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»Ganz ruhig, Engländer. Ich möchte dir nicht die Kehle durchschneiden.«

Es war keine andere Warnung nötig – die Klinge am Hals des Mannes genügte. Er war stocksteif stehenge-blieben.

»Was — was wollen Sie?«

»Ich möchte wissen, warum du hier im Wald herum-schnüffelst.«

»Ich habe nicht herumgeschnüffelt – das heißt – na ja, ich habe gerade überlegt, was ich tun soll«, versuchte der Mann zu erklären, obwohl ihm das Reden durch das Messer an seinem Hals erschwert wurde.

»Was überlegt?«

»Ich habe eine Kutsche verfolgt, habe sie aber verloren.

So ein blöder Lieferwagen ist mir in die Quere gekommen und hat mich aufgehalten. Aber sie ist in diese Richtung gefahren, und da das Haus da drüben weit und breit das einzige hier ist, wollte ich nachsehen, ob die Kutsche da steht. Ich war mir nicht sicher, ob ich einfach an die Tür klopfen und fragen sollte, weil ich das Gefühl hatte, daß hier etwas nicht stimmt.«

Das Messer drückte sich ein bißchen fester an den Hals des Mannes. »Du hast fünf Sekunden, um mir das genauer zu erklären, Engländer.«

»Warten Sie! Es geht um meine Herrin, Miss Langton, wissen Sie, ich bin ihr Kutscher. Ich habe sie bei ihrer Schneiderin abgesetzt, aber als sie herauskam, trat dieser Gentleman zu ihr, brachte sie zu seiner Kutsche und fuhr mit ihr weg. Aber sie wußte, daß ich dastand und auf sie wartete. Sie hat mich gesehen. Deshalb hätte sie mir Bescheid gesagt, was los ist, bevor sie mit dem Mann wegfuhr – außer, sie wollte gar nicht mit ihm wegfahren. Und deshalb bin ich ihnen gefolgt. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten.«

Das Messer wurde weggenommen, und der Kutscher stand auf. »Ich glaube, wir sind wegen derselben Sache hier, mon ami«, sagte Henry und lächelte den Mann entschuldigend an.

»Ja?«

»Man hat Ihre Miss Langton tatsächlich in dieses Haus gebracht. Und ich bin sicher, daß sie nicht dortsein möchte. Die Kutsche, in der sie hergebracht wurde, ist wieder in die Stadt zurückgefahren, aber ich konnte bisher noch nicht feststellen, wie viele Dienstboten in dem Haus sind, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, bevor Ihre Lady befreit werden kann. Mein Freund holt Hilfe, aber er wird sie leider zur falschen Adresse führen.«

»Miss Langton befreien? Woher soll ich denn wissen, ob Sie nicht selbst aus diesem Haus kommen?« fragte der Kutscher argwöhnisch.

»Wenn das der Fall wäre, lägen Sie jetzt hier am Boden mit durchschnittener Kehle.«

»Ist sie in Gefahr?«

»Habe ich vergessen, das zu erwähnen?«

Derek kam am Haus seines Onkels an, als James gerade aufbrechen wollte. Er war in größter Sorge wegen der geheimnisvollen

Nachricht,

die

er

bekommen

hatte,

und

James’

Gesichtsausdruck

verstärkte

seine

Angst

noch.

»Dein Bote sagte, es sei eilig!« rief Derek, als er aus seiner Kutsche stieg.

James bedeutete ihm, wieder einzusteigen. »Ich fahre mit dir und erkläre dir alles. Wie gut, daß du kommst, bevor ich weg bin.«

Derek war gerade nach Hause gekommen, als der Lakai seines Onkels bei ihm eintraf. James hatte bereits sein Pferd satteln lassen und gab nun Anweisung, es solle hinten an Dereks Kutsche angebunden werden.

Artie wartete in der Kutsche, die er gemietet hatte, nachdem Henry und er Ashford so lange verfolgt hatten, bis sie der Meinung waren, daß er zu seinem Stadthaus fahren wolle. Kurz davor hatte sich Artie von Henry getrennt und war in der Mietkutsche zurück zum Berkeley Square gefahren, um James wissen zu lassen, was passiert war. James hatte sofort einen Lakaien zu Derek und zu Anthony geschickt.

Jetzt wies James Dereks Kutscher an, der Mietkutsche zu folgen, dann setzte er sich zu Derek in dessen Kutsche. »Sieht so aus, als ob Tony es nicht rechtzeitig schaffen würde«, sagte er.

»Was schaffen? Was ist passiert?«

»Etwas, von dem wir sicher waren, es würde nicht geschehen. Ashford hat Kelsey entführt – zumindest paßt ihre Beschreibung auf das Mädchen, das er in seine Kutsche geschleppt hat. Artie hat Miss Langton vorher noch nie gesehen, also ist er sich nicht ganz sicher. Der Kerl hat sich Kelsey heute früh direkt von der Bond Street weg geschnappt.«

Derek wurde blaß.

»Sie war heute früh tatsächlich bei ihrer Schneiderin in der Bond Street.«

»Es könnte trotzdem sein, daß es sich um eine Ver-wechslung handelt, Derek. Wir sollten sicherheitshal-ber bei ihrem Haus vorbeifahren, aber eigentlich glaube ich nicht, daß wir soviel Zeit haben ...«

»O Gott«, unterbrach ihn Derek, »ich bringe ihn um!«

»Ich habe andere Pläne, die mir für ihn geeigneter erscheinen ...«

»Wenn er ihr auch nur ein Haar gekrümmt hat, ist er tot!« Derek raste.

James seufzte. »Wie du willst.«

Es dauerte nicht lange, bis sie Ashfords Haus erreichten, zumal Derek seinem Kutscher ständig zubrüllte, er solle sich beeilen. Das ganze Haus zu durchsuchen, war unmöglich.

Ashfords

Dienstboten

schworen

außer-

dem, er sei nicht zu Hause, aber James wollte ihnen nicht glauben.

Dann jedoch erschien Anthony, der von Georgina erfahren hatte, wo er sie finden könne. Und Anthony machte ihnen rasch klar, daß Ashford es bei so vielen Dienstboten nicht wagen würde, eine Frau hierherzu-bringen und in seinem eigenen Haus zu mißbrauchen.

Vor allem, da sie wahrscheinlich schreien, um sich treten, um Hilfe rufen und dadurch die Aufmerksamkeit des Personals erregen würde.

Wahrscheinlich

wußten

Ashfords

Dienstboten

noch

nicht einmal von seinen abscheulichen Gewohnheiten, sonst hätten sie nicht für ihn gearbeitet – es sei denn, sie wären ähnlich pervers veranlagt. Ein paar von ihnen hatte er ja vielleicht ins Vertrauen gezogen, aber kaum alle.

Derek war mittlerweile völlig außer sich. Jede Minute, die sie hier vertrödelten, konnte Ashford dazu benutzen, Kelsey zu Verletzen. Und sie hatten schon eine halbe Stunde in Ashfords Haus vergeudet.