkeiten dieser Mann fähig war.
Sie mußte fliehen, bevor er sie an den Ort bringen konnte, zu dem sie fuhren. Ihre Füße hatte er nicht gefesselt. Würde die Tür aufgehen, wenn sie dagegen-trat? Konnte sie herausspringen, noch bevor es ihm möglich war, sie festzuhalten? Sie war verzweifelt genug, um es zu versuchen. Wenn sie sich etwas zur Seite drehen könnte, um die Tür mit den Füßen zu erreichen ...
»Ich hätte gewartet, bis er deiner überdrüssig geworden wäre und dich weggeschickt hätte, aber so wie er dich beschützt hat, war mir klar, daß das zu lange dauern würde. Meine Geduld ist nicht endlos. Und seinetwegen kann ich dich leider jetzt auch nicht mehr weggehen lassen, meine Hübsche.«
»Er« war natürlich Derek. Kelsey hatte aufgehorcht, als Ashford sagte »seinetwegen kann ich dich jetzt nicht mehr weggehen lassen«. Hatte er solche Angst vor Derek? Wenn sie floh, würde sie natürlich Derek erzählen, was er getan hatte, und dann würde Derek ihn verfolgen ... Ja, er hatte allen Grund, Derek zu fürchten.
Und vielleicht konnte sie einen Vorteil daraus ziehen –
wenn er den Knebel lange genug entfernte, würde sie ihm sagen ...
»Außer natürlich, ich bringe auch ihn um.«
Ihr stockte wieder das Blut, als er dies hinzufügte. Er sah sie dabei noch nicht einmal an, sondern blickte aus dem Fenster. Beinahe wirkte er so, als redete er mit sich selbst. Taten Geisteskranke das?
»Er hätte es verdient, für all die Unannehmlichkeiten, die er mir bereitet hat. Aber bis jetzt habe ich mich noch nicht entschieden.« Sein Blick wanderte zu ihr. Seine Augen waren eiskalt. »Vielleicht kannst du mich ja überreden, ihn am Leben zu lassen.«
Sie versuchte, trotz des Knebels zu sprechen, ihm zu sagen, was er von einem solchen Vorgehen erwarten konnte. Aber nur erstickte Laute drangen hervor. Ihre Augen jedoch verrieten ihm, welche Wut, Angst und Haß sie empfand. Er lachte nur.
Sie war nicht dumm. Wenn er versuchen wollte, Derek zu töten, konnte ihn nichts davon abbringen. Aber Derek würde nicht so unvorbereitet sein, wie Lonny es wahrscheinlich gewesen war. Es würde nicht leicht sein, Derek umzubringen, das hatte er wohl schon festgestellt, sonst würde er nicht solche Angst vor ihm haben. Wenn sie nur ihre eigene Angst überwinden könnte . .